Die Gerichtsverhandlungen im Fließbandverfahren dauern in Weißrussland bereits mehr als ein halbes Jahr an, und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Ordnungsstrafen wurden schrittweise durch eine strafrechtliche Verfolgung aller, die mit der Politik der Offiziellen nicht einverstanden sind, abgelöst. Gegenwärtig fangen die spektakulärsten Strafverfahren an, in die Gerichte zu kommen.
Am Mittwoch hat der Gerichtsprozess gegen den bekannten weißrussischen oppositionellen Aktivisten und Christdemokraten Pawel Sewerinez begonnen. Zusammen mit ihm stehen weitere sechs Personen vor dem Richter. Vier (Jewgenij Afnagel, Andrej Woinitsch, Pawel Juchnewitsch und Maxim Winjarskij) sind ebenfalls langjährige Oppositionelle. Sie sind Aktivisten der Bürgerbewegung „Europäisches Belarus“. Wie Pawel Sewerinez haben sie auch Verhaftungen und Repressalien bei den vergangenen Wahlkampagnen durchgemacht. Jewgenij Afnagel war sogar gezwungen gewesen, nach den Wahlen von 2010 fünf Jahre in der Emigration zu verbringen. Er ist der älteste von den vier und 42 Jahre alt. Der jüngste ist Pawel Juchnewitsch. Er ist 36. Erfahrungen aus gesellschaftspolitischen Aktivitäten hat auch die 33jährige Irina Stschastnaja. Aber bisher hatte es in deren Rahmen keine Verhaftungen und andere Formen einer politischen Verfolgung gegeben. Dieses Mal hat sich Irina dadurch schuldig gemacht, dass sie Telegram-Kanäle als Administrator verwaltete.
Dmitrij Koslow ist in dieser Runde derjenige mit den geringsten Erfahrungen. Er ist 31 Jahre alt und Autor des YouTube-Kanals „Grauer Kater“. Zu einem gesellschaftspolitischen Aktivisten wurde er im Jahr 2017 auf der Welle der Protestaktionen gegen das Dekret über Faulenzer (das Dokument verpflichtete, die offiziell nichtarbeitenden Weißrussen, eine Steuer zu zahlen, da sie nicht arbeiten). In der Präsidentschaftswahlkampagne des vergangenen Jahres arbeitete er mit dem erfahreneren und bekannten Blogger Sergej Tichanowskij zusammen.
Alle Angeklagten dieses Verfahrens sind als politische Häftlinge anerkannt worden. Der Prozess gegen sie findet im Mogiljower Gebietsgericht statt. Am Vorabend war bekanntgegeben worden, dass er hinter verschlossenen Türen erfolgen werde. In der Kanzlei des Gerichts erklärte man dies damit, dass Materialien des Falls zu Geheimnissen gehören würden, die durch das Gesetz geschützt werden. Man wirft ihnen die Organisierung und Teilnahme an Massenunruhen vor, Jewgenij Afnagel – auch noch die Ausbildung von Personen für eine Teilnahme an Massenunruhen. Dmitrij Koslow soll entsprechend dem Artikel des weißrussischen Strafgesetzbuches „Organisierung oder aktive Teilnahme an Gruppenhandlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen“ zur Verantwortung gezogen werden.
Interessant ist, dass man die Angeklagten zu unterschiedlicher Zeit festgenommen hatte. Und anfangs hatten sie mehrere Tage Haft entsprechend von Ordnungsstrafverfahren bekommen. Pawel Sewerinez beispielsweise war bereits am 7. Juni nach einem Auftritt bei einer genehmigten Mahnwache zur Sammlung von Unterschriften neben dem Komarowskij-Markt im Herzen der weißrussischen Hauptstadt festgenommen worden. Anfangs bestand seine Schuld in der Teilnahme an einer nichtsanktionierten Massenveranstaltung, wofür er 15 Tage Ordnungsstrafhaft erhielt. Die Anzahl der Haft-Tage nahm allmählich zu. Und als sie die 75 erreichte, wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Etwa um die gleiche Zeit, am 10. Juni, war auch Dmitrij Koslow festgenommen worden. Zuerst war er ebenfalls Angeklagter in einem Ordnungsstrafverfahren. Die Aktivisten aus der Bewegung „Europäisches Belarus“ Woinitsch, Juchnewitsch und Afnagel verhaftete man 25. September, Stschastnaja – am 18. November und Winjarskij – im Januar.
Der Öffentlichkeit sind keinerlei Angaben darüber vorgelegt worden, worin die kriminellen Handlungen der Angeklagten bestanden. Einheimische Beobachter vermuten, dass der Prozess gerade aus dem Grunde zu einem unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht worden ist, dass es sie einfach nicht gibt. Die Aktivisten mit Erfahrungen und Führungsqualitäten hat man isoliert, um die Protestaktivitäten einzudämmen. Sie auf freien Fuß zu lassen, ist auch nicht möglich, da nach Einschätzungen von Experten die Einstellung der Proteste kein Nichtvorhandensein von Proteststimmungen bedeute. „Auch wenn sich jetzt die Situation irgendwo stabilisiert hat, ist der Hass gegenüber den Herrschenden seitens ihrer Gegner und deren Anzahl auf einem weitaus höheren Level. Es kann da über keinerlei innere Balance oder eine Legitimität die Rede sein“, charakterisiert der politische Analytiker Artjom Schraibman die Situation in Weißrussland. „Die ist ein Regime des Wartens auf ein neues Fenster von Möglichkeiten. Die Offiziellen fühlen, dass der Protest auf dieses Fenster wartet. Daher können sie die Repressalien nicht einstellen. Es ist schrecklich, aus der Spur zu geraten, in der alles klar ist und außerhalb der das Unbekannte ist“, schreibt der Experte auf seinem Telegram-Kanal.
