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Die Sanktionen haben die Arktis erreicht


Die wirtschaftliche Konfrontation mit dem Westen stellt den realistischen Charakter der Pläne für eine Erschließung der Arktis in Frage, die in der Russischen Föderation vor Beginn des Sanktionskrieges verfasst worden waren. Für Russland haben sich in der arktischen Makroregion zwei neue Probleme ergeben – ein internes. Und das andere ist ein rein internationales. Die Beteiligten der Arktis-Pläne haben sich festzulegen, wie man die bestätigten Vorhaben ohne eine Beteiligung ausländischer Partner verwirklichen kann. Die Experten der „NG“ schließen nicht aus, dass sich die wirtschaftliche Attraktivität des russischen Nördlichen Seeweges unter den Bedingungen der Sanktionen verringern könne.

Für die arktischen Regionen habe die Frage nach dem Preis für die Lebensmittel eine lebenswichtige Bedeutung, erklärte am Mittwoch die stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma (des Unterhauses des russischen Parlaments) Irina Jarowaja (Kremlpartei „Einiges Russland“) im Verlauf parlamentarischer Anhörungen des Ausschusses für die Entwicklung des Fernen Ostens und der Arktis.

„Wir sehen, dass der Preisanstieg für Lebensmittel verschiedene sprunghafte Formen besitzt und nicht immer begründet ist“, sagte sie. Und sie schlug vor, den Föderalen Antimonopol-Dienst (Russlands Kartellamt – Anmerkung der Redaktion) zur Kontrolle der Preise für die Lieferungen in den Hohen Norden hinzuziehen.

Im vergangenen Jahr sind über den Nördlichen Seeweg rund 35 Millionen Tonnen Frachtgüter befördert worden, vor allem Erdöl und verflüssigtes Erdgas, die hauptsächlich nach Europa geliefert wurden, wo man nunmehr plant, auf die russischen Kohlenwasserstoffe zu verzichten. Aber drei Millionen Tonnen – dies war Frachtgut für die Bewohner von 25 Regionen -, die auf dem Seeweg in der kurzen Sommerperiode angeliefert werden. Während die Zentralbank bisher betont hatte, dass die Einwohner jener Regionen mit der geringsten Lebensmittelinflation im Land konfrontiert wurden, da sie noch das genutzt hatten, was im Jahr 2021 geliefert worden war, so werden jetzt die gestiegenen Transportkosten in den neuen Warenlieferungen berücksichtigt werden. Wie bei den Anhörungen hervorgehoben wurde, seien die Kosten für die Beförderung eines Containers nach Tschukotka von 250.000 bis auf 370.000 Rubel (umgerechnet von 3542 auf 5242 Euro) angestiegen.

Für die Lieferungen in den Hohen Norden gibt es bisher juristisch keine genaue Beschreibung. Und das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung plant, einen Gesetzentwurf darüber erst im kommenden Frühjahr vorzulegen. Bei den Anhörungen am Mittwoch bekundeten die Vertreter von Tschukotka und Jakutien aus diesem Anlass Unverständnis, wobei sie befürchten, dass aufgrund dessen die Schwierigkeiten mit eben diesen Anlieferungen auch im Jahr 2022 andauern werden, wie dies auch in den Vorjahren der Fall gewesen war, als man das Thema den Regionen überlassen hatte. Nach ihren Worten würden aus den Etats unterschiedlicher Ebene nur 20 Prozent der Lieferungen subventioniert, der Rest sei eine Sache des Gewissens und der Möglichkeiten des Mittelstands und des Kleinunternehmertums. Im März hatte die russische Regierung auf ihrem Telegram-Kanal versprochen, jährlich aus dem föderalen Haushalt jeweils 560 Millionen Rubel für eine Subventionierung vergünstigter Tarife für die Beförderung von Frachtgütern über den Nördlichen Seeweg bereitzustellen.

Möglicherweise beeilen sich die Staatsbeamten nicht, das neue Gesetz abzufassen, da sie den Beginn der von ihnen selbst versprochenen Aufnahme eines Seeverkehrs auf dem Nördlichen Seeweg über das gesamte Jahr hinweg ab dem Jahr 2023 erwarten (solch eine Erklärung hatte Vizepremier Jurij Trutnjew abgegeben – möglicherweise verfrüht oder unbedacht), denn dann wird sich der Sinn des Begriffs „Lieferungen in den Hohen Norden“ grundlegend verändern. Und dann wird es auch möglich werden, Lebensmittel, Medikamente, Baumaterialien, Brenn- und Kraftstoffe in den Norden zu jeder beliebigen Jahreszeit zu schicken.

