Am 21. März waren es bereits 100 Tage, dass angebliche aserbaidschanische Öko-Aktivisten den Latschin-Korridor – die einzige Trasse, die Bergkarabach mit Armenien und der Außenwelt verbindet – blockierten. Ein weiteres Mal versuchte man in Moskau und Washington, den Gordischen Knoten zu zerschlagen. In der russischen Hauptstadt erfolgten Gespräche von Russlands Außenminister Sergej Lawrow mit dem Leiter von Armeniens Außenministerium, Ararat Mirsojan. Zur gleichen Zeit telefonierte US-Außenminister Antony Blinken mit Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan.
Die Außenminister Russlands und Armeniens behandelten das gesamte Spektrum der bilateralen Beziehungen, wobei sie nicht nur eine Übereinstimmung hinsichtlich der meisten Positionen, sondern auch einige Differenzen in den Ansichten der Seiten feststellten. Es geht dabei unter anderem um die Dislozierung einer Mission europäischer ziviler Beobachter in Armenien, an den dessen Grenze zu Aserbaidschan. Ungeklärt blieben auch die Probleme Armeniens mit der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Aber es gibt da geringe positive Veränderungen. Armeniens Außenamtschef erklärte, dass Jerewan nicht von der Mission der OVKS Abstand genommen hätte. Es gebe ein Projekt, die Arbeit daran werde fortgesetzt. Mirsojan, der erklärte, warum dies bisher nicht geschehen sei, erinnerte daran, dass für Armenien das entscheidende gewesen sei, dass „nach unserem Empfinden die Kollegen aus der OVKS indirekt den klaren Verantwortungsbereich, aber nicht direkt anerkannt haben“. „Dies war etwas problematisch“, betonte er. Als Antwort bekundete Lawrow Genugtuung über das Vernommene. Er erinnerte daran, dass der Schaffung des Projekts durch die Außenminister der OVKS viele Stunden gewidmet worden seien. „Es geht darum, dass die Staats- und Regierungschefs ihre Unterschriften (unter das Dokument) setzen. Die OVKS ist dazu bereit. Ich freue mich, dass Armenien die Möglichkeit nicht ausgeschlagen hat, die den Sicherheitsinteressen in der Region entspricht“, merkte Lawrow an.
Zur gleichen Zeit sei es mehr als offensichtlich gewesen, wie der politische Kommentator David Petrosjan der „NG“ sagte, dass es im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen den Verbündeten ein vollkommenes gegenseitiges Einvernehmen gebe. „Insgesamt ist ersichtlich, dass die Situation in den bilateralen Beziehungen weit von einer idealen entfernt ist. Es haben sich nicht wenige Probleme angehäuft. Offensichtlich ist aber auch etwas anderes: Die Seiten unterhalten einen ständigen Kontakt und beabsichtigen, die sich angesammelten Widersprüche zu überwinden und zu einem engeren Zusammenwirken überzugehen“, meint Petrosjan.
Nach seinen Worten hätten die Seiten, was die Situation angehe, die sich um Bergkarabach herausgebildet hat, ihr Festhalten an allen trilateralen Erklärungen der Staatschefs beginnend ab dem 9. November 2020 bestätigt. „Dabei hat die armenische Seite sehr klar den Umstand markiert, dass es praktisch nicht einen Punkt des Basisdokuments gebe, den Baku nicht verletzt hätte. Im Zusammenhang damit unterstrich Minister Mirsojan die Notwendigkeit aktiver Schritte seitens der Verbündeten und Partner Armeniens für eine Erfüllung der eigenen Pflichten durch Aserbaidschan und für eine Beendigung der Praxis einer Anwendung von Gewalt und der Androhung einer Anwendung von Gewalt. Gleichfalls stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit die Frage nach einer De-Blockierung des Latschin-Korridors. Die Haltung Bakus ist in dieser Frage aber eine harte. Und bisher gibt es keinerlei Druck nach. Es lehnt es unter anderem ab, die entsprechende Entscheidung des UNO-Gerichts zu erfüllen“, betonte David Petrosjan.
Die Minister bekräftigten die Wichtigkeit einer baldigen Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses zu allen Richtungen der trilateralen Vereinbarungen der Spitzenvertreter der drei Länder – Russlands, Aserbaidschans und Armeniens. Daher sehen die Verhandlungen vor dem Hintergrund des „Jubiläums“ der Blockade des Latschin-Korridors recht hoffnungsvoll aus.
Wie der Politologe Armen Chanbabjan der „NG“ sagte, sei der Moskau-Besuch von Ararat Mirsojan nach einer langen Unterbrechung entgegen vieler Erwartungen vor einem positiven Hintergrund erfolgt. Mehr noch, die armenische Seite hätte eine spürbare Unterstützung für ihre Herangehensweisen an die Lösung der Bergkarabach-Frage seitens Moskaus erhalten. „So hat Sergej Lawrow unter anderem unter Verweis auf Paschinjan (was es lange nicht gegeben hatte – „NG“) erklärt, und dies ist für ein Verstehen der Situation sehr wichtig, dass Russland jenes Vorgehen teilt, wonach die gesamte Problematik im Zusammenhang mit dem weiteren Status des Aufenthalts der Armenier in Bergkarabach im Rahmen eines unmittelbaren Kommunizierens der aserbaidschanischen Offiziellen mit den Vertretern von Stepanakert geklärt werden muss“, betonte der Experte. Nach seinen Worten spreche auch Paschinjan gerade darüber, weshalb er einer scharfen Kritik seitens der armenischen Opposition ausgesetzt werde, die behauptet, dass Armenien versuche, sich der Verantwortung für das Schicksal der 120.000 Bergkarabach-Armenier zu entledigen.
