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Die Türkei bahnte einen Weg nach Zentralasien über das Kaspische Meer


Das Gipfeltreffen über Zusammenarbeit der turksprachigen bzw. Turkstaaten wird aufgrund der neuen Coronavirus-Welle in Kasachstan am 31. März als eine Videokonferenz stattfinden. Das meldete der Pressedienst des kasachischen Außenministeriums. Zu den Ergebnissen soll eine Deklaration verabschiedet werden, die die Stadt Turkestan im Süden von Kasachstan zur geistigen Hauptstadt der „turksprachigen Welt“ erklärt.

Zu dem Gipfeltreffen des Türkischen Rates, der in der Stadt Turkestan der Republik Kasachstan stattfinden sollte, sollten die Oberhäupter der Mitgliedsstaaten der Organisation – Aserbaidschans, Kirgisiens, Usbekistans und der Türkei – sowie Ungarns Premierminister, aber auch die Beobachterländer in dieser im Oktober 2009 gegründeten Organisation kommen. Aber aufgrund der Zunahme der Corona-Erkrankungen in Kasachstan mussten die Pläne geändert werden. Verschoben wurden gleichfalls die bilateralen Gespräche von Kasachstans Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew mit dem Staatsoberhaupt der Türkei Recep Tayyip Erdoğan. Ein gesondertes Treffen sollte mit dem Elbasy („Führer der Nation“) Nursultan Nazarbajew stattfinden.

In Nur-Sultan misst man der Zusammenarbeit mit Ankara große Bedeutung bei. Im Vorfeld des Summits hatten die Behörden Kasachstans eine neue Fluglinie aus dem internationalen Flughafen von Turkestan nach Istanbul eröffnet. Zur Unterzeichnung waren Dokumente über eine Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern vorbereitet worden. „Kasachstan positioniert sich immer zuversichtlicher als ein Land der turksprachigen Welt. Experten haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass im Verlauf eines offiziellen Empfangs des Generalsekretärs des Türkischen Rates Bagdad Amrejew mit Kasachstans Premierminister Askar Mamin erstmals neben der Staatsflagge Kasachstans die Flagge des Türkischen rates aufgestellt worden war. In Ankara und Nur-Sultan hat man dieses Zeichen positiv aufgenommen, obgleich in privaten Gesprächen kasachische Politologen und Historiker Besorgnis über die Zunahme der protürkischen Stimmungen in der Republik Kasachstan bekunden, wobei sie die Meinung äußern, dass dies die undurchdachten Erklärungen bekannter russischer Abgeordneten gefördert hätten“, sagte der „NG“ Dr. sc. hist. Alexander Kobrinskij, Direktor der Agentur für ethnonationale Strategien.

Am 19. März dieses Jahres weilte Kasachstans Außenminister Muchtar Tleuberdi in Ankara. Er offerierte türkischen Investoren allseitige Unterstützung in Kasachstan. Erörtert wurden eine Zusammenarbeit in der Lebensmittelindustrie, im Bergbau und in der Metallurgie, im Maschinenbau, in der Chemie- und Pharma-Branche, aber auch im Bereich der Informationstechnologien. Der Umfang der Investitionen türkischer Unternehmen wird in Kasachstan in der mittelfristigen Perspektive eine Milliarde Dollar erreichen, teilte das kasachische Außenministerium mit.

Daneben wurden Vereinbarungen über die drastische Erhöhung des Warenaustauschs bis auf 10 Milliarden Dollar von den gegenwärtigen drei Milliarden Dollar erzielt. Die Parlamente beider Länder ratifizierten einen Vertrag über militärtechnische Zusammenarbeit. Das Abkommen war durch die Oberhäupter beider Staaten im Jahr 2018 unterzeichnet worden. Kasachstan prüft die Frage nach einer Einbeziehung seiner Streitkräfte in ein Verteidigungsbündnis im Rahmen des Türkischen Rates, der durch die Türkei geschaffen wurde. Zuvor hatte Ankara laut der Meldung einer Reihe von Medien die Bildung einer gemeinsamen „Turan-Armee“ bekanntgegeben, der alle turksprachigen Staaten angehören werden. Außerdem verheimlicht die Türkei nicht, dass ihr Ziel die Schaffung einer „turksprachigen Welt“ und das Dominieren in Zentralasien sind.

