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Die Werchowna Rada will sich um die patriotische Erziehung der Bürger kümmern


In der Ukraine kann eine neue Behörde im System der Staatsmacht gebildet werden, zu der es bisher nichts Analoges gegeben hat – die Nationale Kommission zu Fragen der Durchsetzung der ukrainischen nationalen und Bürgeridentität. Dies wird durch einen Gesetzentwurf vorgesehen, den dieser Tage Abgeordnete verschiedener Fraktion der Werchowna Rada (des Landesparlaments – Anmerkung der Redaktion) registriert haben. Lediglich Mitglieder der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ unterstützen derartige Initiativen nicht.

Die Autoren der Gesetzesvorlage, unter denen auch Vertreter der regierenden Partei „Diener des Volkes“ sind, erklärten, warum gerade jetzt nach ihrer Meinung dieses Problem zu einem aktuellen geworden sei: „Die Existenz und das Prosperieren des ukrainischen Staates sind ohne ein generelles Begreifen ihrer Bürgeridentität durch die Bürger unmöglich, deren Quellen eine Selbstidentifikation mit dem ukrainischen Volk sind…“. Die Sprache, die Kultur, die nationalen Traditionen – all dies müsse, wie die Autoren meinen, patriotische Gefühle erziehen und als ein vereinigender Ansatz für die ukrainische Gesellschaft dienen.

Die Idee ist nicht neu: In der Ukraine gelten derzeit dutzende Dokumente – Gesetze, Regierungsbeschlüsse, staatliche Strategien und Programme, die auf die eine oder andere Weise verschiedene Aspekte der patriotischen Erziehung betreffen. Die Abgeordneten selbst zählen diese Dokumente auf, wobei sie mit den neuen Gesetzen über die Bildung und die Staatssprache beginnen. Sie kommen aber zu dem Schluss, dass „in den Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine die Frage nach der Durchsetzung der ukrainischen nationalen und Bürgeridentität nur verstreut und fragmentarisch in der Gesetzgebung reflektiert wurde, die die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens regelt. Der Bedarf an einer komplexen und systematischen Regulierung der ausgewiesenen Fragen ist nach 2013 erheblich aktualisiert worden, als mehrere Regionen der Ukraine einer militärischen Aggression ausgesetzt wurden und durch die Russische Föderation okkupiert worden sind“.

Die Gesetzesvorlage ist auch so überschrieben – „Über die Grundprinzipien der Staatspolitik im Bereich der Durchsetzung der ukrainischen nationalen und Bürgeridentität“. Erklärt wurde, dass Bestandteile dieser Politik die national-patriotische Erziehung der Bürger, die militär-patriotische Erziehung und die zivile Ausbildung seien. Im Gesetzentwurf sind interessante Definitionen enthalten: „Die ukrainische Bürgeridentität ist das stete Begreifen seiner politischen und rechtlichen Verbindung mit der Ukraine, dem ukrainischen Volk und der Zivilgesellschaft durch den Bürger der Ukraine und Auslandsukrainer. Die ukrainische nationale Identität ist das stete Begreifen der Zugehörigkeit durch eine Person zur ukrainischen Nation als eine eigenständige Gemeinschaft, die durch den Namen, Symbole, die geografische und ethno-soziale Herkunft, die historischen Erinnerungen sowie durch einen Komplex geistig-kultureller Werte, darunter der ukrainischen Sprache und die Volkstraditionen vereint wird“.

Vorgeschlagen wird, ein neues Staatsorgan zu bilden – eine Nationale Kommission zu Fragen nach der Durchsetzung der nationalen und Bürgeridentität, die den Status eines Zentralorgans der exekutiven Gewalt erhalten wird. Die Tätigkeit dieser Kommission soll das Ministerkabinett der Ukraine koordinieren. Im Wortlaut der Gesetzesvorlage wird außerdem ein Koordinierungsrat zu Fragen der Identität als ein „ständig wirkendes Konsultations- und Beratungsorgan, das beim Ministerkabinett der Ukraine und der örtlichen exekutiven Machtorgane gebildet wurde“, erwähnt. Diese Strukturen sollen die Staatspolitik gestalten, als deren Aufgaben „die Ausprägung … einer aktiven staatsbürgerlichen Haltung bei den Bürgern der Ukraine, eines Verteidigungsbewusstseins und einer staatsbürgerlichen Standhaftigkeit, von Patriotismus sowie Achtung gegenüber den Staatssymbolen und gesellschaftlichen und staatlichen (nationalen) Werten der Ukraine“ genannt worden sind.

