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Die Weißrussen wollen sich nicht unter Panzer werfen


Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin haben sich mit Videobotschaften an die Teilnehmer des Forums der Regionen Weißrusslands und Russlands, das am Freitag im weißrussischen Grodno zu Ende gegangen ist, gewandt. Jedes gemeinsame Statement beider Staatsoberhäupter wird von Diskussionen über die Wahrscheinlichkeit eines Beitritts von Weißrussland zur russischen Sonderoperation begleitet. Derweil hat sich am Mittwoch noch eine Einheit aus Weißrussen – das Regiment „Pogonja“ (deutsch: „Verfolgungsjagd“) den Streitkräften der Ukraine angeschlossen. Ergebnisse von Meinungsumfragen zeigen: Die Mehrheit der Einwohner der Republik will Stabilität.

In Grodno fand vom 30. Juni bis 1. Juli das IX. Forum der Regionen Russlands und Weißrusslands statt. Putin und Lukaschenko nahmen an ihm per Videokonferenzschaltung teil. Jede gemeinsame Erklärung der beiden Staatsoberhäupter wird heutzutage mit besonderer Aufmerksamkeit erwartet und löst Expertendiskussionen und Spekulationen hinsichtlich der Möglichkeit eines Beitritts von Minsk zur russischen Sonderoperation in der Ukraine aus.

Dieses Mal aber wurden sie dadurch provoziert, dass im Vorfeld des Forums Manöver in Weißrussland abgehalten wurden. Der Pressedienst des Verteidigungsministeriums teilte mit: „Entsprechend dem Ausbildungsplan des Nordwestlichen operativen Kommandos erfolgt im Zeitraum vom 28. bis einschließlich 30. Juni 2022 unter Führung des Kommandierenden der Truppen des Nordwestlichen operativen Kommandos, Generalmajor Alexander Naumenko, eine Kommando-Stabsübung mit der 19. Einzelnen mechanisierten Garde-Brigade statt. Thema des Manövers ist: „Leitung von Truppenteilen und Einheiten der Brigade im Verlauf der Führung von Kampfhandlungen bei einer Verteidigungsoperation““.

Derweil haben in der Ukraine die Teilnehmer einer neuen Kampfeinheit, die aus Weißrussen besteht, — des Regiments „Pogonja“ – den Fahneneid abgelegt. Sie haben den offiziellen Status von Militärangehörigen der Internationalen Legion der ukrainischen Streitkräfte erhalten. Der Organisator dieser Einheit ist der einstige Gastronom Wadim Prokopjew. Er erklärt, dass man in Polen nach einer strengen vorherigen Auswahl der Formation beitreten könne.

Es sei daran erinnert, dass eine andere weißrussische Einheit – das Kastus-Kalinouski-Regiment – bereits am 25. März in den Bestand der ukrainischen Streitkräfte integriert wurde und es geschafft hat, an einer Reihe von Gefechten teilzunehmen. Zwischen den beiden Einheiten gibt es eine gewisse Konkurrenz. Die Vertreter beider deklarieren aber, dass ihr Hauptziel ein bewaffneter Sturz der gegenwärtigen weißrussischen Herrschenden sei.

Laut Angaben jüngster Meinungsumfragen genießen jedoch die Herrschenden das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit. Dies betrifft sogar den potenziell am stärksten auf Protest eingestellten Teil der Gesellschaft – die jungen Menschen. Die überwältigende Mehrheit ist stolz auf die weißrussische Staatsbürgerschaft. Solche Informationen legte am 28. Juni der Vertreter des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Weißrusslands, Nikita Browtschuk, bei einer Präsentation von Ergebnissen der Studie „Patriotische Werte der Bevölkerung der Republik Belarus vor.