Dr. sc. pol. Igor Pankratenko, stellvertretender Generaldirektor des Zentrums für strategische Bewertungen und Prognosen, sagte der „NG“, dass die „turksprachige Welt“ bzw. „die Welt der Turkstaaten“ keine konkrete außenpolitische Doktrin der Türkei sei. Dies sei eine gewisse Idee, genauso wie auch die Idee von der „russischen Welt“ und der „eurasischen Einheit“. „es klingt laut, doch die praktische Realisierung dieses Projekts kann ein halbes Jahrhundert und mehr in Anspruch nehmen. Das Wichtigste besteht darin, dass nach dem Sieg Aserbaidschans im Bergkarabach-Krieg im Südlichen Transkaukasus neue geoökonomische Realitäten entstanden sind, die der Türkei erlauben, einen Zugang nach Zentralasien über das Kaspische Meer zu bekommen. Das ist die von Erdogan unterstützte türkische Wirtschaft bestrebt, auf maximale Weise diese günstige Situation dafür auszunutzen, um auf die zentralasiatischen Märkte zu gelangen. Von daher auch die Aktivität der türkischen Diplomatie in Bezug auf Taschkent und Nur-Sultan“, betonte Pankratenko. Seinen Worten zufolge müsse man auch begreifen, dass die Türkei derzeit die militärtechnische Zusammenarbeit als eine der perspektivreichen Richtungen des Exports ansehe, da der Militär-Industrie-Komplex der Türkei der internationalen Welt anzubieten habe. Daher erfolge eine Aktivierung der Kontakte der Militärkreise Kasachstans, Usbekistans und der Türkei. „Was die Gespräche über eine gewisse „Turan-Armee“ angeht, so tragen sie in einem größeren Maße einen provokanten Charakter. Von irgendeiner einer vereinten „Turan-Armee“ im nächsten Jahrzehnt zu sprechen, ist verfrüht. Es geht um eine Vertiefung der militärtechnischen Zusammenarbeit. In Nur-Sultan und Taschkent versteht man dies. Daher stößt das Angebot des Militär-Industrie-Komplexes der Türkei dort auf positive Reaktionen“, unterstrich Igor Pankratenko.

Nach Meinung des Vorsitzenden des Expertenrates der Stiftung „Werkstatt für eurasische Ideen“, Grigorij Trofimtschuk, werde in der letzten Zeit den Auslandsreisen von Präsident Erdogan, besonders in Länder des postsowjetischen Raums, erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. „Es wird die Auffassung vertreten, dass die Türkei hier ihren Einfluss verstärkt, allerdings, wie viele Experten sagen, als Gegengewicht zu Russland. Jedoch hat es stets eine bestimmte Einheit der Turkstaaten gegeben. Daher ist es schwierig, sie zu den negativen Folgen der Ereignisse des kürzlichen Bergkarabach-Krieges zu rechnen“, sagte Grigorij Trofimtschuk der „NG“.

Seinen Worten zufolge gehörte ein künftiger Kasachstan-Besuch Erdogans immer zur Liste der Prioritäten Ankaras. „Da gibt es nichts Außerordentliches. Wenn man sich jedoch vorstellt, dass das NATO-Mitglied Türkei die letzten sieben Jahre exakt die Anweisungen Washingtons befolgte hätte, wäre die Situation um Einiges schwieriger gewesen. Die Türkei arbeitet mit den Ländern Zentralasiens, China ist dort auch aktiv, und ganz zu schweigen von Russland. Und solange sie dort agieren, wird immer weniger Platz für die USA bleiben“. Das gleiche gelte seinen Worten zufolge auch für den Bereich des Kaspischen Meeres. „Es muss jedoch betont werden, dass die Türkei dabei doch Mitglied der NATO bleibt. Die nächsten Präsidenten des Landes können aber eine andere Linie verfolgen. Daher braucht man stärkere Garantien“, nimmt Trofimtschuk an.