Um eine Klima- bzw. kohlenstofffreie Neutralität zu erreichen, sollen die Ölländer unverzüglich die Investitionen in die Erschließung und Ausbeutung neuer Kohlenwasserstoff-Lagerstätten stoppen, fordern Umweltschützer. Dies entspreche den neuen Standards des umweltfreundlichen Investierens (ESG — Environmental, Social and Corporate Governance ist eine Bewertung des kollektiven Bewusstseins eines Unternehmens für soziale und ökologische Faktoren – Anmerkung der Redaktion). Saudi-Arabien hat die Ölländer aufgerufen, solidarisch gegen eine Reduzierung der Investitionen für die Erschließung neuer Felder beim Klimagipfel der UNO, der am 31. Oktober in Schottland beginnt, aufzutreten. Die Russische Föderation müsse nach Meinung von Experten diese Initiative unterstützen.
Die Aufrufe zu einer Reduzierung der Investitionen für die Erschließung neuer Öl- und Erdgas-Lagerstätten, die beim UNO-Klimagipfel gebilligt wurden, könnten zu einem Anstieg der Preise und zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen den reichen und armen Ländern führen, meinen die Saudis.
Für eine Verteidigung vor diesen Gefahren ruft Saudi-Arabien auf, gegen eine Drosselung der Investitionen für fossile Brennstoffe zwecks Vermeidung eines Preisanstiegs für sie aufzutreten, meldet die Agentur Dow Jones.
Die Internationale Energieagentur (IEA) erklärte im Mai, dass die Regierungen und Unternehmen unverzüglich die Investitionen in die Erschließung und Ausbeutung neuer Öl- und Gas-Lagerstätten einstellen sollten, wenn die Welt einen reinen Nullwert für die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 erreichen wolle.
Der für die Vorbereitung Großbritanniens auf die UNO-Klima-Konferenz verantwortliche Alok Sharma, der beim Weltklimaforum in Glasgow den Vorsitz führen wird, erklärte, dass er plane das Ziel der IAE hinsichtlich der Null-Emissionen als Schablone für die Gespräche zu nutzen. Ein Vertreter der UNO-Konferenz zu den Klimaveränderungen, dessen Worte Dow Jones zitierte, sagte, dass Sharma „klar zu verstehen gegeben hat, dass alle Länder das Tempo bei der Verringerung der Emissionen sowie dem Schutz der Menschen und der Natur vor den schlimmsten Folgen einer Klimaveränderung beschleunigen müssen“.
Der saudische Energieminister, Prinz Abdulaziz bin Salman Al Saud, und Saudi-Arabiens Gesandter beim Summit in Glasgow, Khalid Abuleif, haben die Ölproduzenten inkl. Nigeria, Kuweit und den Oman gebeten, die Investitionsempfehlungen der IEA abzulehnen. Der saudische Prinz sagt, dass solch ein hartes Ziel wie Null-Investitionen in die Erschließung und Ausbeutung neuer Öl- und Gasfelder dazu führe, dass die Verringerung des Angebots früher als der signifikante Rückgang der internationalen Nachfrage nach Kohlenwasserstoffen erfolgen werde. Und dies werde zu einem Anstieg der Ölpreise führen. Das Verbot für Investitionen sei gegenüber den Volkswirtschaften der Länder ungerecht, die übermäßig vom Im- oder Export von Öl und Gas abhängen, meinen Experten.
Die begonnene Welle des Investierens in die internationale Energiewirtschaft gemäß den ESG-Kriterien kann zu höheren Erdölpreisen führen. Unter dem Investieren gemäß den ESG-Kriterien wird üblicherweise eine Form des sozial verantwortungsbewussten Investierens von Mitteln verstanden, wenn die Investitionsentscheidungen auf der Grundlage des Beitrags des jeweiligen Unternehmens zur Entwicklung der Gesellschaft, für das Sorgen um die Umwelt sowie für die Unterstützung sozialer Gerechtigkeit getroffen werden.
