Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die Taliban erklärten die Reste der NATO-Truppen zu Okkupanten


Am vergangenen Wochenende hat die radikale „Taliban“-Bewegung (die in Russland verboten ist) die militärischen Erfolge in verschiedenen Richtungen erheblich ausgebaut. Bekannt ist bereits, dass mehr als 1000 Militärs der afghanischen Regierungstruppen, die Niederlagen einstecken müssen, die tadschikische Grenze überschritten haben. Eingenommen wurde eine Reihe von Kreisen in der Provinz Badachschan im Nordosten des Landes am Hindukusch. Die Taliban hatten sofort nach dem Abzug der Truppen der westlichen Koalition, der eher an eine Flucht erinnerte, zu handeln begonnen. Sie können eine Koalitionsregierung bilden aber auch ganz und gar vollkommen die Macht ergreifen, ohne sie weder mit Aschraf Ghani noch mit dem „Islamischen Staat“ (IS, der in Russland verboten ist) zu teilen.

Dass sich die Taliban als Herren der Lage fühlen, belegt unter anderem ihre Forderung, dass die westliche Koalition all ihre Truppen ausnahmslos abziehen sollen. Der Sprecher der Bewegung Suhail Schahin erklärte, dass die NATO-Kräfte entsprechend den Vereinbarungen von Doha das Land vollkommen verlassen müssten. Die Reste aber würden als Okkupanten mit den entsprechenden Konsequenzen aufgefasst werden. Dabei wurde in den Medien, unter anderem bei der BBC, der Schahin ein Interview gegeben hatte, mitgeteilt, dass die Amerikaner planen würden, in Kabul etwa 1000 Militärs für den Schutz von Botschaften zu belassen.

Es sei daran erinnert, dass das Friedensabkommen von Doha mit den Taliban die USA am 29. Februar 2020 unterzeichnet hatten. Als Gegenleistung für den Abzug der amerikanischen Truppen und nach ihnen auch der restlichen Kräfte der Koalition sollten die Taliban die Botschaften in Kabul nicht antasten und die Sicherheit der Vereinigten Staaten keiner Gefahr aussetzen, was unter anderem eine Unterlassung einer Zusammenarbeit mit der al-Qaida (in Russland verboten) auf dem Territorium Afghanistans bedeutet.

Damals hatten die Seiten auch vereinbart, Gefangene auszutauschen. 5.000 Menschen wurden der „Taliban“-Bewegung übergeben, eintausend – den USA. In dem Abkommen ist direkt ausgewiesen worden, dass das Islamische Emirat Afghanistan nicht durch die USA anerkannt werde, dabei aber Verpflichtungen übernehme. Gleichfalls ist dort auch gesagt worden, dass die USA und ihre Verbündeten alle Truppen vom Territorium Afghanistans abziehen. Wobei sie laut Vertrag verpflichtet waren, dies bis zum April dieses Jahres vorzunehmen, als die Taliban auch ihr Vorrücken im Land begann. Mehr noch, damals hatte die amerikanische Seite die Absicht bekundet, die Wirtschaftssanktionen gegen die „Taliban“-Bewegung bis August vergangenen Jahres aufzuheben.

Wenn auch eintausend Soldaten stationiert werden, so muss dies in der Botschaft getan werden, das Territorium des Inhaberlandes ist. Es sei daran erinnert, dass US-Präsident Joseph Biden das Ende des Truppenabzugs auf den 11. September gelegt hat. Es wird allerdings erwartet, dass es bereits bis Mitte Juli keine amerikanischen und britischen Soldaten außer Marineinfanteristen auf dem Territorium Afghanistans geben wird. Biden bemüht sich, verschämt das Thema Afghanistan zu umgehen. Und zum Unabhängigkeitstag lehnte er es ab, eine Journalistenfrage hinsichtlich des Truppenabzugs zu beantworten, wobei er darauf verwies, dass er „gern über lebensfrohere Themen sprechen möchte“.

Ja, aber den Militärs ist bei weitem nicht nach Freude zumute. Es ist bekannt, dass der Befehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, General Austin Scott Miller, die Idee vom Truppenabzug offenkundig nicht unterstützte. In seinem kürzlichen BBC-Videointerview war der stoische, aber nervöse und leidende Gesichtsausdruck nicht zu übersehen. Er beobachtet mit eigenen Augen die Ereignisse im Land und warnt direkt davor, dass Afghanistan riskieren, in einem Bürgerkrieg zu versinken. Bei den gegenwärtigen Erfolgen der Taliban ist es allerdings rechtens anzunehmen, dass ein derartiger Krieg nicht lange dauern werde. Im Unterschied zu den Perspektiven für den Beginn einer Herrschaft mit einer aktiven Anwendung von Gewalt, die zu einer systematischen werden kann.

