Der Chefredakteur der „Nesawisimaya Gazeta“, Konstantin Remtschukow, beantwortete jüngst Fragen von Journalisten des Moskauer Hörfunksenders „Echo Moskaus“ bezüglich der für den 1. Juli geplanten Abstimmung der russischen Bürger zur Änderung der Landesverfassung. In diesem Zusammenhang ging er gleichfalls auf den Vorschlag der Zentralen Wahlkommission zur Vereinfachung der Modalitäten für die gesamtrussische Abstimmung zur Frage nach der Billigung der Änderungen an der Verfassung ein. Bekanntlich war vorgeschlagen worden, den Wählern die Stimmzettel ohne Eintragung deren Passangaben in die Teilnehmerliste auszuhändigen, aber auch die Abstimmung zu Hause und vorzeitig ohne triftige Gründe vorzunehmen.
Seiner Meinung würde jede solche Initiative den Sinn der Abstimmung aushöhlen und sie in eine unverbindliche, im Großen und Ganzen kumpelhafte Erfassung von Sympathien und Antipathien verwandeln. Das heißt, „jede solche Initiative fügt dem Verfassungsprozess meines Erachtens nichts Positives hinzu, denn der Verfassungsprozess ist selbst ein von der Prozedur her strenger und verbindlicher. Daher ist dies bereits eine Kampagne, weil sie solch eine Form einer Abstimmung hat. Ja, man hat sie sich also ausgedacht und sagt nun: „Nun, stimmen Sie beliebig mit einer minimalen Forderung bezüglich der Glaubwürdigkeit und der Kontrollprozeduren ab! Wir wollen bloß die Stimmungen der Menschen ermitteln und den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu äußern“.
„Aber bereits ab dem Zeitpunkt, als man die Haltungen – bist Du für oder gegen die Vornahme der (Verfassungs-) Änderungen – zu einem vereinte, … Mir scheint, ab diesem Zeitpunkt hörte das Gerede auf, einen rechtlichen Charakter zu tragen, und fing an, sich in ein plebiszitär-marktplatzartiges zu transformieren. Die Nachlässigkeit hinsichtlich der abgewickelten Prozedurfragen schmälert meines Erachtens die Bedeutung dieser Änderungen und macht sie nicht zu unverrückbaren für die künftigen Regierenden.“
In Bezug auf die Dringlichkeit der Abstimmungsprozedur ist K. Remtschukow der Auffassung, dass dies damit zusammenhänge, dass einige Sachen, die sich aus den Verfassungsänderungen ergaben, darunter sozial-ökonomischer Art, bereits für die zweite Hälfte dieses Jahres geplant gewesen seien und man sie schon ausgehend von diesen Verfassungsforderungen umsetzen müsse. Man müsse es schaffen, dass irgendwelche praktische Sachen beginnen.
K. Remtschukow: „Einfach einmal als ein Beispiel, was ich meine: Da ist beispielsweise dieser soziale Block, der quasi ein Nichtnachlassen der Aufmerksamkeit des Staates für die sozialen Probleme der Menschen garantiert. Diese Pakete tragen stets auch einen elektoralen Charakter. Da wir im Jahr 2021 Wahlen zur Staatsduma haben werden… Und die Wahlen werden aufgrund vieler Ursachen schwere werden, aufgrund des Rückgangs des Lebensniveaus der Menschen, der angestiegenen Arbeitslosigkeit… Keiner weiß, wie sich die Wirtschaft verhalten wird, wenn noch eine Coronavirus-Welle über das Land hereinbricht. Eben deshalb geht es jetzt darum, dies alles in den Budget-Plandokumenten zu verankern, und darum, ein neues Rhetorik-Gewebe für das gesamte kommende Jahr zu schaffen“.
Hinsichtlich der von der russischen Regierung zu verabschiedenden Maßnahmen zur Überwindung der Folgen der durch das Coronavirus ausgelösten Krise meint K. Remtschukow:
„Ich sehe eine Zunahme der Kosten in der Wirtschaft insgesamt und einen Rückgang der Effektivität, einen Rückgang der Rentabilität sowie eine Verringerung der Einnahmen und einen Rückgang der Ausgaben voraus. Das heißt, in diesem Falle werden jene Faktoren, die Faktoren für ein Wachstum des Reichtums und des Wohlergehens sein könnten, nunmehr weitaus gedämpfter wirken, wie mir scheint. Von daher auch die Forderung an die Regierung, gleich mehrere Prozesse in Gang zu bringen. Das heißt in jenen Bereichen, auf jenen Märkten, wo der Staat überhaupt nicht gebraucht wird, außer für den Schutz des Marktes an sich. Das heißt Abbau der Barrieren für die Erschließung des Marktes, Finanzierung des Anfangskapitals für das Kleinunternehmertum und Schutz dieser Unternehmen vor Schutzgelderpressungen und Nötigungen. Die ist eine rein staatliche Funktion. Dies muss man entwickeln. Überall, wo die Menschen Geld investieren wollen, und das, was sie tun und dem Markt anbieten wollen… Dies muss man auf jede Weise tun! Das Kleinunternehmertum und der Mittelstand, die sind vor allem, wie bekannt, die Formen für eine Beschäftigung. Es gibt natürlich einzelne Unternehmen, die aus technologischer Sicht sehr wichtig sind.
