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Die Weißrussen wollen keinen Einheitsstaat mit Russland


Lediglich ein Drittel der Einwohner der weißrussischen Städte würden gern Alexander Lukaschenko als Präsidenten sehen. Sie vertrauen insgesamt wenig den staatlichen Behörden, fühlen sich nicht in Sicherheit und würden gern gleichartig gute Beziehungen sowohl mit Europa als auch mit Russland haben. Der Politisierungsgrad der Bevölkerung verringert sich, wenn auch langsam.

Der sich in Haft befindliche Ex-Banker Viktor Babariko ist unter den Weißrussen genauso populär wie auch Alexander Lukaschenko. Sowohl den einen als auch den anderen würden gern 30 Prozent der Bürger, die an einer Befragung von Chatham House (Royal Institute of International Affairs, Großbritannien) teilgenommen hatten, als Präsidenten sehen. Jedoch hat sich die Popularität von Viktor Babariko im Vergleich zu einer vorangegangenen Umfrage, die im Juli 2021 erfolgte, um drei Prozentpunkte verringert, aber die von Lukaschenko hat zugenommen – um zwei Prozentpunkte. Im Sommer hatte der Ex-Bankier Lukaschenko mit fünf Prozentpunkten hinter sich gelassen. Die Anführerin der demokratischen Kräfte Weißrusslands, Swetlana Tichanowskaja, wollen zehn Prozent der Befragten als Staatsoberhaupt sehen, ihren Ehemann Sergej Tichanowskij, der zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, sieben Prozent. Dabei haben 22 Prozent der Befragten keinen der gegenwärtigen Politiker ausgewählt.

Die Untersuchung belegt, dass die meisten Weißrussen sich in ihrem Land nicht in Sicherheit fühlen und den staatlichen Institutionen nicht vertrauen. Den staatlichen Medien misstrauen 62 Prozent der Bevölkerung, der Zentralen Wahlkommission – 55 Prozent, den Gerichten – 51 Prozent, den örtlichen Machtorganen und der Miliz – 50 Prozent, den Organen der Staatssicherheit – 48 Prozent, der Regierung – 47 Prozent und dem Präsidenten – 46 Prozent.

Die Umfrage wurde vor den Ereignissen in Kasachstan durchgeführt. Und das geringste Misstrauen wurde gegenüber der Armee bekundet. Ihr entsagten 37 Prozent der Befragten das Vertrauen. Im Vergleich zur analogen vorangegangenen Befragung hat sich das Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden nicht stark verändert, obgleich es auch um ein paar Prozentpunkte zurückgegangen ist. Zugenommen hat das Misstrauen nur gegenüber den Organen der Staatssicherheit.

Fast die Hälfte der Befragten – 48 Prozent – fühlt sich in Weißrussland nicht in Sicherheit. Dies sind lediglich vier Prozentpunkte weniger als im vergangenen Sommer. Die Umfrage hat auch die Anhänger und Gegner der Herrschenden segmentiert. So fühlen sich unter ihren Opponenten 87 Prozent nicht in Sicherheit. Dagegen verspüren 93 Prozent der Anhänger Lukaschenkos eine Existenzsicherheit. Die Empfindungen der Weißrussen sind insgesamt keine sehr positiven. 70 Prozent sind der Auffassung, dass sich ihre materielle Lage im vergangenen Jahr verschlechtert habe. 55 Prozent sind der Annahme, dass das Land mit der Pandemie nicht fertig werde (im Sommer waren es 46 Prozent). Und genauso viele Befragte leben in der Erwartung einer baldigen Wirtschaftskrise.

Die Weißrussen sind in ihrer Mehrheit nach wie vor gegen die Repressalien und für neue ehrliche Wahlen. 60 Prozent haben sich in der Chatham-House-Untersuchung dafür ausgesprochen. 68 Prozent sind noch für eine ehrliche Aufklärung der Gewaltakte seitens der Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane, 58 Prozent – für eine Freilassung der politischen Häftlinge. Die Untersuchung zeigt jedoch, dass sich der Politisierungsgrad in der Gesellschaft langsam verringert und vor allem durch Ungewissheit und Apathie ersetzt wird. Zum Beispiel ist die Zahl derjenigen, die für die Forderung nach einer ehrlichen Aufklärung der Gewaltakte eintreten, um zehn Prozentpunkte zurückgegangen. Dafür erhöht sich die Zahl derjenigen, die sich mit der Beantwortung von derartigen Fragen schwertun bzw. Angst haben, sie zu beantworten.