Eine Reihe von Experten verweist darauf, dass ein übermäßiges ESG-Engagement zu unerwarteten Konsequenzen führen könne. So ist man in der dänischen Saxo Bank der Auffassung, dass ESG und die „grüne Transformation“ ein überaus großer politischer Fehler in der Geschichte seien, dessen Folgen eine Inflation und andere Finanzprobleme sein werden. Die übermäßige Orientierung der Unternehmen auf die Prinzipien des ESG-Investierens würde letztlich zu einer signifikanten Zunahme der Unkosten führen. Der Kurs der Länder der Welt auf eine Reduzierung der Emissionen und eine Dekarbonisierung würde letztlich die Zunahme des Angebots ausbremsen, was zu einem Ansteigen der Preise für Rohstoffwaren führen und den Beginn eines Jahrzehnts eines Rohstoff-Superzyklus in Gang bringen würde, warnt man in der Saxo Bank. Die gegenwärtigen Technologien würden nicht erlauben, den Umfang der Erzeugung von Solar- und Windenergie unter Berücksichtigung der Instabilität dieser Quellen zu erhöhen.
Analytiker von JPMorgan hatte vor dem Beginn eines „Superzyklus für ein Wachstum der Rohstoffmärkte“ Anfang des Jahres gewarnt. Zu einer der Ursachen für das Ansteigen der Preise würde der Kampf gegen die Klimaveränderung werden, der zu einer Einschränkung der Ölförderung führen und die Nachfrage nach Metallen erhöhen werde.
Die Investitionen für die Erdölförderung sind im vergangenen Jahr bis auf 330 Milliarden Dollar zurückgegangen, berechneten Analytiker von Wood Mackenzie. Zum Vergleich: Dies ist weniger als die Hälfte dessen, was im Jahr 2014 in die Ölförderung investiert worden war, als der Preis für Erdöl der Marke Brent die 100-Dollar-Marke für einen Barrel weit übertroffen hatte. Geringere Investitionen bedeuten aber eine Verringerung der Förderung in der Zukunft. „Dies ist aus der Sicht der Energiewende gut, aber nicht aus der Sicht der Nachfrage nach Erdöl. Und dies ist ein langfristiges Problem“, meinen Analytiker.
Derweil verringern die Erdölkonzerne bereits ihre Investitionen in die Förderung. Laut Angaben der Bank Evercore ISI (USA) haben die amerikanischen Ölkonzerne in diesem Jahr die Ausgaben etwa bis auf 55,8 Milliarden Dollar im Vergleich zu 60,8 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr und 108 Milliarden Dollar im Jahr 2019 verringert.
Im vergangenen Jahr hat die Ölindustrie rund 15 Prozent ihrer Reserven verloren, das heißt, sie vermochten diese Verluste nicht durch neue Entdeckungen auffangen. Und die erkundeten Reserven können innerhalb von 15 Jahren erschöpft werden. Zu dieser Zeit wird die Welt aber noch nicht auf Erdöl verzichten können. Schließlich sind für einen Großteil der Bevölkerung die fossilen Brennstoffe die einzig zugängliche Energiequelle.
Derweil spitzt sich die Mode in Bezug auf ESG-Projekte in der Welt zu, was bereits zu einem ernsthaften Problem für die Förderunternehmen geworden ist. So kann ExxonMobil unter dem Druck der ESG-Lobby zwei große Gas-Projekte aufgeben. Das erste betrifft die Förderung von Erdgas in Mozambique mit einem Wertumfang von 30 Milliarden Dollar. Das zweite – in Vietnam, das diesem Land Einnahmen von 20 Milliarden Dollar bringen könnte. Als Grund für den Verzicht auf die Investitionen wurde das Argument angeführt, dass die „prognostizierten Jahresemissionen durch die Projekte in Mozambique und Vietnam zu den größten im geplanten Unternehmensportfolio der Öl- und Gas-Projekte gehören“.
