Der Kreml hat sich einer Kritik an der Türkei vor dem Hintergrund der in der englischsprachigen Presse aufgetauchten Meldungen, wonach die Republik seit November die Ukraine mit Artillerie-Cluster-Munition aus den Zeiten des Kalten Krieges versorge, enthalten. Der Pressesekretär des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, erklärte, dass Ankara seine eigenen bilateralen Pflichten habe. Dennoch behaupten westliche Medien, dass die Türkei beabsichtigt hätte, ihre Lieferungen an Kiew zu verheimlichen, im Wissen darum, dass solch eine Politik zu einem Hindernis für deren Versuche wird, für sich eine exklusive Vermittlerrolle festzuschreiben.
Peskow erklärte, dass Russland aufmerksam die Materialien verfolge, die in westlichen Medien auftauchen. Es fixiere jedoch „mehr Fakes denn glaubwürdige und wahre Meldungen“. Nach seinen Worten seien allen die Fakten über Lieferungen von Bayraktar-Kampfdrohnen aus türkischer Fertigung an die ukrainische Seite „gut bekannt“. „Die Türkei hat ihre Pflichten als ein Mitgliedsland der NATO, ihre bilateralen Beziehungen“, unterstrich der Vertreter des russischen Staatsoberhauptes. „Uns ist dies auch bekannt. Zur gleichen Zeit verbinden uns aber mit der Türkei dennoch recht, recht partnerschaftliche Beziehungen, die auf einem gegenseitigen Vorteil, auf gegenseitigem Verständnis, Achtung und die gegenseitige Bereitschaft, die schwierigsten Probleme zu erörtern, beruhen“.
So kommentierte Peskow die am Vorabend im Magazin „Foreign Policy“ aufgetauchten anonymen Äußerungen US-amerikanischer und europäischer offizieller Persönlichkeiten, wonach Ankara seit Herbst verbesserte Standardmunition doppelter Zweckbestimmung (DPICM) an Kiew liefere. Dies sind Erzeugnisse aus einer amerikanisch-türkischen Gemeinschaftsfertigung, die, wie in dem Beitrag unterstrich wird, in Depots der Republik seit den Zeiten des Kalten Krieges gelagert worden waren. Solche Artillerie-Munition ist unter anderem für eine Vernichtung gepanzerter Technik bestimmt und kann außerdem für die Führung von Schlägen gegen Schützengräben eingesetzt werden. Dennoch bewertet „Foreign Policy“ diese Lieferungen an die Ukraine als einen widersprüchlichen Schritt: Die Geschosse seien aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit und Ungenauigkeit bekannt.
Vor diesem Hintergrund erfolgten in Ankara Gespräche der Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, Tatjana Moskalkowa, mit dem Vorsitzenden der Großen Volksversammlung (des Parlaments) der Türkei, Mustafa Şentop, an denen der ukrainische Ombudsmann Dmitrij Lubinez und der Ombudsmann der Türkei Şeref Malkoç teilnahmen. Moskalkowa teilte mit, dass sie Şentop die Bitte übergeben hätte, „die Lieferung von Waffen an die Ukraine einzustellen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden“. In Ankara hat man allerdings Kurs auf eine vollkommene Leugnung der Angaben genommen. Zumindest habe eine Quelle der russischen staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti in der Kanzlei des türkischen Staatsoberhauptes die Erklärung abgegeben, dass die in „Foreign Policy“ aufgetauchten Angaben eine Desinformation sei, die auf eine Untergrabung des diplomatischen Prozesses rund um die Ukraine ausgelegt sei.
