Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die Ukraine bereitet für Russland „Nürnberg“ vor


Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Werchowna Rada (des ukrainischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), Alexander Mereschko, hat vorgeschlagen, für ein künftiges Tribunal gegen Russland im Zusammenhang mit dessen Aggression die Erfahrungen des Nürnberger Gerichtsprozesses zu nutzen und dieses auch dort durchzuführen. Dabei rief er auf, ein Prinzip zu verankern, welches erlauben würde, die Immunität den Führungskräften der Länder, die eine Aggression vornehmen, abzuerkennen, aber auch die Möglichkeit deren Verurteilung in absentia einzuräumen. Experten schließen nicht aus, dass der angestrebte Prozess doch organisiert werden könnte. In den USA hat man dafür bereits 400 Millionen Dollar bereitgestellt. Derweil bereitet man in der Donezker Volksrepublik ein eigenes Tribunal vor – gegen ukrainische Kriegsverbrecher.

Der Vorsitzende des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit in der Werchowna Rada der Ukraine, Alexander Mereschko, veröffentlichte am Donnerstag in einem der einheimischen Medien einen Artikel unter dem Titel „Ein internationales Tribunal für Putin und seine Komplizen: Wie kann man sie bestrafen“. Und er befasste sich in ihm mit der anstehenden Organisierung eines künftigen Gerichtsprozesses. Unter anderem befasste sich der Autor mit der Finanzierung solch eines Prozesses. Wie er präzisierte, sei eine außerordentlich große Summe erforderlich, da eine qualitätsgerechte internationale Rechtsprechung kostspielig sei. Und im Zusammenhang damit äußerte er die Annahme, dass die entsprechenden Mittel die Staaten bereitstellen könnten, die das Tribunal schaffen würden, aber wahrscheinlich auch einige internationale Organisationen, zum Beispiel die EU. Man könnte auch noch die in einer Reihe westlicher Länder auf Eis gelegten und konfiszierten Mittel und Eigentum der Russischen Föderation verwenden, fügte Mereschko hinzu.

Und nebenbei sprach er sich für die Abhaltung des Tribunals an einem symbolischen Ort aus, in Nürnberg, und genauer: im Justizpalast, in dem einst die Nürnberger (Kriegsverbrecher-) Prozesse stattgefunden hatten. Obgleich nicht ausgeschlossen sei, dass die Verhandlungen des Tribunals auch an anderen Orten erfolgen könnten. Zum Beispiel ist vorgeschlagen worden, dies in Mariupol zu tun (die Stadt befindet sich bereits unter der Kontrolle von Militärs der Russischen Föderation und der Volksmiliz der DVR). Zur gleichen Zeit werden für den neuen Prozess offenkundig mehr Richter gebraucht, als einst an den Nürnberger Prozessen teilgenommen hatten (allein beim Hauptkriegsverbrecherprozess waren es acht für die 22 Angeklagten), denn es wird weitaus mehr Angeklagte geben. Wobei sie sowohl die erinnerungswürdigen Nürnberger Erfahrungen als auch die aktuelleren Erfahrungen des Internationalen Tribunals gegen Jugoslawien nutzen könnten, fuhr der ukrainische Parlamentarier fort.

Und daneben hat er unter anderem vorgeschlagen, die vorerst problematisch bleibenden Fragen zur Immunität der angeklagten Personen und die Möglichkeiten, eine Rechtsprechung gegen sie in absentia vorzunehmen, zu klären. Er plädierte insbesondere dafür, dass „das Tribunal klar das Prinzip verankert, demnach Staatsoberhäupter und Vertreter der höchsten politischen und militärischen Führung eines jeglichen Staates keine Immunität besitzen, wenn es um die Verübung des Verbrechens einer Aggression durch sie geht“.

Gleichfalls hielt es Mereschko für wichtig, dass das Tribunal in absentia die Fälle behandeln und ein Urteil fällen kann. „Natürlich, vorerst wird es schwierig sein, physisch den russischen Präsidenten Putin und all seine Komplizen zum Tribunal zu bringen, Dies darf aber nicht die Behandlung des Falls und das Fällen eines gerechten Urteils behindern“, erklärte der Ausschussvorsitzende aus dem ukrainischen Parlament. Nach seinen Worten würde die Ausstellung von Haftbefehlen durch das Tribunal in Bezug auf hochrangige Staatsbeamte, die der Verübung einer verbrecherischen Aggression verdächtigt werden, an und für sich eine große Bedeutung besitzen und zu deren politischen Isolierung führen.

