Die antirussischen Sanktionen haben direkt das Business der Sprachlehrgänge und -schulen in der Russischen Föderation tangiert. Schwieriger geworden ist das Absolvieren internationaler Sprachtests, Probleme haben sich mit der Gewinnung von Muttersprachlern europäischer Sprachen ergeben. Dabei hat offenkundig das Interesse für ein Studium der Sprachen der sogenannten freundlichen Länder – solcher wie die Türkei oder China – zugenommen. Die Eigner von Sprachschulen hoffen aber, dass die englische Sprache die dominierenden Positionen im gesamten Spektrum der Fremdsprachen bewahren wird. Schließlich ziehen es selbst die chinesischen Geschäftsleute vor, Kontakte in englischer Sprache zu beginnen. Im Bildungsministerium versichert man, dass man keine radikalen Veränderungen der Schulprogramme für das Fremdsprachenstudium vorbereite.
Die englische Sprache bleibe vorerst die entscheidende für das Studium und die Gestaltung einer Karriere in Russland. Dies ist die beinahe einmütige Meinung von Spezialisten des Arbeitsmarktes. „Radikal hat sich die Situation mit den Fremdsprachen nicht verändert. Englisch bleibt ein Instrument der internationalen Kontakte. Es ist sowohl in den Konzernen mit europäischen und amerikanischen Wurzeln als auch in den Organisationen aus der asiatischen Region gefragt“, teilte der „NG“ Natalja Stscherbakowa, Verkaufs- und Marketing-Direktorin des Unternehmens Ancor, mit.
Ein erheblicher Teil der technischen Dokumentation liege nur in Englisch vor, was besonders aktuell für IT- und ingenieur-technischen Spezialisierungen sei. Eine analoge Situation bestehe auch mit wissenschaftlichen Forschungsarbeiten. Für die Vertreter der Wissenschaft sei die Beherrschung noch aktueller geworden. Schließlich würden jetzt viele Ressourcen keine russischsprachigen Versionen beibehalten, präzisierte sie.
„Die Priorität des Studiums der englischen Sprache bleibt gewahrt. In ihr spricht man sowohl in den skandinavischen als auch in den arabischen und in lateinamerikanischen Ländern. Die hauptsächliche wissenschaftliche und technologische Literatur bleibt ebenfalls in Englisch und wird es bleiben. Viele Script-Programmiersprachen und digitale Services haben in ihrer Basis Verweise auf englischsprachige Termini“, pflichtet Sergej Rostschin, Leiter des Labors für Arbeitsmarktstudien der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, bei.
Und obgleich, wie Stscherbakowa sagt, das Interesse für Chinesisch wirklich zugenommen habe, müsse man berücksichtigen, dass „die Vertreter der Unternehmen aus China Englisch für die Business-Kontakte vorziehen und Spezialisten entsprechend solchen Forderungen auswählen, da dies dem Top-Management erlaubt, bei Bedarf den privaten Charakter der Kontakte in der Muttersprache zu wahren“.
Im Ergebnis dessen mache es jetzt nach Aussagen der Managerin Irina Anissimowa aus dem Recruiting-Unternehmen Get Experts Sinn, solche Sprachen wie Türkisch, Chinesisch u. a. als zweite Fremdsprache – zusätzlich zur englischen – zu erlernen.
In den russischen Schulen plane man nicht, das Studium von Sprachen unfreundlicher Länder zu canceln, versicherte die stellvertretende Bildungsministerin Tatjana Wassiljewa. Eine Fremdsprache sei ein obligatorischer Teil des Ausbildungsstandards, erinnerte man in diesem Ministerium.
Unabhängig vom Typ der Schule bleibe gegenwärtig die hauptsächliche Fremdsprache für ein Erlernen die englische, sagte der „NG“ Olga Fere, Generaldirektorin der „Kitaigorodskaja-Schule“. Als zweite wähle man nach ihren Worten meistens Deutsch oder Französisch. In der letzten Zeit nehme erwartungsgemäß das Interesse für Chinesisch zu, besonders in Großstädten. Nach Einschätzungen von O. Fere würden mehr Varianten für das Erlernen von Zweit- oder Drittsprachen Privatschulen anbieten, wo die Möglichkeit bestehe, starke pädagogische Lehrkräfte zu engagieren und eine ausreichende Anzahl von Stunden für das Erlernen einzuräumen.
„Wir erwarten keine drastischen Veränderungen bei der Auswahl der Sprachen in den allgemeinbildenden Schulen. Unter anderem weil dies nicht so sehr eine Frage des Wunsches der Schüler und Eltern ist, als vielmehr eine Frage der Bereitschaft der Schulen – des Vorhandenseins von Lehrern, erprobten Lehrprogrammen und Unterrichtshilfen“, erläutert Fere. Für eine Änderung der Prioritäten beim Erlernen von Sprachen sei eine umfangreiche Arbeit des Staates nötig, die viele Ebenen des Bildungssystems verändern werde.
Der Direktor des Forschungszentrums für das Monitoring und die Statistik des Bildungswesens am Föderalen Institut für die Entwicklung des Bildungswesens der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, Mark Agranowitsch, ist der Auffassung, dass sich die Vermittlung von Fremdsprachen in der Schule im Landesdurchschnitt auf einem geringen Niveau befinde. Nach seiner Meinung „belegt dies unter anderem der gescheiterte Versuch, ein Fremdsprachenexamen in die Liste der obligatorischen innerhalb des Einheitlichen Staatsexamens (Abiturprüfungen – Anmerkung der Redaktion) aufzunehmen“. „Ich erwarte keine drastischen Veränderungen in der Mittelschule, da es einfach nicht ausreichend Lehrer mit Kenntnissen unter anderem des Chinesischen gibt“, erläuterte Agranowitsch.
Derweil haben laut Angaben von Dozentin Olga Lebedinskaja vom Statistik-Lehrstuhl der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität „im Jahr 2017 in Russland 21 Konfuzius-Institute und -Klassen gearbeitet – in Moskau, Sankt Petersburg, Wladiwostok, Kasan, Nowosibirsk, Jekaterinburg und anderen Städten. Und die Zahl derjenigen, die die chinesische Sprache in den Schulen der Russischen Föderation erlernen, hat sich seit 2017 verdreifacht“. Gegenwärtig würden nach ihren Aussagen 62 russische Hochschulen Dolmetscher/Übersetzer und Lehrer der chinesischen Sprache mit Ausstellung eines entsprechenden Diploms ausbilden.
Für das Anbahnen von Business-Kontakten, das Kommunizieren und für Reisen würden die meisten nach Einschätzungen von O. Fere derzeit gerade Chinesisch für Gespräche brauchen. Das traditionelle, das klassische Vorgehen, das ein mehrjähriges Studium der Hieroglyphen und des Grammatiksystems verlangt, könne derzeit die Aufgabe, die vor dem Staat und dem Business stehe, nicht rasch lösen. Dies bedeute, dass derzeit Intensiv-Gesprächslehrgänge mit Elementen der chinesischen Geschäftssprache gefragt sein werden, die erlauben, innerhalb kurzer Zeit zu beginnen, sich in der Sprache zu verständigen.