Bereits Anfang Dezember hatte der amerikanische TV-Kanal CNN gemeldet, dass die Administration des US-Präsidenten Joseph Biden im Verlauf mehrerer Monate die Bitte Kiews um Lieferungen von Cluster-Munition prüfe, sich jedoch nicht beeile, eine klare und eindeutige Antwort zu geben. Laut diesen Einschätzungen neige Washington zu dem Standpunkt, dass die Option mit derartigen Waffen als letzte genutzt werden könne, wenn sich im Rahmen anderer Versorgungslinien Anzeichen eines Mangels abzeichnen. CNN lenkte das Augenmerk darauf, dass die Übergabe von Munition für das Weiße Haus mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten verbunden sei, in erster Linie seitens des Kongresses. Ungeachtet dessen könne man sie überwinden. Die Administration behandele die Frage derzeit nicht mit aller Ernsthaftigkeit.
Die Gesprächspartner von „Foreign Policy“ behaupteten, dass die amerikanische Seite durchaus klar Kiew die Nichtbereitschaft zur Öffnung eines derartigen Versorgungskanals demonstriert hätte, wonach es offenkundig versuchte, die Anstrengungen auf andere potenzielle Lieferanten umzulenken. „Nachdem die USA den Zugang zu Cluster-Munition verweigerten, wurde die Türkei zum einzigen Ort, wo sie (die ukrainischen Offiziellen – „NG“) diese erhalten konnten“, zitiert das Magazin eine gewisse informierte Quelle. „Dies ist eine einfache Demonstration: Ungeachtet dessen, dass die Türkei hinsichtlich einiger Aspekte Russland schmeichelt, wird sie tatsächlich zu einem wichtigen Anhänger der Ukraine in militärischer Hinsicht“.
Das letzte Jahr demonstrierte die Türkei eine relative Konsequenz in der Situation rund um die Ukraine, wobei es eine vollständige Solidarisierung mit den westlichen Sanktionsmechanismen ablehnte und den Konfliktseiten einen neutralen Verhandlungsstandort sicherte. Unter Beteiligung der Republik war der Deal über den Transport von Getreide und Düngemitteln abgestimmt worden. Zur gleichen Zeit geriet Ankara unter den Verdacht der amerikanischen Aufsichtsbehörden aufgrund der Offenheit für russisches Kapital, was Washington veranlasste, an der Effektivität der Versuche, vollkommen Moskau von den globalen Märkten abzuschneiden, zu zweifeln. Aber in diesen Monaten erwarb sich Präsident Recep Tayyip Erdogan das Image eines Vermittlers. Die Vorwürfe in Bezug auf Lieferungen von Cluster-Munition an die Ukraine werden Risiken für das Ansehen nach sich ziehen.
Ungeachtet dessen, dass sich Ankara doch nicht der Konvention über Cluster-Munition von 2008 angeschlossen hatte, hat es vor ein paar Jahren ein offizielles Schreiben an die Gruppe für Unterstützung bei der Implementierung dieses internationalen Vertrages gesandt, in dem erklärt wurde, dass die Republik seit 2005 keine entsprechenden Geschosse einsetzte, herstellte, importierte und andere internationale Akteure übergab und nicht beabsichtige, sich damit in der Perspektive zu befassen. „Die Türkei teilt wirklich die humanitären Erwägungen, mit denen die Anstrengungen zum Einsatz eines wahllosen Einsatzes von Waffen inklusive Cluster-Munition motiviert werden“, betonte der ständige Vertreter des Landes beim Genfer UNO-Office, Sadyk Arslan, in der Botschaft.
„Es muss wohl um die 155-mm-Cluster-Geschosse M483A1 gehen, die in der Türkei entsprechend einer amerikanischen Lizenz hergestellt werden“, vermutete in einem Gespräch mit der „NG“ der Militärexperte Jurij Ljamin bei der Kommentierung dessen, um welche Erzeugnisse es denn in dem Beitrag von „Foreign Policy“ gehe. Der Analytiker räumte ein, dass dies nicht die einzige Waffenlieferung aus der Türkei in die Ukraine im vergangenen Jahr und sicherlich auch nicht die letzte gewesen sei. Zur gleichen Zeit bekundete der „NG“-Gesprächspartner Zweifel daran, dass die bekanntgewordenen Fakten jetzt etwas in politischer Hinsicht verändern könnten.