Es ergibt sich da, dass gerade solch ein Vorgehen Russland vollkommen passt. Nicht zufällig hat Sergej Lawrow auf jene ausgearbeiteten Methodiken verwiesen, die im Fall mit den Kosovo-Serben und im Fall mit der russischen Minderheit im Donbass angewandt werden sollten. Dabei unterstrich jedoch der russische Minister, dass die ausgewiesenen Vereinbarungen nicht erfüllt wurden. Daher müssten sich die Seiten auf Russland stützen. Mehr noch, Lawrow unterstrich, dass Moskau keinen Wunsch hätte, hinsichtlich der Probleme des Südkaukasus mit dem Westen zu sprechen, und es hätte auch keinen Sinn.
„Ungeachtet der scharfen Rhetorik Moskaus sind – allem nach zu urteilen – die westlichen Partner nicht gewillt, die Aktivitäten in der Region des Südkaukasus und besonders hinsichtlich der Frage des Abschlusses eines Friedensvertrages zwischen Armenien und Aserbaidschan zu verringern“, nimmt Petrosjan an.
Während des Moskau-Besuchs von Mirsojan fand ein Telefonat zwischen US-Außenminister Antony Blinken und Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan statt. Hierbei gibt es jedoch eine Nuance. Blinken und Paschinjan sprachen nicht so sehr über Bergkarabach und nicht so sehr über die Blockade des Latschin-Korridors als vielmehr insgesamt über den Prozess einer armenisch-aserbaidschanischen Aussöhnung und über den Abschluss des künftigen Friedensvertrages, wobei Amerika bestrebt ist, beiden Seiten des Konflikts Hilfe zu gewähren.
Wie US-amerikanische offizielle Quellen mitteilten, habe Blinken Premierminister Paschinjan für das anhaltende Festhalten Armeniens an einem Frieden gedankt und zu konkreten Schritten vorwärts zur Ausarbeitung von Lösungen hinsichtlich der nach wie vor bestehenden Fragen aufgerufen.
Nach Meinung von David Petrosjan halte die politisch-diplomatische Konkurrenz in der Frage einer Bergkarabach-Regulierung und des Abschlusses eines Friedensvertrages zwischen Armenien und Aserbaidschan an. Überdies gebe es bisher, wie Petrosjan unterstrich, hinsichtlich der Frage des Friedensvertrages zwischen Jerewan und Baku mehr als genug Meinungsverschiedenheiten. Dies belege die jüngste Erklärung von Präsident Ilham Alijew, der sagte, dass Armenien auf seinem Territorium nicht ruhig leben könne, wenn es nicht die Bedingungen Aserbaidschans anerkenne. Als Antwort betonte Mirsojan in Moskau, dass die Position Jerewan die bisherige bleibe – Lösungen könne man nur auf dem Wege von Verhandlungen erreichen. Armenien bleibe gleichfalls allen trilateralen Erklärungen der Staatschefs über eine künftige Aussöhnung, über die Öffnung der Transportwege in der Region und Delimitation der Grenzen treu. „Somit ergibt sich, dass Russland einerseits und der kollektive Westen andererseits in gewisser Weise bei der Verstärkung ihres Einflusses nicht so sehr auf die Länder des Konflikts als vielmehr in der Frage der Lösung der zwischen ihnen bestehenden Widersprüche und der Befriedung dieser Region insgesamt konkurrieren“, meint Chanbabjan. Nach seiner Meinung sei es schwer zu sagen, wie die Sache weiter gehen werde, da sich bestimmte Anti-Kreml-Stimmungen, die sich aufgrund der indifferenten Haltung der russischen Friedenstruppen im Latschin-Korridor in Armenien zu verbreiten begannen, augenscheinlich nicht verringen würden.
„Die armenische Öffentlichkeit kann sich davon überzeugen, dass Russland recht positiv auf die Frage des weiteren Verbleibens der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach und der Gewährung eines bestimmten Status für die Armenien – im Unterschied zur Position Bakus – schaut. Es geht um die Sprache, Kultur und die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Entwicklung. Und obgleich einige armenische Beobachter bereits davon sprechen, dass Russland faktisch bestätige, dass sich Bergkarabach im Bestand von Aserbaidschan befinden sollte. Aber schließlich hatte sich Russland auch früher nie an eine andere Vorgehensweise gehalten. Ja, im Bestand von Aserbaidschan. Dabei aber mit einem bestimmten Grad an Eigenständigkeit und Garantien für ein weiteres Wohnen in dieser Region“, unterstrich der armenische Politologe.
Und wenn Russland Kurs auf die Realisierung gerade solch eines Plans genommen hat, so bedeutet dies tatsächlich, dass es nicht vorhat, sein Kontingent von Friedenstruppen aus Bergkarabach abzuziehen. Es ist klar, dass es nicht möglich ist, solch einen idealen Zustand der Angelegenheiten, von dem bereits in diesem Beitrag gesprochen wurde, mit einem Schlag zu erreichen. Dies ist ein sehr langwieriger und ein sehr komplizierter Prozess. Und in all dieser Zeit müssen die russischen Friedenstruppen verständlicherweise die Unantastbarkeit des bei den Armeniern verbliebenen Teils von Bergkarabach und dessen Entwicklung sichern. Daher kann keine Rede davon sein, dass Russland Bergkarabach verlasse oder die Armenier von Bergkarabach verraten habe.