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Ein beeindruckender Machttransit. Eine Bilanz des ersten Reformjahres in Kasachstan


Am 12. Juni ist es genau ein Jahr her, dass Kassym-Schomart Tokajew offiziell das Amt des Präsidenten der Republik Kasachstan antrat. Vor einem Jahr wurde in diesem zentralasiatischen Staat in der Praxis ein demokratischer „Machttransit“ vollzogen, ein Prozess, der in der Zukunft auch für die Bürger Russlands aktuell wird. Kasachstan demonstrierte sein eigenes Modell für eine evolutionäre Machtübergabe, deren positiven Seiten man auf ähnliche Prozesse in anderen Staaten extrapolieren kann.  

Er kam mit einem fertigen Reformplan

Im Juni vergangenen Jahres hatten einige „Couch-“ Experten Tokajew als eine „vorläufige“, als eine „Übergangs-“ Figur bezeichnet. Das heißt, sie hatten ihm die wenig beneidenswerte Rolle eines formellen Staatschefs und beinahe einer Marionette eingeräumt. Freilich, die sich in der politischen Küche Kasachstans wirklich auskennenden Politologen hatten bereits damals die Aufmerksamkeit auf einige wichtige Nuancen des ersten evolutionären Machttransits in der Geschichte der Republik gelenkt. Erstens hatte Kassym-Schomart Tokajew mit einem riesigen Vorsprung vor den Konkurrenten im Verlauf ehrlicher und offener Präsidentenwahlen gewonnen (für ihn hatten 70,96 Prozent der Wähler bei einer Beteiligung von 77,5 Prozent der Bürger des Landes gestimmt) und wurde somit nicht nur einfach ein legitimes, vom Volke gewähltes Staatsoberhaupt, sondern hatten auch die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft erhalten. 

Zweitens, er setzte sofort alle Punkte über die „i“, indem er die Kontinuität des Kurses und der strategischen Programme des ersten Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, erklärte. Und als seine Präsidentenaufgaben nannte Tokajew eine Erhöhung der Effektivität der Wirtschaft, die Demokratisierung der Gesellschaft und die Anhebung des Lebensniveaus der Kasachstaner. 

Drittens weiß man um das Potenzial und die fachlichen Qualitäten von Kassym-Schomart Tokajew sowohl in Kasachstan als auch weit über dessen Grenzen hinaus. Er hatte viele Jahre ergebnisreich mit Nursultan Nasarbajew in einem Team gearbeitet, indem er die Regierung der Republik Kasachstan und den Senat, das Oberhaus des Republikparlaments, leitete und durch seine Tätigkeit unbestreitbare Autorität erlangte. Laut Einschätzung eines der bekannten Politologen, des Präsidenten des Eurasischen Instituts für geostrategische Forschungen, Jewgenij Baschanow, würden Tokajew nicht nur Führungs-, sondern auch menschliche Qualitäten auszeichnen. „Er ist ein Mann von kolossaler Gelehrsamkeit, ein sehr anständiger, mit keinerlei Korruptionsschemas verbundener und seine Sache kennender Profi, der über Willensstärke verfügt und sein Land liebt.“ Und das Wichtigste sei, wie Jewgenij Baschanow unterstrich: Tokajew sei mit einem bereits fertigen Programm weiterer Reformen an die Macht gekommen, das auf seinen persönlichen Erfahrungen und Wissen basierte und dabei durch Nursultan Nasarbajew gebilligt und unterstützt wurde.  

Nach Meinung von Analytikern habe im ersten Jahr seiner Präsidentschaft Kassym-Schomart Tokajew alle durch seine kühnen, außergewöhnlichen Entscheidungen frappiert. Er habe beispielsweise sofort auf einen rationalen Dialog mit der Gesellschaft gesetzt. Seine programmatische Präsidentenbotschaft vom September vergangenen Jahres, in der er die Karten seines Planes für Novationen aufdeckte, ist auch so überschrieben worden – „Ein konstruktiver gesellschaftlicher Dialog – die Grundlage für die Stabilität und das Prosperieren Kasachstans“. Darin hatte er konkrete Vorschläge dazu unterbreitet, wie man das Wirtschaftswachstum stimulieren, die Fiskal- und monetäre Politik vervollkommnen, Bedingungen für die Entwicklung des Kleinunternehmertums und Mittelstands schaffen, die einheimischen Hersteller unterstützen, die Abhängigkeit der Wirtschaft Kasachstans vom Export von Energieressourcen minimieren usw. könne. 

