Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die traditionellen Werte trennte man von der Religion


Die öffentlichen Diskussionen um die „Grundlagen der Staatspolitik zur Bewahrung und Festigung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte“ sind für die Bevölkerungsmehrheit des Landes am 4. Februar unbemerkt zu Ende gegangen. Und hört man sich in der eigenen Umgebung um, stellt sich heraus, dass viele nicht den geringsten Schimmer davon hatten, dass es gar solch ein Dokument gibt. Dessen Entwurf war durch das Kulturministerium entsprechend der Strategie für die nationale Sicherheit, die per Präsidentenerlass vom 2. Juli 2021 bestätigt wurde, ausgearbeitet worden. Nach der Bestätigung durch das Staatsoberhaupt werden die „Grundlagen…“ im Mai dieses Jahres in Kraft treten.

Ungeachtet der stabilen Vorstellung darüber, dass die geistig-moralischen Werte mit den religiösen Imperativen identisch seien, gibt es in dem Dokument wenig Assoziationen mit irgendwelchen Religionen. Dies ist sowohl im Inhalt als auch in der Stilistik auszumachen, wobei letztere mehr an spätsowjetische Deklarationen in der Art des „Kodexes des Erbauers des Kommunismus“ denn an das Glaubenssymbol irgendeiner der Religionen erinnert. Besonders zu betonen ist, dass es in dem Text keine Verweise auf konkrete religiöse Traditionen gibt, nicht einmal auf das russische orthodoxe Christentum.

In dem Entwurf gibt es die Erwähnung von der staatsbildenden Rolle des russischen Volkes. Diese Erwähnung ist jedoch in die Deklaration über die Einheit des multinationalen Russlands aufgenommen worden. Gleichfalls ist von der Wichtigkeit der Bewahrung der zwischenkonfessionellen Eintracht die Rede. Dabei werden die russischen Werte aus den universellen allgemein-menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse herausgelöst – wie sie von den Autoren des Entwurfs gesehen werden. Man kann sagen, dass in dem Dokument die Konzeption eine Verwirklichung gefunden hat, der entsprechend Russland nicht der übrigen Welt gegenüberstehe, sondern der Mission zur Bewahrung der konservativen Werte im gesamtplanetaren Maßstab diene. Das Konfrontationsmoment besteht darin, dass nach Meinung der Autoren der Konzeption der kollektive Westen anstrebe, überall einen „Kult des Egoismus“ und Materialismus durchzusetzen.

Die „Grundlagen…“ führen mehrere Begriffe ein, deren Definition eine Diskussionsfrage im Verlauf von vielen Jahren darstellte. „Die traditionellen Werte sind die Weltanschauung der Bürger Russlands ausprägende moralischen Orientierungspunkte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, die Einheit der Bürger gewährleisten, der russischen zivilisatorischen Identität und dem gemeinsamen Kulturraums des Landes zugrunde liegen sowie seine einmalige eigenständige Erscheinung in der geistigen, historischen und kulturellen Entwicklung des multinationalen Volkes von Russland gefunden haben“, heißt es in dem Dokument. „Zu den traditionellen Werten gehören das Leben, die Würde, die Menschenrechte und -freiheiten, der Patriotismus, die Staatsbürgerlichkeit, das Dienen für das Vaterland und Verantwortungsgefühl für sein Schicksal, hohe moralische Ideale, eine starke Familie, schöpferische Arbeit, die Priorität des Geistigen über dem Materiellen, Humanismus, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Kollektivismus, gegenseitige Hilfe und gegenseitige Achtung, historische Erinnerungen und eine Kontinuität der Generationen sowie die Einheit der Völker Russlands“, lesen wir ebenfalls. Die Worte von „den von Generation zu Generation weitergegebenen“ Überzeugungen erinnern an die Verfassungsänderungen über „die Erinnerungen der Vorfahren“ aus dem Jahr 2020. Im Unterschied zum Grundgesetz gibt es hier jedoch keine Präzisierung, dass die Vorfahren den Glauben an Gott bewahrten.

Die messianischen Vorstellungen der Autoren des Dokuments ergeben sich aus der Überzeugung, dass Russland „vor einer globalen Wertekrise“ stehe, „die zu einem Verlust der traditionellen geistig-moralischen Orientierungspunkte und moralischen Prinzipien durch die Menschheit führt“. Dieser Messianismus ist aber nicht von religiöser, sondern politischer Art. Im Wortlaut des Dokuments kann man eigentlich einen einzigen Verweis auf die geistlichen Gemeinschaften finden. Unter der Vielzahl staatlicher Aufgaben wird die „Unterstützung der Teilnahme religiöser Organisationen der traditionellen Konfessionen an dem Wirken, das auf eine Bewahrung der traditionellen Werte ausgerichtet ist“, erwähnt. Da ergibt sich, dass den religiösen Organisationen eine Hilfsrolle eingeräumt wird. Das, was einer Unterstützung bedarf, kann bestimmt keine führende Kraft sein. Eine Schirmherrschaft bedeutet auch eine Unterordnung, wie die Vertreter der Religionen ausgezeichnet wissen, deren Geschichte auch härtere Zeiten als unsere Gegenwart kannte.

