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Die wichtigste Entscheidung für die Ukraine und der größte Schritt zur Verstärkung Europas


Die Präsidentin Moldawiens, Maia Sandu, ist am Montagvormittag überraschend zu einem Arbeitsbesuch in Kiew eingetroffen, der freilich nach ihrem Telefonat mit Amtskollegen Wladimir Selenskij in der vergangenen Woche erwartet wurde. Beide Staatsoberhäupter haben viele Fragen zu besprechen, die sowohl ihre Zusammenarbeit als auch Sicherheitsprobleme vor dem Hintergrund der seit 124 Tage erfolgenden russischen Sonderoperation in der Ukraine betreffen. Natürlich wird es gleichfalls um die geschichtsträchtige Entscheidung des EU-Gipfels gehen, der am 23. Juni beschlossen hatte, sowohl Moldawien als auch der Ukraine den Kandidatenstatus für eine Mitgliedschaft der Europäischen Union zu gewähren. Kein Grund zum großen Feiern, zumindest heute, denn Selenskij und Sandu wissen: Der Prozess des EU-Beitritts ist einer, der mehrere Hauptetappen umfasst: nach der Antragstellung und dem Erhalt des Kandidatenstatus langwierige Verhandlungen, die Ratifizierung der entsprechenden Verträge und die eigentliche Integration.

Verständlicherweise beobachtet man in Moskau mit großer Aufmerksamkeit diese Entwicklung, wobei die Reaktionen aufhorchen lassen, aber auch Befürchtungen auslösen. Zurückhaltend äußerte sich beispielsweise Kremlsprecher Dmitrij Peskow, der am Tag nach dem Brüsseler Beschluss erklärte: „Erstens sind dies natürlich interne europäische Angelegenheiten. Für uns ist sehr wichtig, dass diese Prozesse keine großen Probleme für uns und nicht mehr Probleme in den Beziehungen der erwähnten Länder mit uns“. Nach seinen Worten sei das Wichtigste, dass dies alles nicht zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen Russlands mit der EU führe, denn sie seien auch so schon ordentlich verdorben.

Nachdem man in Moskau wieder die Fassung zurückerlangt und erste Analysen abgeschlossen hatte, häuften sich die pessimistischen Stimmen. Die Vorsitzende des Föderationsrates, des russischen Oberhauses, Valentina Matwijenko bekundete die Gewissheit, das die Ukraine kein Mitglied der Europäischen Union in der nächsten Zukunft werde. Als einen der Gründe für diese Prognose nannte sie den Umstand, dass das Nachbarland, gegen das Russland derzeit aktive Kampfhandlungen führt, gar nicht den Aufnahmeanforderungen entsprechen würde. Und überdies würden die Millionen Ukrainer, die in den letzten Wochen und Monaten notgedrungen ihr Land verließen, keine Entwicklungsperspektiven sehen. „Wird die Europäische Union ein Land mit einer ruinierten Wirtschaft auf sich nehmen?“, resümierte sie. Entschiedener in seinen Erwartungen war ihr Stellvertreter Konstantin Kosatschjow. Auf Telegram schrieb er: „Die Entscheidung ist eine genauso demagogische wie auch sinnlose. Sie wird keinerlei praktische Konsequenzen außer zusätzliche Kanäle für die Finanzierung einer „Annäherung“ über Programme und Fonds. … Unter Berücksichtigung der realen, der katastrophalen Lage der Dinge in Bezug auf die politischen, wirtschaftlichen und humanitären Standards erlangen von nun an die „europäischen Standards“ in der Ukraine und in Moldawien wie das berühmte Bulgakow-Störfleisch den ewigen Status einer „aufgemöbelten Frische“ (Anspielung auf Kapitel 18 des Romans „Der Meister und Margarita“ – Anmerkung der Redaktion). Einen genauso ewigen wie auch der EU-Kandidaten-Status der Ukraine und Moldawiens“, prognostizierte Kosatschjow.

Doch am drastischsten waren die Vertreter aus dem russischen Außenministerium. Noch vor der Brüsseler Entscheidung bezeichnete Russlands ständiger Vertreter bei der EU, Wladimir Tschischow, den Prozess der Erweiterung der Europäischen Union als einen negativen, als einen vom Wesen der Sache her feindseligen in Bezug auf die nationalen Interessen Russlands. Und Klartext sprach am Freitag Außenminister Sergej Lawrow in Baku: „Wir haben wenige Illusionen, dass die derzeitige russophobe Aufladung der Europäischen Union sich auf irgendeine Art und Weise in der überschaubaren, und wenn man ehrlich ist, in der langfristigen Perspektive zurückgeht oder sich verändert. Dies ist aber ein Weg, den die Europäer gewählt haben. Ein Weg, der leider daran erinnert, als der Zweite Weltkrieg begonnen hatte und Hitler unter seinen Bannern einen erheblichen, wenn nicht den Großteil der europäischen Länder für einen Kampf gegen die Sowjetunion vereinte. … Ja, und jetzt bildet man, darunter auch die Europäische Union zusammen mit der NATO, solch eine, bereits heutige Koalition für einen Kampf und im Großen und Ganzen für einen Krieg gegen die Russische Föderation“, erklärte der russische Außenminister.