Zu einzelnen Aufgaben sollen entsprechend der Absicht der Autoren „die Beseitigung des Einflusses des Aggressor-Staates im Informations-, Bildungs- und Kulturbereich der Ukraine“, aber auch „die Ausprägung der Bereitschaft der Bürger zur Erfüllung der Verfassungspflicht hinsichtlich der Verteidigung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine“ werden. In diesem Abschnitt des Gesetzentwurfs werden auch Vertreter anderer Völker erwähnt, die im Land leben. Die Abgeordneten stellen sich das Ziel, „eine Entwicklung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenständigkeit aller indigenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine zu gewährleisten“.

Die großangelegte Gesetzesvorlage soll von der Idee her alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassen. Beispielsweise wird vorgeschlagen, das obligatorische Lehrfach „Schutz der Ukraine“ in die Schulausbildung einzuführen. Viel Augenmerk wird den Werten geschenkt, die zur Grundlage der Staatspolitik werden sollen. Gesagt wurde, dass die grundsätzlichen nationalen Werte der Ukraine „die Gemeinschaftlichkeit – die Einheit und Untrennbarkeit aller Territorien der Ukraine, die geistige Einheit der Ukraine, die auf dem Territorium der Ukraine leben, aber auch die Einheit aller Bürger der Ukraine, unabhängig von der Nationalität“, „die Eigenständigkeit – die nationale Identität, di Einmaligkeit, die Originalität…, die durch die Geschichte des ukrainischen Volkes, die Kultur, die Traditionen und die ukrainische Sprache bestimmt wird“, „der Wille — … das Streben, Ziele zu erreichen“, „die Würde – die Verteidigung seiner geistig-moralischen und staatlichen Positionen“ seien.

Nicht wenig wird gleichfalls über die Kriterien ausgesagt, entsprechend denen bestimmt wird, wie erfolgreich die staatliche Politik in diesem Bereich ist. Unter ihnen sind „die Zunahme der Zahl der Bürger, die stolz auf ihre ukrainische Herkunft und Staatsbürgerschaft sind“ und „die Verringerung der Zahl der Bürger, die für einen ständigen Aufenthalt im Ausland die Ukraine verlassen“. Diese und die anderen Kriterien, die in dem Gesetzentwurf angeführt worden sind, erlauben, darüber zu urteilen, was für ein merkwürdiges Dokument die Abgeordneten da vorbereitet haben.

Wie der wissenschaftliche Leiter der I-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“ Alexej Garan betonte, seien derzeit laut Meinungsumfragen 72 Prozent der Ukrainer stolz darauf, dass sie Bürger der Ukraine sind. „Im Jahr 2002 waren es etwas mehr als 40 Prozent gewesen. Das heißt: Dies ist ein kolossaler Sprung. Und dies ungeachtet all unserer Probleme, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, des Krieges… Die absolute Mehrheit (85 Prozent) teilt die gesamtnationale Identität, hält sich in erster Linie für Bürger der Ukraine (und nicht für die Einwohner einer einzelnen Landesregion – „NG“)“. Aber etwa genau solche eine Anzahl von Ukrainern ist gegenwärtig der Auffassung, dass sich das Land in einer falschen Richtung entwickele. Und dies ist bei weitem kein Problem des Fehlens einer staatsbürgerlichen Haltung oder nationalen Identität, sondern eine Bewertung für die Handlungen der Offiziellen.

Als die Abgeordneten die neue patriotische Gesetzesvorlage registrierten, veröffentlichte die Europäische Business-Assoziation die Ergebnisse einer Umfrage, die unter Unternehmern von Lwiw, Odessa, Charkow und Dnepr vorgenommen worden war. „In den meisten Regionen ist es derzeit für die Mehrheit der Unternehmer schwer zu arbeiten, obgleich im vergangenen Jahr zufriedenstellende Bewertungen dominierten. Unter den Faktoren, die die Entwicklung des Business hemmen, teilen die Korruption und die Bürokratie den ersten Platz“, heißt es zu den Umfrageergebnissen. Nach Meinung der einfachen Ukrainer (laut den Ergebnissen einer Umfrage des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie) würde sich im Land eine Wirtschaftskrise entwickeln, als deren Ursachen 42,1 Prozent die Korruption, 31,2 Prozent die Inkompetenz der Herrschenden, 12,1 Prozent die Coronavirus-Pandemie und nur 8,5 Prozent den Krieg im Donbass genannt hatten. Über die Hälfte der Befragten erklärten den Soziologen, dass sich in den letzten zwei Jahren die finanzielle Lage ihrer Familien verschlechtert habe. In dieser Situation reizt viele der Wunsch der Offiziellen, sich mit der patriotischen Erziehung der Bürger zu befassen. 47,3 Prozent der Ukrainer unterstützen die Idee vorgezogener Parlamentswahlen, 37,7 Prozent sind dagegen. Was vorgezogene Präsidentschaftswahlen angeht, so haben sich die Meinungen fast zu gleichen Teilen aufgeteilt: 43,4 Prozent wären dafür, 45,8 Prozent – dagegen.