Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die Verteidigung der Bürgerrechte in Russland – nun in einer Grauzone


Am 11. Juni ist ein Gesetz in Kraft getreten, dem zufolge die Russische Föderation aufhört, Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs zu erfüllen. Sie verabschiedet sich aus dessen Jurisdiktion. Gleichfalls hören die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf, eine Grundlage für eine Revision von Beschlüssen russischer Gerichte zu sein.

Für den Staat, das heißt den Mechanismus der bürokratischen Strukturen, die Hierarchie der Staatsbeamten, ist so wohl bequemer. Aber gegen den Mechanismus der Verteidigung der Rechte der Bürger (einschließlich der Beamten) ist da ein ernsthafter Schlag versetzt worden. Eines unserer wichtigsten staatlichen Übel ist die Abhängigkeit der Richter von der höherstehenden Führungsriege, von der exekutiven Gewalt, genauer gesagt: von der Macht der Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsstrukturen. Und gerade darin liegt auch die hauptsächliche Besonderheit des Europäischen Gerichtshofes. Er ist wirklich unabhängig von den nationalen Behörden – seien es die Herrschenden Rumäniens, Polens, der Ukraine, der Türkei. Oder Russlands. Dies sind die Länder, aus denen am meisten Klagen gekommen sind.

Ich lese, dass sich einer unserer sehr großen Staatsbeamten über eine Entscheidung des EGMR hinsichtlich des Rechts der Bürger auf gleichgeschlechtliche Ehen empörte. Für ihn ist es bequem, gerade auf diese Entscheidung zu verweisen, obgleich in dieser Empörung auch Verschlagenheit steckt. Ja, der Europäische Gerichtshof sorgt sich um die Rechte jeglicher Minderheiten. Aber die überwältigende Mehrheit seiner Entscheidungen zu den Klagen aus Russland wird im Zusammenhang mit Folterungen und an Foltern erinnernden Bedingungen in unseren Gefängnissen und Straflagern gefällt. Fast 80 Prozent der russischen Klagen, die beim EGMR eingereicht wurden, gelten diesem Thema. Obgleich es natürlich auch noch Klagen in Bezug auf eine Verteidigung der Ehre und Würde, über Strafrechtsurteile, über eine Wiedergutmachung von Schäden durch den Staat, die einem Bürger zugefügt wurden, über die Redefreiheit und Freiheit der Massenmedien, über das Recht auf Unternehmertum usw. gegeben hat. Den ganzen Katalog an Rechten aus dem zweiten Kapitel unserer Verfassung könnten wir in den Beschlüssen des Europäischen Gerichtshofs finden.

Ein gesondertes Thema ist der Schutz vor einer unrechtmäßigen Inhaftierung. Der Europäische Gerichtshof hatte mehrere Beschlüsse zu Klagen aus Russland gefasst, wonach die Gerichte stets den Forderungen der Untersuchungsrichter und -beamten nachkommen und Menschen in U-Haftanstalten schicken. Die Auswahl der Grundlagen für solch eine Maßnahme ist stets eine standardgemäße – ein Paragraf der Strafprozessordnung.

Eines der brisantesten Probleme ist die Ausübung von Druck mit Hilfe dieser Maßnahme auf Unternehmer. Eine andere, noch angreifbarere Kategorie sind die Bürger, die die Offiziellen als politische Opponenten ansehen. Gewöhnlich geht es darum, dass diese Bürger Standpunkte äußern, die mit dem einen oder anderen Standpunkt des Staates auseinandergehen. Der EGMR hatte stets die Position vertreten, wonach der Staat, der sich als ein Rechtsstaat bezeichne, den Bürgern eine Kritik der Staatspolitik nicht verbieten und umso mehr sie nicht für die bekundete Meinung hinter Gitter stecken könne. Wir aber verlassen die Jurisdiktion des EGMR, und wir gehen leider von seinen Standards ab. Hier ist eines der letzten Beispiele: Der kommunale Abgeordnete Alexej Gorinow aus Moskau trat vor anderen Abgeordneten mit einer eigenen Haltung zur Situation in der Ukraine auf. Jetzt ist er dafür hinter Gittern.