Völlig anders hat man in Kiew die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union über die Gewährung eines EU-Kandidaten-Status für die Ukraine bewertet, wobei diese Reaktion sich auch mit der aus Kischinjow deckt. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij nahm diese historische Brüsseler Entscheidung zum Anlass für eine Videobotschaft. Die Redaktion „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgend ihren Wortlaut in einer deutschsprachigen Übersetzung.

„Ich begrüße all unsere Freunde, alle Staats- und Regierungschefs, die Freunde der Ukraine sind! Ich begrüße alle, die die Freiheit unterstützen!

Gerade so hatte ich meine Ansprache vor dem Europarat noch am 24. März begonnen, vor drei Monaten, als ich Sie aufrief, uns zu unterstützen.

Und was für einen Weg haben wir in diesen drei Monaten zurückgelegt! Wir alle zusammen: die Ukraine, Ihre Staaten und insgesamt die Europäische Union.

Dieser Weg, dies ist keine Politik. Ich denke, dies ist das, von dem aus jetzt stets die Zeitzählung für eine neue Geschichte Europas erfolgen wird. Eines Europas ohne eine Aufteilung. Eines Europas ohne „Grauzonen“. Eines Europas, das wirklich vereint ist und sich, seine Werte und seine Zukunft verteidigen kann.

Heute haben Sie eine der wichtigsten Entscheidungen für die Ukraine in all den 30 Jahren der Unabhängigkeit unseres Staates gefällt.

Aber diese Entscheidung ist eine, meine ich, nicht nur für die Ukraine. Das ist der größte Schritt zur Stärkung Europas, den man gerade jetzt unternehmen konnte, gerade in unserer Zeit und gerade unter solchen schwierigen Bedingungen, unter denen der russische Krieg unsere Fähigkeit testet, die Freiheit und Einheit zu bewahren.

Am fünften Tag des großangelegten Krieges Russlands gegen die Ukraine reichten wir den Antrag auf einen Beitritt zur Europäischen Union ein. Wir haben sehr schnell und qualitätsgerecht den Fragenkatalog beantwortet, den wir von der Europäischen Kommission erhalten hatten.

Und heute ist dies das erwünschte Ergebnis. Ich möchte heute noch einmal bekräftigen, dass die Ukraine zu einem gleichberechtigten Mitglied der Europäischen Union werden kann.

Damals, vor drei Monaten, hatte ich mich an jedes Land der Europäischen Union gewandt und deutlich gemacht, in welcher Etappe wir, wie ich dachte, in unseren Beziehungen waren. Und heute möchte ich jedem und jeder von Ihnen persönlich das sagen, was unsere Menschen fühlen. Und in der gleichen Ordnung, wie dies auch damals der Fall war.

Litauen – für uns. Danke, Herr Präsident! Gitanas, Du weißt, wie sehr die Ukraine sowohl Deinem Volk als auch Dir persönlich dankbar ist.

Lettland – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich glaube daran, dass wir gemeinsam die internationale Rechtsordnung verstärken können.

Estland – für uns. Danke, Frau Premierministerin Kallas! Indem wir einem helfen, helfen wir allen. Estland hat sehr viel getan.

Polen – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ihr Staat, das Volk, Ihr Präsident – Sie alle sind mit uns auf diesem Weg nach Europa wirklich Brüder.

Frankreich – für uns. Danke, Emmanuel“ Du kannst Dir gewiss sein, dass Europa mit der Ukraine im 21. Jahrhundert wirklich unter den globalen Spitzenreitern sein kann.

Slowenien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich bin für die unablässige Verteidigung der gemeinsamen europäischen Sache dankbar.

Slowakei – für uns. Danke, Herr Premierminister! Wir müssen auch im Weiteren einander verteidigen. Dies macht uns wirklich zu starken.

Tschechien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich glaube, dass wir auch auf dem Weg zu einer gleichberechtigten EU-Mitgliedschaft der Ukraine zusammen sein werden.

Rumänien – für uns. Danke, Herr Präsident! Klaus, unsere Zusammenarbeit in der Region und in den europäischen Strukturen kann wirklich zu einer der Grundlagen für die globale Stabilität werden.

Bulgarien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich danke dafür, dass Sie, ohne zu schwanken die Seite des Guten in der Konfrontation eingenommen haben, die am 24. Februar begonnen hatte. Wir wissen, dass Sie es nicht leicht haben.