Am Vorabend hatte der Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskij, in einer erneuten Videobotschaft erklärt, dass Russland eine konsequente verbrecherische Politik zur Deportation von Ukrainern verfolge. „Gewaltsam verschleppt man sowohl Erwachsene als auch Kinder (in die Russische Föderation – „NG“). Dies ist eines der gemeinsten russischen Kriegsverbrechen. Insgesamt sind derzeit über 200.000 ukrainische Kinder verschleppt worden“, berichtete Selenskij. Und er fuhr fort: „Ziel dieser verbrecherischen Politik ist, nicht einfach Menschen zu rauben, sondern es so anzustellen, dass die Deportierten die Ukraine vergessen und nicht zurückkehren können. Aber wir müssen auch auf diese Herausforderung eine Antwort finden. Und gleichfalls sichern, dass alle, die Ukrainer töteten, folterten oder deportierten, für ihre Taten haften“.

Der Vorsitzende des Kontrollausschusses der Staatsduma der Russischen Föderation (des Unterhauses des Landesparlaments – Anmerkung der Redaktion), Oleg Morosow (Kremlpartei „Einiges Russland“) merkte gegenüber der „NG“ an: „Ein Tribunal wird unbedingt gebraucht. Und es wird bestimmt stattfinden. Wahrscheinlich irgendwo neben Babyn Jar (Tal auf dem Gebiet der ukrainischen Hauptstadt Kiew, in dem Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordeten; das größte einzelne Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg, für welches das Heer der Wehrmacht verantwortlich war – Anmerkung der Redaktion). Und dort wird ein Prozess gegen die ukrainischen Nazi-Verbrecher inklusive Mereschko erfolgen. Ich denke, dass bereits in der nächsten Zeit mehrere symbolträchtige Personen der heutigen Ukraine verhaftet und vor ein Gericht in der Donezker und der Lugansker Volksrepublik gestellt werden“. Was aber das „Tribunal gegen Russland“ angehe, so habe es keine Perspektive, denn der ukrainische Staat als ein Subjekt des Völkerrechts habe keine Zukunft, sagte arrogant Morosow. Und daher zog er die Schlussfolgerung, dass sich der kollektive Westen mit Russland einigen müsse.

Allerdings könnten nach Meinung anderer Experten die Vorschläge über die Durchführung eines neuen Tribunals doch realisiert werden. In erster Linie ergebe sich da die Frage, erläuterte der „NG“ Prof. Alexander Domrin vom Lehrstuhl für Rechtstheorie und -geschichte von der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften: Warum ist denn vorgeschlagen worden, gerade ein Tribunal und keinen Gerichtsprozess durchzuführen? Augenscheinlich um es unter der Ägide einer gewissen Organisation durchzuführen. Es ist klar, dass dies nicht die UNO sei, in der Russland ein Vetorecht besitze. Es sei aber augenscheinlich: Die Autoren der Initiative rechnen damit, irgendeine internationale Organisation zu finden, in der Russland kein Veto gegen derartige Entscheidungen einlegen kann. Oder aber sie etablieren eine neue Organisation.

Die Wahrscheinlich solch einer Wende hätte man, betonte Domrin, von vornherein voraussagen können. So sind in dem von den USA bereitgestellten letzten Paket militärischer Hilfe für die Ukraine über eine Summe von 40 Milliarden Dollar rund 400 Millionen vorgesehen worden, die für eine Ermittlung und Protokollierung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die durch Russland gegen die Ukraine begangen wurden, eingesetzt werden sollen. Und diese Gelder müssen – versteht sich – ausgegeben werden. „Gelder gibt es. Und der Schuldige ist benannt worden. Bleibt, nur detailliert die angenommenen Verbrechen der Russischen Föderation gegen die Menschlichkeit auf dem ukrainischen Territorium zu protokollieren“, konstatierte Domrin.

Aber inwieweit können sich durch solch ein Tribunal gefällte Entscheidungen als legitime erweisen? Es muss eingestanden werden, dass das internationale Recht ziemlich verwirrend und verschlagen ist. Die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahrzehnten nicht einen einzigen Krieg initiiert. Jedoch sind weder Vertreter der amerikanischen Herrschenden noch dortige Militärs nicht ein einziges Mal vor ein internationales Gericht gestellt worden. Obgleich irgendwelche Militärs auch vor eigenen amerikanischen Gerichten verurteilt werden konnten, präzisierte der Rechtsprofessor. Und unter solchen Bedingungen, unter denen die einen Akteure der internationalen Staatengemeinschaft die Entscheidungen des geplanten Tribunals nicht anerkennen würden, sei andere imstande, räumte Domrin ein, sie voll und ganz zu unterstützen.