Nach dem Machtantritt hat Biden die Vereinbarungen von Donald Trump nicht angefochten. Und es ist offensichtlich, dass in Washington weder von den Demokraten noch von den Republikanern ein „Splitter“ in Gestalt eines zweiten Vietnams gebraucht wird. Die gesamte Kompliziertheit des Zusammenwirkens mit der „Taliban“-Bewegung liegt jetzt auf den Afghanen selbst. Vorerst ist dieses Zusammenwirken ein großangelegter Krieg. Die Stärke der Taliban begreifend, leisten die Regierungstruppen freilich einen recht lauen Widerstand, wobei sie sich oft freiwillig im Gegenzug für eine Bewahrung des Lebens und den Erhalt von Geldzahlungen ergeben.

Die Taliban gewinnen auch den Informationskrieg. Sie veröffentlichen Videos in den sozialen Netzwerken, rühmen sich der territorialen Erfolge und erlauben sogar ausländischen Journalisten, ihr Territorium zu besuchen, um die Erfolge zu zeigen, während sich Kabul in Schweigen hüllt, unterstreicht Sky News.

Dabei ist eine recht sensible Frage die, wie die Bevölkerung zur „Taliban“-Bewegung steht. Die Administration von Präsident Ghani behauptet, dass der Bevölkerung die Ordnung und Regeln der Radikalen nicht gefallen würden. Repräsentative Angaben aber, die dies demonstrieren, gibt es nicht, obgleich auch klar ist, dass es nicht einfach ist, sie zu erhalten. Natürlich, die Taliban gefallen nicht allen Bürgern. Und westlichen Journalisten gelingt es, mit jenen zu sprechen, die in den Radikalen eine Gefahr sehen. Aber auch die westliche Koalition wird von den Afghanen als eine Okkupation wahrgenommen. Und es ist nicht gelungen, solch eine Haltung zu ändern. Der Westen wiederholte die Fehler der UdSSR und vermochte es nicht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass seine Absichten gute und uneigennützige seien.

„Die Regierung verheimlicht eventuell auch die Stimmungen der Öffentlichkeit, denn sie können beängstigende sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bevölkerung tatsächlich von den Erfolgen der Taliban beeindruckt ist. Sie braucht eine Regierung, die zumindest irgendeine Stabilität gewährleistet. Wobei es sie unter der Herrschaft der Taliban – wenn auch in einer eigenartigen Form – gegeben hat. Es ereigneten sich keine offenen Kampfhandlungen“, betonte Wladimir Sotnikow, wissenschaftlicher Oberassistent des Instituts für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Zur gleichen Zeit unterstrich der Experte in einem Gespräch mit der „NG“, dass die „Taliban“-Bewegung eine terroristische Organisation wie auch der IS sei. Allerdings sei keine Verstärkung der zweiten angesichts der besonderen Beziehungen der beiden Gruppierungen und der Stimmungen der Bevölkerung zu erwarten. „Die Ereignisse belegen, dass die „Taliban“-Bewegung offenkundig nicht die Macht teilen möchte. Ich denke, dass sie bereits sogar eine fertige Liste der Mitglieder der künftigen Regierung hat. Die Gefahr einer vollkommenen Kontrolle über das Land ist durchaus real. Das Vorrücken erfolgt bereits gen Süden. Obgleich potenziell auch die Bildung einer Koalitionsregierung möglich ist. Und da wird der IS bestimmt nicht die Positionen verstärken, ungeachtet des Vorhandenseins nichtzerschlagener Truppenteile in Afghanistan und Pakistan, da seine Teilnehmer hier Fremdlinge sind. Unter ihnen gibt es fast keine Afghanen und Paschtunen“, erläutert Sotnikow.

Der Experte bekundete die Meinung, dass die Botschaft der USA (in Kabul) nicht geschlossen werde, da dies den vollkommenen Verlust der Kontrolle über Afghanistan bedeuten würde. Aber auch die Tatsache der Niederlage der westlichen Koalition sei offensichtlich.

„Der Abzug der Truppen ähnelt wirklich einer Flucht. Es gelang in den zwanzig Jahren nicht, die Taliban zu stürzen. Dabei verfolgt die radikale Bewegung stabil das Ziel, eine homogenisierte Regierung zu bilden. Es ist durchaus möglich, dass alles mit einem Eintreffen der Radikalen in Kabul endet. Nicht ausgeschlossen ist gar die Variante, dass Ghani das Schicksal von Nadschibullah (Mohammed Nadschibullāh, Präsident Afghanistans, der im September 1996 von den Taliban umgebracht wurde — Anmerkung) erwarten kann. Die Erfahrungen zeigen, dass Vereinbarungen in Afghanistan weniger Bedeutung als grobe Gewalt haben“, warnt Sotnikow.