Was für Grundlagen hatte es für die Auswahl gerade solch einer Sicherungsmaßnahme für ihn gegeben? Das Gericht hätte auch das ins Kalkül ziehen können, dass der Abgeordnete eine schwere Lungen-Krankheit überstanden hatte und einer speziellen Heilbehandlung bedarf. Aber es hatte dies voraussagbar nicht berücksichtigt. Und Gorinow wird keine Heilbehandlung erhalten.

Können wir unter Berücksichtigung einer derartigen Gerichtspraxis mit irgendeinem nationalen Gremium zur Verteidigung der Menschenrechte rechnen? Es ist eine rhetorische Frage.

Hier kann man sich auch an die Standards des Europäischen Gerichtshofs bei der Festlegung der Summen für Entschädigungen im Zusammenhang mit dem einer Person zugefügten materiellen und moralischen Schaden erinnern. Wenn der EGMR die Schuld des Staates konstatierte (und er hat dies aber nicht immer getan), so waren die Summen durchaus gewichtige. Zum Beispiel in Fällen dessen, dass die Anwendung einer Ordnungshaft als eine unrechtmäßige anerkannt wurde – von 5.000 bis 12.000 Euro.

Manchmal waren die Summen noch ernsthaftere. Unter anderem hatte der Europäische Gerichtshof 39 Betroffenen des Terroraktes von Beslan im Jahr 2004 und deren Verwandten eine Wiedergutmachung in einer Höhe von 360.000 Euro zugestanden. Dies war nicht die erste Entscheidung zu Klagen von Ex-Geiseln und deren Nächsten. Im Jahr 2017 hatte das Strasburger Gericht entschieden, 409 Antragstellern über drei Millionen Euro auszuzahlen. Ja, der Europäische Gerichtshof hat unseren Staat für die Fehler bei der Durchführung der Operation zur Befreiung der Geiseln und die ineffiziente Untersuchung und Aufklärung des Geschehens für verantwortlich erklärt. Gerade dazu hatten die Betroffenen geklagt. Und ich kann mir vorstellen, dass irgendwer sehr bedauert, dass der Staatshaushalt solche Ausgaben verkraften musste. Aber mag derjenige dies direkt den dreihundert Müttern aus Nordossetien, die ihre Kinder vor 18 Jahren verloren haben, ins Gesicht sagen.

Was für Entscheidungen fällen aber in derartigen Fällen unsere Gerichte? Nach Beispielen muss man nicht lange suchen. Da gibt es solch einen der jüngsten Kassationsbeschlüsse des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, der im Mai dieses Jahres im Zusammenhang mit der Entscheidung von Gerichten unterer Ebene gefasst wurde. Letztere hatten (dies sei unterstrichen) dem Antragsteller Recht gegeben. Er hatte sich in einem Straflager befunden und beklagte sich unter Anführung konkreter Tatsachen über das Fehlen einer Belüftung in den Zellen, eine unzureichende Beheizung und Beleuchtung, eine extrem spärliche Verpflegung usw. Das sind bekannt Sachen in russischen Gefängnissen und Straflagern. Ein Gericht erkannte seine Klage als eine berechtigte an, was ein äußerst seltener Fall ist. Und es wurde eine Wiedergutmachung festgelegt. In einer Höhe von 5.000 Rubel (heute umgerechnet weniger als 90 Euro)! Die Berufungsinstanzen haben sie bis auf 35.000 angehoben.

Ja, das Oberste Gericht hat ausgehend von seinem gewundenen Beschluss scheinbar auch diese Summe als eine nicht ganz adäquate anerkannt. Doch es hat dazu nichts klar in der Entscheidung gesagt.

Ja, ebenso! Und wir haben uns aus der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs verabschiedet. Einige Staatsbeamte (die möglicherweise weder an die eigene Geldbörse noch an ein Gefängnis glauben) können sich freuen.