Seinerseits ging das Mitglied der Juristenvereinigung Russlands Dmitrij Uwarow auf die von dem ukrainischen Abgeordneten initiierten rechtlichen Neuerungen ein. Er betonte, dass der Vorschlag hinsichtlich eines Entzugs der Immunität dazu berufen sei, einen Staatsmann zur Verantwortung zu ziehen. Und dessen Umsetzung sei durchaus möglich. Es ergebe sich jedoch die Frage hinsichtlich dessen Anwendung in der nationalen Gesetzgebung. Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation könne solch eine Entscheidung als verfassungswidrig anerkennen. Und dementsprechend werde sie in Russland nicht umgesetzt werden. Und wie in solch einem Fall die Kollision zwischen der internationalen und der nationalen Norm gelöst werden kann, bleibe vorerst eine Frage. Während das Treffen von Entscheidungen in absentia den Angeklagten das Recht auf einen Vertreter nehmen könne. Solch ein Entzug sei in einem Strafrechtsprozess unzulässig. Dieser Vorschlag ziele darauf ab, zumindest irgendwie einen Gerichtsprozess in Gang zu bringen, bei dem der eigentliche Angeklagte nicht anwesend sein wird. Aber, selbst wenn die Richter die endgültige Entscheidung in absentia fällen würden, werde es schwierig sein, das Prozedere für eine Umsetzung des Urteils aufgrund eben jener Kollision der internationalen und der nationalen Norm zu verwirklichen. Somit werde die Hauptschwierigkeit mit der Umsetzung und der Anerkennung der Beschlüsse solch eines Tribunals durch jeden konkreten Staat zusammenhängen, resümierte Uwarow.

Die ausgewiesenen Momente wird man wahrscheinlich auch in Donezk berücksichtigen müssen, wo man ein eigenes Tribunal vorbereitet. Dies erklärte – freilich nicht als erste – am Donnerstag die Vorsitzende des Ausschusses für Straf- und Ordnungsrecht des Volksrates der Donezker Volksrepublik, Jelena Schischkina, gegenüber der russischen staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti. Wie sie betonte, sei nicht ausgeschlossen, da die ukrainische Seite auch einen Beschuss des Verwaltungsgebietes Belgorod vornehmen, dass man irgendeinen Teil der Sitzungen des Tribunals auch auf dem Territorium der Russischen Föderation durchführen werde. Gleichfalls werde ein Zwischenteil von ihm in Mariupol erfolgen. Zuvor hatte die Abgeordnete mitgeteilt, dass der erwähnte Prozess bis Ende Sommer erfolgen könne. Vorerst aber arbeitet die Generalstaatsanwaltschaft der DVR zusammen mit den entsprechenden russischen Institutionen dessen Satzung und die notwendige Dokumentenbasis aus.

  1. S.

Es werden freilich nicht nur die Papierarbeiten, die für ein Tribunal erforderlich sind, vorgenommen. In den russischen Staatsmedien wird schon viel über die möglichen Urteile gesprochen. Und die berichteten beispielsweise unter Berufung auf Jurij Sirowatko, Justizminister der Donezker Volksrepublik, dass beispielsweise einigen der ukrainischen Militärs, die sich in „Asowstahl“ von Mariupol ergeben hatten, die Höchststrafe – die Todesstrafe – drohe. Dabei versicherte Sirowatko: „Eine gerechte Entscheidung hinsichtlich eines jeden konkreten Falls wird im Rechtsbereich gefällt werden“. Um solche Todesstrafen begründet verkünden zu können, erhalten die Vertreter der Donbass-Republik tatkräftige Unterstützung seitens russischer Untersuchungsbeamter. Sie nehmen seit Ende Mai massenhaft Blutproben unter den Kämpfern des ukrainischen Regiments „Asow“, um anhand der DNK-Werte diese genau identifizieren zu können. In einer speziellen Kartothek werden gleichfalls Daktyloskopie-Materialien, Informationen zu den Rufnamen, Fotos von Tätowierungen etc. erfasst und systematisiert. Bleibt also nicht mehr lange zu warten, bis die ersten Schauprozesse in den Donbass-Republiken beginnen.