Warum wird, wenn man den an und für sich offensichtlichen Faktor einer Bewahrung des zwischennationalen und interkonfessionellen Gleichgewichts ausschließt, den Religionen in der Konzeption für die Staatspolitik im geistig-moralischen Bereich solch eine bescheidene Rolle zugebilligt?

Möglicherweise können einige Besonderheiten der religiösen Weltanschauungen in einen Widerspruch mit der Pflicht des Staates, eine innere Einheit und die Entwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten, geraten.

In dem Dokument ist vom tausendjährigen Erbe verschiedener Völker Russlands die Rede. Nicht immer haben die Völker gemeinsam existiert, oft unterschieden sie sich aufgrund der Lebensweise drastisch voneinander. Beispielsweise wurde in einigen Regionen in der Vergangenheit Polygamie praktiziert (der eine oder andere versucht, diesen Brauch auch in unseren Tagen wieder aufleben zu lassen). Doch im Entwurf ist von einer Unterstützung der traditionellen Familie die Rede. In der heutigen Vorstellung ist dies das dominierende Modell für den monogamen Bund von Mann und Frau. Gleichfalls existierten unterschiedliche Traditionen für Beisetzungen und das Verehren der Vorfahren, die für die heutigen Bürger als schockierende erscheinen können. Man kann sich schwer vorstellen, dass auf dem gesamten Territorium Russland die Tradition Verbreitung findet, die Pläne für das beginnende Jahr mit den Prognosen von Astrologen abzugleichen, was für die buddhistische Tradition in einigen sibirischen Regionen völlig natürlich ist. Derweil ist im Text von einem einheitlichen, von einem geschlossenen Kulturraum des Landes die Rede. Und es werden keine regionalen Besonderheiten erwähnt.

Dies kann man auch über die zeitliche Dimension der wertmäßigen Orientierungspunkte sagen. Obgleich mehrfach die historische Kontinuität erwähnt wird, ist in dem Dokument eine Revision der Basisgrundsätze alle sechs Jahre vorgesehen. Unschwer ist ein Zusammenfallen dieses Zeitraums mit der Dauer der Präsidentenkadenz in der Russischen Föderation auszumachen. Derweil beruht jede traditionelle Religion auf der Unveränderbarkeit und der Vorbestimmtheit der moralischen Imperative. Der Entwurf dieses staatlichen Dokuments lässt Raum für eine handgemachte Modernisierung und nicht für eine durch göttliche Offenbarungen vorbestimmte Korrektur der Werte.

Bei weitem nicht immer entsprechen die Wertegrundsätze der traditionellen Religionen den Zielen der Staatspolitik. Das Land braucht, sagen wir einmal, eine Vermehrung der Bevölkerung. Durch das Dokument zieht sich wie eine rote Linie der Gedanke von einer Überwindung modischer Trends zu einer Lebensweise ohne Familie oder zu einer nicht den Traditionen entsprechenden Familie. Jedoch stören nicht nur die LGBT-Vertreter und militanten Feministinnen die sogenannten gesunden Familienbeziehungen der Bürger Russlands. Die im Land dominierende Russische orthodoxe Kirche propagiert unter der Jugend ein Mönchs- bzw. Nonnentum, das eine „Verneinung der Fortsetzung des Geschlechts“ bedeutet. Im Christentum gibt es auch den Kult um Heilige, deren „asketische Lebensweise“ fast stets eine Bewahrung des „Jungfräulichen“, der physischen Unbeflecktheit bedeutet.

Andererseits wird in den „Grundlagen…“ behauptet, dass „eine Bedrohung für die traditionellen Werte das Wirken extremistischer und terroristischer Organisationen und die Handlungen der USA und deren Verbündeten sowie der transnationalen Konzerne und ausländischen nichtkommerziellen Organisationen mit sich bringen“. Derweil predigen viele religiöse Strömungen westlicher Herkunft äußerst konservative Überzeugungen auf dem Gebiet der Familienbeziehungen und verbreiten sie in Russland. Sagen wir einmal die amerikanischen Neoprotestanten-Charismatiker widersetzen sich konsequent den modernen Vorstellungen von der Freiheit der Frauen, in der Schwangerschaft über den eigenen Körper zu verfügen. Auf der Grundlage der Propagierung von Pro-Life-Überzeugungen (Lebensrechtsüberzeugungen) erfolgen zahlreiche Kontakte amerikanischer Charismatiker mit der Russischen orthodoxen Kirche. Zur gleichen Zeit gehören die konservativen Neoprotestanten zum Establishment der Vereinigten Staaten, wobei sie zu anderen Zeiten sogar auf die amerikanischen Präsidenten einen ausrichtenden Einfluss ausübten. Während unter Joseph Biden diese gesellschaftlichen Kräfte vom Weißen Haus suspendiert worden sind, war ihre Rolle in der Politik unter Donald Trump außerordentlich groß. Wer weiß, wie die Situation nach den nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA aussehen wird?