Und wichtig ist, dass Tokajew nicht verbal, sondern in der Tat bekräftigte, dass Kasachstan Kurs auf eine Demokratisierung nehme, da er nur darin das Unterpfand für die Stabilität und das Prosperieren des Landes sehe. Auf Initiative des Präsidenten haben die Behörden die Praxis der „Einschränkung“ des Internets und des gewaltsamen Auseinandertreibens der Teilnehmer von Meetings aufgegeben. Im September vergangenen Jahres versprach Tokajew der Gesellschaft ein Gesetz, das friedliche Versammlungen liberalisiert. Und vor kurzem, im Mai, haben die Abgeordneten des Parlaments das Gesetz „Über die Modalitäten für die Organisation und Durchführung friedlicher Versammlungen in Kasachstan“ verabschiedet. Das Gesetz hat eine ganze Reihe von Verboten aus dem Wege geräumt. 

Präsident Tokajew hat eine Konzeption vom „Gehör schenkenden Staat“ unterbreitet, die vom Wesen her zu einer neuen Philosophie der staatlichen Verwaltung wurde. Wenn man es einmal kurz sagt, so besteht ihr Sinn in der Möglichkeit, direkt den Vertretern der Staatsmacht Fragen zu stellen und operativ Antworten zu erhalten. Die Offiziellen sollen ihr Volk hören, dessen Hoffnungen und Erwartungen. Sie müssen dessen Probleme kennen und auf maximale Weise helfen. Das ist das Wesen der Konzeption. 

„Auf mich hat Tokajew einen überaus starken Eindruck durch den folgenden Umstand gemacht: Er befindet sich schon sehr lange in den obersten Machtetagen. Aber er stellt sich nach wie vor klar und deutlich das Leben der Menschen, deren Sorgen und Probleme vor. Dies äußerte sich meiner Ansicht nach in der Position Tokajews, dass die Menschen ihre Ablehnung der einen oder anderen Handlungen der Behörden zum Ausdruck bringen können. Und dem muss man Gehör schenken. Und es bleibt eine Tatsache: Der neue Präsident Kasachstans hat innerhalb eines Jahres die ganzen Machtorgane transparent gemacht, angefangen bei den Ministern bis hin zu den Akims (Akim – Gouverneur einer kasachischen Verwaltungsregion – Anmerkung der Redaktion). Die kasachischen Beamten agieren in den sozialen Netzwerken, in denen die einfachen Bürger über ihre Probleme schreiben, die aus den hohen Amtsstuben nicht durch alle gesehen werden, und die Behördenvertreter lösen diese Probleme.“ So reagierte der bekannte russische Publizist, TV-Moderator und Schriftsteller Leonid Mletschin auf die Veränderungen in Kasachstan, wobei er betonte, dass der Dialog zwischen den Beamten und einfachen Menschen bereits reale Früchte trage. 

Heute muss anerkannt werden, dass sich in Kasachstan das Format der offiziellen Veranstaltungen schrittweise verändert. Sie werden öffentlicher. Auf Initiative des Staatsoberhauptes ist zwecks Erörterung der aktuellsten Fragen ein neues Gremium gebildet worden, der Nationale Rat für gesellschaftliches Vertrauen, dem bekannte Politiker, Vertreter des öffentlichen Lebens, Wirtschaftsexperten, Juristen und Wissenschaftler angehören. Auf der Basis der Internetseite des Präsidenten ist eine virtuelle Anlaufstelle des Oberhauptes der Republik Kasachstan eingerichtet worden. Innerhalb der Präsidialverwaltung wurde eine Abteilung für die Arbeit mit Zuschriften der Bevölkerung gebildet. 

Analytiker heben hervor, dass der Präsident Kurs auf eine Reformierung des Sozialbereichs genommen habe, in dem er die Bekämpfung von Armut, Korruption und Bürokratisierung, den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger, die Anhebung deren Einkommen und die Erhöhung des Lebensniveaus als seine Hauptaufgaben sehe. Tokajew hat auch eine genau durchdachte Reform der staatlichen Verwaltung vor. „Wir brauchen einen erneuerten effizienten und kompakten Staatsapparat, der schnell und operativ Entscheidungen als Antwort auf die Veränderung der Lage trifft. Das Wesen der Konzeption von der elektronischen Regierung muss neudurchdacht werden, die Operationen zwecks Erhalts von Konsultationen, Bescheiden und für das Einreichen von Anträgen müssen vollkommen auf ein Online-Regime umgestellt werden. Das Kommunizieren zwischen Business und Staat wird voll und ganz in ein digitales Format übergehen und zu einem kontaktlosen werden. Dafür wird die Digitalisierung des gesamten Prozesses des Erhalts staatlicher Leistungen und von Unterstützungsmaßnahmen abgeschlossen. Wichtig ist, allen Prozessen zur Digitalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft einen neuen Impuls zu verleihen“, formuliert Kassym-Schomart Tokajew als konkrete Aufgaben für die Regierung. 

