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Die USA und die Türkei müssen eine Pause in den Beziehungen einlegen


Nach der Erklärung von Joseph Biden über die Anerkennung des Genozids der Armenier im Osmanischen Reich hatte man den USA-Botschafter in der Türkei David M. Satterfield ins Außenministerium der Republik einbestellt. Ankara bezeichnete die Änderungen in der offiziellen Position Washingtons als inakzeptabel und versprach, dass dies die bilateralen Beziehungen beeinflussen werde, die bereits durch den Sanktionsdruck als Antwort auf den Erwerb der russischen Raketenabwehrsysteme S-400 sowie durch die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Syrien-Konfliktes und bezüglich der Situation im Mittelmeer verdorben worden sind. Experten halten die Spannungen aufgrund der Ereignisse von vor mehr als 100 Jahren für zeitweilige.

Der stellvertretende türkische Außenminister Sedat Onal setzte Satterfield darüber in Kenntnis, dass die türkische Seite die Erklärung Bidens für inakzeptabel halte. Ankara lenkte das Augenmerk darauf, dass die Anerkennung des Genozids der Armenier im Osmanischen Reich aus der Sicht des Völkerrechts keine Kraft besitze.

In einem Kommuniqué des Außenministeriums der Republik heißt es, dass eine derartige Veränderung in der amerikanischen Haltung das türkische Volk zutiefst verletze und nur den bilateralen Beziehungen der NATO-Verbündeten schade. „Diese Erklärung der USA, die die historischen Tatsachen entstellt, wird durch das türkische Volk niemals akzeptiert werden und öffnet eine tiefe Wunde, die unserem gegenseitigen Vertrauen und der Freundschaft Schaden zufügt“, betonte man im Außenministerium der Türkei.

Als eine Vorsichtsmaßnahme sind die amerikanischen diplomatischen Vertretungen in der Republik am 26. und 27. April geschlossen worden. Wahrscheinlich erwartete man in Washington massenhafte Protestaktionen.

Das Biden-Statement war am 24. April aus Anlass des Gedenktages für die Opfer verbreitet worden. „Die meisten von jenen, die überlebt hatten, waren gezwungen gewesen, ein neues Zuhause und ein neues Leben in der ganzen Welt, darunter in den USA zu suchen“, wurde in einer Mitteilung des US-Präsidenten über die Ereignisse von 1915 betont. „Mit Kraft und Ausdauer hat das armenische Volk überlebt und seine Gemeinschaft wiederhergestellt. Im Verlauf von Jahrzehnten haben armenische Migranten die USA in vielerlei Hinsicht bereichert. Sie haben aber nie die tragische Geschichte vergessen, die so viele ihrer Vorfahren an unsere Küste gebracht hatte. Wir gedenken ihrer Geschichte. Wir sehen diesen Schmerz. Wir bestärken die Geschichte. Wir tun dies nicht dafür, um eine Schuld zuzuweisen, sondern um zu garantieren, dass das, was geschah, sich niemals wiederholt“.

Die Türkei hat die Erklärung Bidens zurückgewiesen. „Worte können die Geschichte nicht ändern und umschreiben. Wir haben nichts bei irgendwem hinsichtlich unserer Vergangenheit zu lernen. Politischer Opportunismus ist ein überaus großer Verrat am Frieden und der Gerechtigkeit“, schrieb der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu auf Twitter.

Die türkische Seite war vorab über die Veränderungen in der offiziellen Terminologie in Kenntnis gesetzt worden. Dies war Gegenstand eines Telefonats zwischen Biden und Recep Tayyip Erdoğan gewesen. Daneben hatten die Staatsmänner andere Problemfragen erörtert. Sie vereinbarten, für eine Erweiterung der Zusammenarbeit auf der Grundlage gegenseitiger Interessen zu arbeiten, meldete die Erdogan-Kanzlei zu den Ergebnissen des Gesprächs.

Was die Anerkennung des Genozids der Armenier angeht, so sehen die Amerikaner nichts, was den Beziehungen mit der Türkei schaden könnte. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte einen namentlich nichtgenannten hochrangigen Vertreter des Weißen Hauses, der versicherte, dass Biden nach wie ein Zusammenwirken mit Erdogan anstrebe und mit einem persönlichen Treffen mit ihm beim für den 14. Juni geplanten NATO-Gipfel rechne. Nach Aussagen des Vertreters der Washingtoner Administration sei dies auch im Verlauf des Telefongesprächs der Präsidenten erörtert worden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Washington in der Situation mit Ankara etwa genauso handeln wird wie in der „saudischen“ Richtung – die Themen, die eine Erörterung erfordern, von den Themen zu trennen, die eine Kooperation benötigen.

„Der Präsident der USA möchte mit Präsident Erdogan für die Lösung dieser Fragen eng zusammenarbeiten. Daher hat er vorgeschlagen, dass sie die Gelegenheit nutzen, sich persönlich zu treffen, wenn beide beim NATO-Summit im Juni sein werden“, erklärte der Gesprächspartner von Reuters. Er unterstrich, dass die USA in der Türkei einen wichtigen Verbündeten in der NATO sehen würden. Und das Statement von Biden ziele darauf ab, der ums Leben Gekommenen zu gedenken und nicht einen Schuldigen zu bestimmen.

In einem Gespräch mit der „NG“ erklärte Aykan Erdemir, Senior Direktor des Türkei-Programms in der US-amerikanischen Stiftung für den Schutz der Demokratie und ehemaliger Abgeordneter des türkischen Parlaments, dass sich die Analytiker, die mit einer Eskalierung in den amerikanisch-türkischen Beziehungen rechnen, wahrscheinlich täuschen werden. „In den vorangegangenen Fällen, als die Offiziellen anderer westlicher Staaten analoge Schritte unternommen hatten, erhöhte Ankara den Grad seiner Kritik. Dies dauerte aber nicht lange an“, erinnerte der Gesprächspartner der „NG“. „Dieses Mal wird die Regierung Erdogans wahrscheinlich ebenfalls zu den Routineangelegenheiten mit den amerikanischen Kollegen zurückkehren können“.

Der Analytiker lenkte das Augenmerk auf den Inhalt des Telefongesprächs von Biden mit Erdogan, das demonstriert habe, dass ungeachtet der existierenden Meinungsverschiedenheiten beide Seiten an einer Fortsetzung des Zusammenwirkens zwecks Gewährleistung einer effektiven Beilegung der Meinungsverschiedenheiten interessiert sind, wie es auch in einer offiziellen Erklärung des Weißen Hauses heißt. „Ich erwarte, dass nach der Pause Ankara und Washington an den Verhandlungstisch zurückkehren werden, um Formen zu finden, die gegenstandsbezogenen Kontakte zu normalisieren“, erklärte Erdemir. „Jegliche Möglichkeit für die Gestaltung vertrauensvoller Bündnisbeziehungen war noch bis zu der Erklärung Bidens ausgeschöpft worden. Es muss abgewartet werden, bis Erdogan vom Amt abgelöst und durch eine prowestliche Regierung in Ankara ersetzt wird“.