Die vor kurzem verabschiedete Strategie für eine Entwicklung der Arktis sieht eine Aufstockung des Güterverkehrs über den Nördlichen Seeweg bis mindestens 80 Millionen Tonnen bis zum Jahr 2025 vor. Wobei die Zunahme vor allem dank neuer Betriebe zur Förderung und Verarbeitung von Kohlenwasserstoffen erwartet wurde. Nach dem erfolgreichen Start der Erzeugung verflüssigten Erdgases (LNG) auf der Halbinsel Jamal erfuhr das Projekt eine weitere Entwicklung in Gestalt der Errichtung eines neuen Betriebes. Am Mittwoch trafen für ihn aber unerfreuliche Nachrichten ein. Es kursierten Meldungen, wonach eine südkoreanische Werft des Daewoo-Konzern den Vertrag über den Bau von drei Gastankern für das Vorhaben „Arctic LNG 2“ löste, wobei sie nicht die planmäßige Zahlung abgewartet hatte.

„Die Ablehnung des südkoreanischen Unternehmens, Tanker für „Arctic LNG 2“ zu bauen, ist nicht das hauptsächlichste Problem des Projekts. Weitaus besorgniserregender sehen die Meldungen der Hongkonger Presse aus, wonach eine Reihe chinesischer Unternehmen die Lieferungen bereits fertiger Produktionslinien für dieses Vorhaben in die Arktis gestoppt hätten“, sagte der „NG“ Nikita Potaschew, Mitarbeiter des Labors des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. „Dies ist eine direkte Gefahr für die Bauarbeiten, da es bisher keine alternativen Lieferanten für solche Anlagen und Ausrüstungen gibt“.

Nach Aussagen des Experten sei der Nördliche Seeweg eine Energiebrücke, über die vor allem Erdöl und Gas befördert werden. Nach seinen Worten könnten die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den technologischen Sanktionen und das diskutierte Embargo für die Lieferungen russischer Kohlenwasserstoffe eine Verringerung der transportierten Mengen provozieren. (Am Montag beginnt ein EU-Sondergipfel in Brüssel, der sich auch mit einem möglichen Embargo für russische Öllieferungen befassen wird und dieses gar beschließen kann. – Anmerkung der Redaktion) „Der Beginn von Container-Transporten ist auch sehr fraglich. Dafür wird eine Stabilität der Bedingungen gebraucht, darunter der klimatischen. Erforderlich sind eine tiefgreifende Modernisierung der Seehäfen entlang der gesamten Trasse und die Schaffung eines Systems für ein Reagieren auf Notsituationen. Nach Beginn der Ukraine-Krise verlieren selbst chinesische Investoren das Interesse für derartige Projekte. Überdies haben die größten ausländischen Unternehmen erklärt, dass sie die russischen Häfen nicht anlaufen würden. Folglich muss eine erhebliche Zunahme des Güterverkehrs in Container auf der Trasse des Nördlichen Seeweges nicht erwartet werden“, prognostiziert Potaschew.

„Die Eisbrecher werden entsprechend einheimischer Technologien gebaut. Wird es aber eine adäquate Nachfrage für sie geben?“, fragt sich der Experte. „Die wirtschaftliche Attraktivität des Nördlichen Seeweges unter den neuen Bedingungen scheint eine schwer voraussagbare zu sein, Unter den Bedingungen einer zweistelligen Inflationsrate erlangt das Problem der Arktis-Preise eine neue Brisanz. Jetzt wie nie zuvor wird eine Balance zwischen der Marktwirtschaft und der Unterstützung der sozialen Stabilität gebraucht“, sagt Potaschew.

Die Sanktionen würden die Situation mit der Entwicklung der Arktis negativ beeinflussen, sagte der „NG“ der Staatsduma-Abgeordnete und Vorsitzende des Verbands der Städte des Polargebietes und des Hohen Nordens Alexej Weller (Kremlpartei „Einiges Russland“). „Im Norden muss man jetzt ebenfalls der Entwicklung eigener Produktionskapazitäten besondere Aufmerksamkeit widmen und die Anstrengungen des Business vereinen. Man muss unter anderem die eigene Instandsetzung von Schiffen entwickeln“, sagte er.

Russland ist bereits ein Jahr Vorsitzender im Arktischen Rat. Und der Vorsitz wird bis im Jahr 2023 andauern. Aber im März haben die westlichen Mitgliedsländer des Rates ihre Teilnahme an ihm ausgesetzt. Mehr noch, Finnland und Schweden haben einen Antrag auf einen NATO-Beitritt gestellt. Die Arktis-Region werde zu einem internationalen Schauplatz von Kampfhandlungen, behauptete düster Nikolaj Kortschunow, Sonderbotschafter des Außenministeriums Russlands und Vorsitzender des Komitees der hochrangigen offiziellen Vertreter des Arktisrates.