Übrigens, die These vom gedämpften Charakter der Proteste bestätigend, sind erneut junge Frauen in weißer Kleidung auf die Straße gekommen. Am Mittwoch waren genau neun Monate ab dem Tag vergangen, an dem junge Frauen in Weiß den Startschuss zu den großangelegten und langen Protesten aus Protest gegen die beispiellose Gewalt in den ersten Tagen nach den Wahlen gegeben hatten. Jetzt ist diese Aktion an der gleichen Stelle und in der gleichen Art und Weise wiederholt worden. Zum Komarowskij-Markt im Herzen der weißrussischen Hauptstadt sind zwanzig junge Frauen in Weiß und mit weißen Blumen gekommen. Sie schafften es, die Blumen auf den Boden zu legen und zu verschwinden, bevor dort Männer in Schwarz erschienen.
Der Protest ist nicht erloschen. Er ist lediglich mit Waffengewalt niedergeschlagen worden. Deshalb hören die Repressalien nicht auf. Und die Gerichte verhängen Urteile im Fließbandverfahren, konstatieren Analytiker. Wobei die Offiziellen, nachdem sie bereits im Herbst begriffen hatten, dass mehrere Tage Ordnungsstrafhaft den Weißrussen schon keine Angst machen, zu Strafverfahren übergegangen sind. „Die strafrechtliche Verfolgung bleibt eine der Formen von Intoleranz der weißrussischen Herrschenden gegenüber jeglichen Erscheinungen von Protest“, konstatieren die Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums „Wesna“ in ihrem Monitoringsbericht. Laut ihren Angaben sind über eintausend Menschen Angeklagte laut Strafverfahren im Zusammenhang mit den Protesten. 360 sind als politische Häftlinge anerkannt worden. Fast 200 sind bereits verurteilt worden, wobei die Hälfte von ihnen im April. Dabei enden 100 Prozent der Fälle mit einem Freiheitsentzug oder eine Einschränkung der Freiheit.
Allmählich erreichen andere spektakuläre Fälle die Gerichte, mit einer größeren Anzahl von Angeklagten und verschwommenen Anklagen. Neben dem Verfahren von Pawel Sewerinez beginnt am 14. Mai im Gericht des Oktjabrskij-Stadtbezirks von Minsk der „Studentenprozess“. 12 Angeklagten wird der Prozess gemacht. Man wirft ihnen „Gruppenhandlungen vor, die die öffentliche Ordnung grob verletzten und mit einer offenkundigen Missachtung der legitimen Forderungen der Machtvertreter verbunden sind sowie eine Störung der Arbeit von Einrichtungen und des Transportwesens nach sich zogen“. Es geht um die Studentenproteste des vergangenen Herbstes. Auf der Anklagebank werden Studenten verschiedener weißrussischer Hochschulen, das Mitglied des Koordinationsrates Alana Gebremariam und Olga Filattschenkowa, eine Lehrerin der Weißrussischen Staatsuniversität für Informatik und Funkelektronik, sitzen.
Bisher ist nicht mitgeteilt worden, ob die Offiziellen planen, den „Studentenprozess“ hinter verschlossenen Türen durchzuführen. Man kann jedoch nichts ausschließen. Beispielsweise hat am Mittwoch in Brest auch ein Prozess gegen einen der Beteiligten des „Awtuchowitsch-Falls“ (über Terrorismus) unter Ausschluss der Öffentlichkeit begonnen. Auf der Anklagebank ist Wladimir Gundar, ein Invalide der 2. Gruppe. Seinen Fall hatte man ausgeklammert und behandelt ihn gesondert, da er während der Hausdurchsuchung die Untersuchungsbeamten bedroht und sein Telefon demoliert hatte. Über die Ursachen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit bei diesem Prozess wird nichts mitgeteilt. Am Mittwoch wurde ebenfalls bekannt, dass der Prozess gegen Sergej Tichanowskij, den persönlichen Feind von Alexander Lukaschenko (der den weißrussischen Staatschef entsakralisierte, indem er ihn als eine schnurbärtige Kakerlake bezeichnete), in Gomel stattfinden wird. Der Termin ist bisher nicht festgelegt worden. Aber zusammen mit ihm wird auch ein langjähriger Politiker und Ex-Präsidentschaftskandidat Nikolaj Statkjewitsch, der schon früher politischer Häftling gewesen war (nach den Wahlen von 2010), auf der Anklagebank sitzen. Vor dem Hintergrund dessen, dass täglich in verschiedenen Städten Weißrusslands mindestes fünf Prozesse gegen Teilnehmer von Protestaktionen stattfinden, wird jedoch die Hoffnung der Offiziellen nicht aufgehen, dass die Gerichtsverhandlung gegen Tichanowskij und Statkjewitsch ohne viel Beachtung über die Bühne gehen wird. Allein Ehefrau und Ex-Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja wird alles daran setzen, dass der zu erwartende Schauprozess auch international Wellen schlagen wird.