Test auf das Coronavirus

Dass Tokajew mit einem durchdachten Reformplan an die Macht gekommen ist, ist ein wesentlicher Pluspunkt. Die Krisenumstände dieses Jahres lassen keine Zeit für lange Überlegungen. Es sei daran erinnert, dass Tokajew, kaum dass er die Führungszügel des Staates übernommen hatte, mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert wurde, deren erfolgreiche Überwindung nicht jeder Spitzenvertreter bewerkstelligen kann. Was aber das Coronavirus angeht, so haben internationale Experten die Rechtzeitigkeit und Wirksamkeit der von der Führung der Republik Kasachstan ergriffenen Quarantäne-Maßnahmen, aber auch die Effektivität der kurzfristigen Antikrisenmaßnahmen zur Unterstützung des Kleinunternehmertums und Mittelstands einmütig gewürdigt.

„Bei der Untersuchung der Angaben darüber, wie sich die Pandemie in einigen Ländern entwickelt, wurde offensichtlich, dass Kasachstan erhebliche Erfolge in den ersten vier Woche ab Beginn der Epidemie erzielte, da es dem Land gelungen war, die Phase der Epidemie im Verlauf von drei und vier Wochen zu verändern. Diese Maßnahmen entsprechen vollkommen den Empfehlungen der WHO“, erklärte die Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation in Russland, Melita Vujnovic.  

Für die Antikrisenmaßnahmen wurde die beispiellose Summe von 5,9 Billionen Tenge (umgerechnet etwa 13,15 Mrd. Euro) bereitgestellt, was 8,6 Prozent vom BIP Kasachstans ausmachte. Wobei die Gelder nicht nur für Produktionskapazitäten flossen, sondern auch unmittelbar an die Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten, ausgezahlt wurden. Monatlich erhalten rund 3 Millionen Kasachen Beihilfen in einer Höhe von 45.000 Tenge (rund 100 Euro). Gerade dank der ergriffenen Maßnahmen gelang es Kasachstan, mit minimalen Verlusten aus der Epidemie herauszukommen und schrittweise die Wiederherstellung der Wirtschaftsaktivitäten in Angriff zu nehmen. Glücklicherweise gibt es eine zuverlässige Ressource zur Gewährleistung der sozial-ökonomischen Stabilität: Die internationalen Devisenreserven Kasachstans belaufen sich auf über 30 Milliarden US-Dollar, und die Vermögen des Nationalen Fonds der Republik Kasachstan übersteigen 58 Milliarden US-Dollar. 

Strategische Partner

Als Kassym-Schomart Tokajew das Präsidentenamt antrat, erklärte er die Kontinuität nicht nur des innerstaatlichen, sondern auch des außenpolitischen Kurses, wobei er als vorrangige Aufgabe die maximale Gewinnung ausländischer Investitionen für die Wirtschaft nannte. Zu den Partnerländern der Republik Kasachstan gehören Russland und China, die Länder der Europäischen Union und die USA sowie die Staaten der moslemischen Welt und Israel.  

„Die Modernisierung der Wirtschaft Kasachstans erfolgte auch vor Tokajew, doch er legte den Akzent darauf, dass das marktwirtschaftliche Umfeld erweitert und verbessert wird, damit es keine Monopolisierung der Wirtschaftsbereiche durch unterschiedliche staatliche und halbstaatliche Strukturen gibt. Außerdem schenkt Kassym-Schomart Tokajew der Unterstützung der Gewinnung ausländischen Kapitals – nicht nur russischen und chinesischen, sondern auch europäischen Kapitals und aus anderen für Kasachstan wichtigen Quellen – großes Augenmerk“, meint der Politologe Jewgenij Baschanow. 

Und dies sagte dieser Tage Tokajew selbst in einem Interview für eines der russischen Printmedien: „Russland ist der wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner Kasachstans. Der Umfang der direkten Investitionen aus Russland in Kasachstan machte 15,7 Milliarden US-Dollar aus. Der bilaterale Warenaustausch erreichte im Jahr 2019 beinahe 20 Milliarden US-Dollar. In Kasachstan sind über 7.000 russische Unternehmen und rund 3.500 kasachisch-russische Joint Venture erfolgreich tätig. Aktiv werden Gemeinschaftsvorhaben in den vorrangigen Wirtschaftszweigen realisiert. Wir werden die russische Wirtschaft unterstützen, die Investitionsprojekte in Kasachstan verwirklicht. Und wir erwarten, dass zu Ergebnissen unserer Zusammenarbeit Produktionsstätten werden, die auf den Märkten der Volksrepublik China und Zentralasiens tätig werden“. 

Bei seinem Auftritt auf der Abschlusstagung der Staatlichen Kommission für außerordentliche Situationen (jetzt ist sie umbenannt worden in Staatskommission für die Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums) gab Kassym-Schomart Tokajew am 11. Mai strategische Pläne für die Zeit nach der Krise bekannt. Dabei geht es vor allem um neue punktuelle Umgestaltungen in der Wirtschaft, die Modernisierung des Systems des Bildungs- und des Gesundheitswesens, um den Übergang zum „digitalen Staat“ und darum, wie Kasachstan für die internationale Wirtschaft und Touristen attraktiver gemacht werden kann.