Zur gleichen Zeit haben bereits einige Hedge-Fonds, die die Situation auf den Energiemärkten ausnutzen, einen großen Gewinn durch die Investitionen in „schmutzige“ Aktive erzielt. Wie die „Financial Times“ schreibt, haben jene Vermögenswerte, die andere Fonds und Unternehmen in der Jagd nach den ESG-Zielen abgestoßen hatten, einige andere Fonds übernommen. Im Ergebnis dessen demonstrieren mehrere Fonds, die bewusst solche Aktiva „auflesen“, seit Jahresbeginn einen Wertzuwachs des Portfolios demonstriert. Und nicht um dutzende Prozent, sondern um ein Mehrfaches. Die „FT“ führt als Beispiel den nordamerikanischen Fonds Bison Interests mit Anteilen am kanadischen Unternehmen Baytex Energy und SandRidge Energy aus den USA an (+ 377 Prozent). Und die hauptsächlichen Öl- und Gasinvestitionen der Londoner Firma Odey Asset Management haben um mehr als 40 Prozent an Wert gewonnen.
Der Appell von Saudi-Arabien zur Bildung einer Koalition zwecks Beibehaltung der Investitionen sei begründet, meinen die Experten der „NG“. „Der Druck auf die Öl- und Gaskonzerne wird sich in der nächsten Zeit auswirken“, sagt Vitalij Gromadin, Geschäftsführer für Vermögenswerte des Investitionsunternehmen „BKS Welt der Investitionen“. Nach seiner Meinung dürfe man die Investitionen für neue Vorhaben nicht reduzieren, solange kein realistischer Plan für einen Übergang zu einer sauberen Energiewirtschaft gefunden worden sei.
Die Politik der Weltmächte auf dem Gebiet der Verringerung der Emissionen habe dazu geführt, dass sich die Investitionen für die Erschließung und Ausbeutung von Erdölfeldern verringern würden, führt der Leiter des analytischen Departments der Firma „AMarkets“, Artjom Dejew, fort. „Im vergangenen Jahr führte der drastische Rückgang der Nachfrage dazu, dass die strategischen Projekte vieler Länder auf dem Gebiet der Erschließung und Förderung von Erdöl um 50 Prozent beschnitten wurden. Die Banken und Investitionsunternehmen stellen äußerst ungern Mittel für die Erschließung und Ausbeutung von Ölfeldern bereit, was in der Perspektive bereits im kommenden Jahr zu einer drastischen Verringerung der Produktion und als Folge zu einem Ansteigen der Preise führen wird“, prognostiziert der Experte.
Außerdem erfordere die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen eine ernsthafte Erhöhung des Umfangs des Verbrauchs von fossilen Ressourcen. „Man kann weder Solarzellen noch Windkraftanlagen oder E-Cars im globalen Maßstab ohne den Einsatz von Erdöl herstellen. Und dies in weitaus größeren Umfängen als jetzt“, unterstreicht Dejew.
Die Notwendigkeit einer Organisation, die ein Gleichgewicht zwischen dem Streben der Länder nach erneuerbaren Energiequellen und dem Ölmarkt suchen wird, ist schon lange herangereift. „Für die Erzeugerländer wird dies ein positives Moment sein, da es gelingen wird, die notwendigen Normen für ein Investieren in Ölprojekte zu bewahren. Und bei solch einer Regulierung wird es gelingen, die Rohstoffpreise in einem vernünftigen Rahmen zu halten, ohne solche Probleme zuzulassen, wie es sie derzeit mit dem Gas und der Kohle gibt“, meint er.
Russland müsse nach Meinung von Artjom Dejew am Entstehen solch einer Koalition interessiert sein. „Die Investitionen für Projekte zur Erschließung und Ausbeutung neuer Lagerstätten in unserem Land sind um 50 bis 80 Prozent in einzelnen Unternehmen zurückgegangen. Und dies bedeutet in der nächsten Perspektive den Verlust eines Marktanteils und einen Rückgang der Exporteinnahmen“, unterstreicht der Analytiker.
Daher sei letztlich der Appell Saudi-Arabiens ein logischer und zeitgemäßer, betonte der Wirtschaftsexperte Andrej Loboda.