In der Umfrage gab es einen Block, der die internationalen Kontakte und Beziehungen mit einzelnen Ländern tangierte. Wie die Antworten auf die Fragen dieses Blocks belegen, stehen die Weißrussen sowohl dem Westen als auch dem Osten gut gegenüber. Die Mehrheit – 39 Prozent – plädiert dafür, dass die Beziehungen sowohl mit der EU als auch mit Russland gleichermaßen gute sind. Allerdings treten für eine Union mit Russland aktiver die Anhänger der Herrschenden auf – 65 Prozent. Unter ihnen sind übrigens acht Prozent jener, die sich mit dem östlichen Nachbarn gern zu einem Staat vereinigen würden. Während es unter den Opponenten der Herrschenden keine solchen gibt. Dabei sind sie nicht der Meinung, dass das Land der EU beitreten müsse. Dies denken 27 Prozent der Gegner von Alexander Lukaschenko. Wenn man über die Weißrussen insgesamt spricht, so sind die meisten von ihnen (41 Prozent) dafür, dass es mit Russland einen gemeinsamen Wirtschaftsraum gibt, aber ohne eine politische Vereinigung. Wobei sich im Vergleich zum Sommer die Anzahl der Anhänger solch eines Standpunkts um vier Prozent erhöhte. Die Zahl derjenigen, die zu einem Beitritt zur Russischen Föderation bereit sind bzw. ihm zustimmen, ist in dieser Zeit von neun auf vier Prozent zurückgegangen.

Wenn von den Befragten insgesamt gesprochen wird, so bleibt ihre Haltung gegenüber Russlands Präsidenten eine positive und ändert sich praktisch nicht. Als eine sehr gute oder vor allem gute hatten sie im November 57 Prozent der Befragten bezeichnet. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Sommer-Umfrage hatte sich die Zahl nicht verändert. Wenn man sich jedoch die segmentierten Umfrageergebnisse anschaut, wird deutlich, das eine gute Haltung bei den Anhängern des herrschenden Regimes besteht – 90 Prozent, während 69 Prozent der Gegner der Offiziellen dem russischen Präsidenten schlecht oder sehr schlecht gegenüber stehen.

Was die militärischen Bündnisse angeht, so sind die Weißrussen mehrheitlich für eine Neutralität – 63 Prozent. Im Vergleich zum Sommer ist die Zahl derjenigen, die den neutralen Status des Landes unterstützen, um sechs Prozentpunkte gestiegen. Dabei haben die Weißrussen begonnen, sich immer negativer zur Möglichkeit der Einrichtung russischer Luftwaffenstützpunkte auf dem Territorium Weißrusslands zu äußern (48 Prozent im November 2021 im Vergleich zu 39 Prozent im Juli 2021).

Bei der Bilanzierung der Umfrageergebnisse betonen die Autoren, dass die machttreuen Politiker ein geringes Popularitätsrating hätten. Und die negativen Ratings würden äußerst hohe bleiben, obgleich sie sich im Vergleich zum Juli letzten Jahres etwas verringert hätten. Die Popularitätsratings der Anführer des Protests sind erheblich höher als die der Politiker, die die herrschenden Offiziellen unterstützen.

„Die Autoren der Untersuchung unterstreichen, dass sie unter Stadtbewohnern durchgeführt wurde (an ihr haben 767 Befragte teilgenommen). Und dies bedeutet, dass die Ergebnisse repräsentativ für den städtischen Teil der weißrussischen Gesellschaft sind. Es muss berücksichtigt werden, dass die Unterstützung für Lukaschenko und seine Politik etwas größer sein kann, als in der Umfrage deutlich wird“, warnen die Autoren. Andererseits habe der Angstfaktor die Antworten auf einige politische Fragen beeinflusst, der sich in Weißrussland verstärke. Und dies hätte wahrscheinlich eine Verringerung der wahrhaftigen Antworten auf die Fragen hinsichtlich einer Unterstützung des Protests und der Haltung zu den Führern der Opposition bewirkt.