Und diese Beschäftigung zu regulieren und zu denken, dass irgendwelche große Unternehmen entstehen, in denen Menschen arbeiten werden – das ist nicht realistisch. Man muss sie (die Klein- und mittelständischen Unternehmen – Anmerkung der Redaktion) unterstützen, damit zwei, drei Leute Fuß fassen, damit sie beschäftigt sind, sie ein kleines Unternehmen haben, sie das ruhig tun, was sie müssen, und noch irgendwelche Steuern zahlen. Und der Staat wird ihnen keine Arbeitslosenunterstützung zahlen. Das ist ein einziger Nutzen!
Und es gibt die großen Sektoren, die mit großen Investitionen verbunden sind, darunter mit Organisationskapital, wo der Wert eines Arbeitsplatzes… Einmal angenommen, wenn ein Großunternehmen zusammenbricht. Da fängt man von vorne an, etwas zu schaffen. Du wirst da sehr viele Millionen oder Milliarden Rubel brauchen, um dies alles wiederherzustellen. Und ein Arbeitsplatz wird sehr teuer werden…
Bei uns war ja die Wirtschaftspolitik der letzten Jahre absolut nicht ausbalanciert. Da hatte man die Zentralbank zum Megaregulator ernannt. Und Elvira Nabiullina (die Chefin der Zentralbank) sollte als Megaregulator mehrere Aufgaben lösen. Einerseits ist dies eine rein monetäre Aufgabe, eine Aufgabe hinsichtlich der Inflation. Andererseits ist der Megaregulator für die Regulierung der Wirtschaft verantwortlich. Und hier kommen wir zu den Zielen der Wirtschaft. Nun, wenn wir einmal die Makroökonomie nehmen, über die unsere Spitzenvertreter des Landes gerne reden, so haben wir da neben einer geringen Inflationsrate … Übrigens, wir hatten nie eine geringe Inflation. Sie war geringer als in den 90er Jahren. Aber man kann eine Inflationsrate von 4 Prozent oder von 4,5 Prozent oder von 4,2 (Prozent) nicht als eine geringe ansehen. Das ist eine sehr hohe Inflation“. Der Preis der gegenwärtigen Inflationsrate sei nach Auffassung von K. Remtschukow ein hoher, auch wenn er geringer sei als gewöhnlich und bei der gegenwärtigen Inflation von 4 Prozent. „Das ist so ein Zusammendrücken des Kreditmarktes und eine mangelnde Liquidität, so dass sich keiner entwickeln kann. Das heißt, es gibt keine Liquidität auf dem Markt. Da aber Nabiullina dafür nicht geradesteht (sie steht für das Ihrige vor dem Präsidenten gerade), sich die Wirtschaftsminister in dieser Lage als schwächer erweisen als sie und den Finanzminister das Wirtschaftswachstum überhaupt nicht beunruhigt… Ihn interessiert nur das Haushaltsdefizit und das nicht viel Geld weggeschnappt wird…“ Da ergebe sich also die Situation, „in der die Philosophie eines jeden Ressorts nicht durch ein gemeinsames Ziel vereint ist. Das gemeinsame Ziel ist aber, einerseits die Inflation zu kontrollieren, andererseits solche Voraussetzungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkünfte der Menschen zu kreieren, unter denen man sich entwickeln kann. Unter denen ein Interesse für Investitionen aufkommt, und überhaupt für den Wunsch, hier zu arbeiten, um zu prosperieren. Es hat aber in den letzten Jahren nicht einen Mann gegeben, der eben diese ganze Philosophie, von der die Rede war, verkörpert hätte. Andererseits gibt es ausreichende administrative Ressourcen, um die Interessen eines jeden dieser Ressorts zu regulieren.
Und da ist dieses Mantra von einem positiven Haushalt, dass er defizitfrei sein muss. Mit dem will man sein, leben und sterben. Keynes hatte gerade in Krisenzeiten einen defizitären Haushalt vorgeschlagen, wobei er behauptete, dass es völlig blödsinnig sei, unter den Bedingungen einer Krise einen ausbalancierten, einen nichtdefizitären Haushalt zu haben, da sich ein defizitärer Haushalt aus zwei Faktoren ergebe. Einerseits arbeite keiner unter den Bedingungen einer Krise. Und es gebe keine Einnahmen. Und da es keine Einnahmen gebe, gebe es auch keine Steuern…“ Man müsse sich das Haushaltsdefizit nicht nur ausgehend von den Ergebnissen in den Krisenjahren anschauen, sondern ausgehend von allen Jahren des Geschäftszyklus. Und die Jahre des Geschäftszyklus umfassen sowohl die Jahre des Haushaltsüberschusses als auch des Haushaltsdefizits. Diese Aufgabe müsse nach Meinung von K. Remtschukow der Regierungschef lösen. Er müsse ein Ludwig Erhard der russischen Wirtschaft sein.