Griechenland – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich danke persönlich dem griechischen Volk, Ihrem Land, das ich sehr liebe.

Deutschland – für uns. Danke, Olaf! Ich danke für die Unterstützung im entscheidenden Moment.

Portugal – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ihr Land kennt unsere Menschen gut. Und ich bin gewiss, dass wir die positiven Bande zwischen uns nur forcieren werden.

Kroatien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich danke für die Hilfe in Form von Erfahrungen, die wir für die Verteidigung unserer Freiheit nutzen.

Schweden – für uns. Danke, Frau Premierministerin! Die Blau-Gelben sind wirklich immer zusammen!

Finnland – für uns. Danke, Frau Premierministerin! Ihre Bereitschaft, der Aggression Widerstand zu leisten, beeindruckt einfach!

Niederlande – für uns. Danke, Herr Premierminister! Sie können sich sicher sein, dass Ihre Entscheidung für die Ukraine bestimmt unsere gemeinsame europäische Freiheit, die Kraft des Rechts und unsere Einheit in der Vielfalt verstärken wird.

Malta – für uns. Danke, Herr Premierminister! Die Stimme Ihrer Insel macht die europäische Gemeinschaft zu einer vollkommenen.

Dänemark – für uns. Danke, Frau Premierministerin! Bezweifeln Sie nicht, dass die Verteidigung der europäischen Werte sich mit der Ukraine nur verstärken wird.

Luxemburg – für uns. Danke, Herr Premierminister! Wir verstehen uns wirklich einander, und Ihre Energie inspiriert uns zu künftigen Siegen.

Zypern – für uns. Danke, Herr Präsident! Ich danke für die Entscheidung zugunsten unserer Menschen und Werte.

Italien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Danke für Ihre Stärke, für Ihre Hartnäckigkeit. Danke, dass Sie beweisen, dass die Prinzipien anständiger Menschen wirklich das Fundament Europas sind.

Spanien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Ich glaube, dass wir unsere Beziehungen erheblich verstärken können.

Belgien – für uns. Danke, Herr Premierminister! Wir hoffen, nach unserem Sieg werden wir uns oft in Brüssel hinsichtlich der gemeinsamen europäischen Angelegenheiten treffen werden.

Österreich – für uns. Danke, Herr Kanzler! Ich bin mir sicher, wir werden Europa zu einem noch sicheren und historisch stabilen machen können.

Irland – für uns. Danke, Herr Premierminister! Dies ist eine historische Annäherung unserer Völker. Ihre persönliche Führungsrolle beeindruckt wirklich.

Ungarn – für uns. Danke, Herr Premierminister, danke, Viktor. Gemeinsam sind wir zu erheblich mehr als im Alleingang imstande!

Frau Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola! Wir sind Ihnen persönlich dankbar und dem Europäischen Parlament dankbar! Sie hatten als erste am nächsten Tag nach Einreichung des Antrags die Gewährung des Status eines kandidaten-Landes für die Ukraine unterstützt.

Herr Präsident des Europäischen Rates, lieber Charles! Frau Präsidentin der Europäischen Kommission, sehr geehrte Ursula, ich bin Ihnen beiden für die Führungsrolle dankbar, die uns all zu diesem Tag führte. Ich bin für die aufrichtige Hilfe dankbar, für den Glauben an die Ukraine, an die Ukrainer, an uns alle.

Ich habe stets gesagt, dass wir, die Ukrainer, an die Europäische Union glauben. Obgleich wir auch formal außerhalb der Europäischen Union geblieben sind, hat es in unserem Staat sicherlich beinahe die meisten Flaggen des vereinigten Europas gegeben.

Sie waren in den Händen unserer Menschen zu Zeiten der Revolutionen. Sie waren bei unseren Menschen in den Schützengräben, seit dem Jahr 2014. Ich glaube, dass die Flagge der Europäischen Union in jeder ukrainischen Stadt sein wird, die es noch von der Okkupation der Russischen Föderation zu befreien gilt.

Die ukrainischen und europäischen Flaggen werden auch dann zusammen sein, wenn wir unseren Staat nach diesem Krieg gemeinsam wiederaufbauen werden.

Und heute möchte ich gesondert und gerade im Rahmen unserer gemeinsamen Tagung – des Summits aller Staats- und Regierungschefs Europas – danken… Ich möchte unseren Helden danken – jeden und jeder, die mit Waffen in den Händen die Unabhängigkeit der Ukraine verteidigen, die Freiheit Europas beschützen.

Danke! Ich danke dafür, dass sie die neue Geschichte der Ukraine möglich machen, eine neue Geschichte Europas, eines noch stärkeren und noch freieren.

Ich denke Ihnen allen!

Ruhm der Ukraine!“