Zur gleichen Zeit sind die Autoren des Projekts davon überzeugt, dass „die ideologische und psychologische Beeinflussung der Bürger Russlands zur Etablierung eines für das russländische Volk fremden und für die russländische Gesellschaft zerstörerischen Systems von Ideen und Werten führt (im Weiteren – einer destruktiven Ideologie), das einen Kult des Egoismus, Anspruchsdenkens und der Unmoral, eine Verleugnung der Ideale des Patriotismus, des Dienens für das Vaterland, der Fortsetzung des Geschlechts, der schöpferischen Arbeit sowie des positiven Beitrags von Russland zur Weltgeschichte und -kultur einschließt“. „Die Aktivität der Verfechter der destruktiven Ideologie widerspricht objektiv den nationalen Interessen der Russischen Föderation“. Und derartige Überzeugungen bestimmen die Verschärfung der Politik gegen das Wirken religiöser Missionäre auf dem Territorium der Russischen Föderation.

Viele betonen, dass sogar die Stilistik des Dokuments in größerem Maße Texten aus den Zeiten der Konfrontation des sozialistischen und des kapitalistischen Systems im 20. Jahrhundert denn der tausendjährigen Geschichte der Wechselbeziehungen Russlands und des Westens, die die unterschiedlichsten Bündnisse und Pakte gekannt hatte, entspreche. Die unbekannten Autoren des Textes schreiben von einem dem russischen Volk eigenen „Kollektivismus“ und nicht von einer „Gemeinschaftlichkeit“, wie es hätte sein können, wenn man sich im Kulturministerium an kirchlichen Vorbildern orientiert hätte. Im Wortlaut wird nicht ein einziges Mal von einem Dienen gegenüber Gott gesprochen, doch gibt es eine Sakralisierung des Dienens für das Vaterland.

Die christlichen Kirchen und die anderen größten Religionen erheben einen Anspruch auf das Predigen und das Glauben an absolute und nicht von nationalen Idealen. Gerade der Anspruch der Religionen auf einen universellen Charakter erlaubt auch, sie als Weltreligionen zu bezeichnen. Beispielsweise hat zu Beginn des begonnenen Jahres der Vorsitzende der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion (Alfejew), bei der Kommentierung der internationalen Lage so auf die entsprechende Frage der attraktiven Moderatorin des staatlichen Fernsehkanals „Rossia 24“ geantwortet: „Ich persönlich fürchte einen Krieg. Ich bin der Auffassung, dass wir alles dafür tun müssen, damit es keinen Krieg gibt – weder einen großen noch einen kleinen, weder einen Weltkrieg noch einen lokalen Krieg“. 2Es gibt sehr viele Kräfte, die uns in irgendeinen Krieg hineinziehen wollen, wobei es die nicht nur außerhalb unseres Landes gibt, sondern auch im Innern“, warnte der hochrangige Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche. „Es gibt jene, die mit Waffen rasseln wollen, die sagen, dass wir ja unbesiegbar, unschlagbar sind. Wir werden jeglichem Feind eine Abfuhr erteilen“. „Lassen Sie uns aber sich an die Geschichte des Ersten Weltkriegs erinnern, in den man Russland hingezogen hatte. Als er begann, gab es ein gewaltiges Aufwallen patriotischer Gefühle. Alle dachten, dass dies ein kurzer siegreicher Krieg werde. Im Ergebnis stellte sich aber heraus, dass er unser Land zerstörte“, erinnerte Alfejew. Es versteht sich, dass das Moskauer Patriarchat aktiv an den patriotischen Initiativen der Offiziellen teilnimmt. Man kann sich jedoch schwer vorstellen, dass die Russische orthodoxe Kirche oder irgendeine andere Konfession in Russland die evangelischen Worte verwerfen: „Selig sind die, die Frieden stiften“ (Matthäus-Evangelium 5:9).

Andererseits stellen die „Grundlagen der Staatspolitik zur Bewahrung und Festigung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte“ ein Dokument dar, das für einen Staat ausgearbeitet wurde, von dem gemäß dem Grundgesetz die Religion getrennt ist. Man kann annehmen, dass sich bei der Realisierung der Doktrin die Staatsbeamten genauso konsequent an das Prinzip der Weltlichkeit halten werden, wie dies den Autoren des mehrseitigen Textes gelungen ist.