Der Politologe Andrej Lasutkin kommentierte sie so für die Nachrichtenagentur „Minsk-Nachrichten“: „Ich denke, dass die Umfrage eine durchaus adäquate ist, und die Zahlen, die wir erhalten haben, entsprechen dem Bild, das wir heute auf der Straße sehen. Wenn es keine Protesterscheinungen gibt, wenn alle aktiven sozialen Gruppen – dies sind sowohl die jungen Menschen als auch die mittlere Altersgruppe – den Herrschenden gegenüber loyal sind. Selbst jene, die vor zwei Jahren dagegen waren, akzeptieren gewisse Spielregeln, wobei sie sagen: Ja, wir halten die Gesetze ein, wir gehen nicht auf die Barrikaden, wir erfüllen das, was man von uns verlangt. Und wir arbeiten ruhig. Das heißt: Die Gesellschaft ist vom Prinzip her normalisiert worden“.

Der Experte ist der Auffassung, dass die Beispiele der Konflikte im postsowjetischen Raum und ihr Vergleich mit den Ereignissen des Jahres 2020 in Weißrussland die Menschen veranlassen würden, ihre Perspektiven neu zu durchdenken. „Das, was damals gewesen war, dies war anschaulich gewesen. Da hat es den Versuch eines Umsturzes gegeben. Da, in Kasachstan, wo der Umsturz fast geklappt hatte und Truppen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit eingesetzt werden mussten. Ja, aber da ist die Variante der Ukraine, wo keinerlei Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit helfen wird. Dort spielt sich ein heißer Konflikt ab. Die Ursache ist aber genau solch eine wie in Belarus. Ja, diese Kette von Ereignissen hat sich recht schön und logisch herausgebildet“.

Charakteristisch ist, dass die Angaben dieser von einer offiziellen Institution organisierten Umfrage insgesamt nicht unabhängigen Untersuchungen widersprechen. Am Vorabend war die von europäischen Strukturen unterstützte Untersuchung „Der weißrussischer Trigger von Veränderungen“ vorgelegt worden. Einer ihrer Autoren, der assoziierte Analytiker des Europäischen Rates für internationale Angelegenheiten, Pawel Sljunkin, betont: „Fräger gab es eine klare Abgrenzung des Regimes und des Volkes. Aber nach dem 24. Februar hat man begonnen, die Weißrussen als Aggressoren wahrzunehmen. Dies führte einerseits zu einer Enttäuschung unter den oppositionell eingestellten Weißrussen. Andererseits hat der Westen begonnen, sich für die Lösung seiner pragmatischen Ziele an Lukaschenko zu wenden (wie beispielsweise UN-Generalsekretär António Guterres in der Situation mit der Ausfuhr ukrainischen Getreides). Mehr noch, der Fokus der Aufmerksamkeit hat sich zur Ukraine verlagert, obgleich die Repressalien in Weißrussland weiterhin verstärkt werden“. Die Widersprüche zwischen den Anhängern und Gegnern der Herrschenden würden sich nach Meinung des Experten in dieser Situation nur zuspitzen. Sie würden sich aber in keiner Weise auf Straßen und Plätzen äußern.

Diese „Normalisiertheit“ der weißrussischen Gesellschaft löst Vorwürfe seitens vieler Vertreter der ukrainischen Gesellschaft aus. Jedoch selbst die Oppositionellen halten sie für nichtadäquate. Dieser Tage veröffentlichte das Internetportal „Charta 97“ eine Zusammenstellung ihrer Äußerungen. So reagiert beispielsweise expressiv die Menschenrechtlerin Alexandra Swerjewa, die Gründerin von „Voices From Belarus“: „Nicht alle Weißrussen sind zu den Protesten gekommen. Und nicht alle Ukrainer sind den Reihen der Freiwilligen beigetreten. Der eine oder andere hat das Land gar am ersten Tag verlassen. Was werden wir da also tun? Einander Vorwürfe vorbringen? Ernsthaft? Das heißt, die Weißrussen haben Schuld, dass sie sich nicht unter einen Panzer gelegt haben? Die Ukrainer haben Schuld, dass sie sich auch nicht unter einen Panzer gelegt haben? Sie fordern aber dies von den Weißrussen… Ich habe keinerlei moralisches Recht, Ratschläge zu geben. Wenn Sie aber bitten: Tun Sie das, was Sie können. Helfen Sie so, wie Sie helfen können… Ich fahre nicht nach Belarus. Ich werde mich nicht unter einen Panzer legen. Dafür bitte ich bei allen um Vergebung, die gerade jetzt unter ihm liegen“.