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Ein durch nichts verdeckter Zynismus vor dem Hintergrund eines Gotteshauses


Der berüchtigte und scheinbar etwas in Vergessenheit geratene Paragraf 148 des russischen Strafgesetzbuches (über die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen) erlebt eine neue Renaissance. Die Anlässe für seine Anwendung werden immer fadenscheiniger, doch die Reihen der Angeklagten länger. Ein Urteil ist bereits gesprochen worden. Und erwartet werden noch zwei Entscheidungen zu Strafverfahren, die nach der Veröffentlichung und Verbreitung von Foto- und Videomaterialien eingeleitet wurden, auf denen anstößige Handlungen angeblich in der Nähe von Gotteshäusern begangen wurden.

Am 29. Oktober verurteilte man den Blogger Ruslan Babijew und das Fotomodel Anastasia Tschistowa (Asja Akimowa) zu zehn Monaten Straflager wegen einer Aufnahme auf dem Roten Platz in Moskau. Das Pärchen hatte oralen Sex imitiert, aber unglücklich den Hintergrund für die Fotokomposition ausgewählt. Im Hintergrund ist die Basiliuskathedrale auszumachen. Das Gotteshaus hat auf eine derartige Art und Weise nicht einmal „gelitten“. Zuvor hatte das Fotomodel Lolita Bogdanowa vor dieser Moskauer Sehenswürdigkeit den Busen entblößt. Der Fernsehkanal „Zargrad“ nannte den Namen des Mannes, dessen Gefühle beim Anschauen dieses frivolen Fotoshootings verletzt wurden. Als gekränkter hat sich das Mitglied der Gesellschaft „Zargrad“ Roman Bilibin erwiesen. „Für die orthodoxen Gläubigen ist ein Gotteshaus ein besonderer Ort“, zitiert der Fernsehkanal den Antragsteller. „Mehr noch, die Basilius-Kathedrale ist ein besonderer Ort für alle Menschen Russlands, indem er die Einheit unserer Geschichte symbolisiert“. Bogdanowa droht im Rahmen des eingeleiteten Strafverfahrens auch bis zu ein Jahr Haft.

In eben diesen Tagen haben die Untersuchungsorgane von Petersburg ein Strafverfahren wegen Beleidigung der Gefühle von Gläubigen gegen Irina Wolkowa eingeleitet, die sich in Unterwäsche vor dem Hintergrund von Sehenswürdigkeit der Nördlichen Hauptstadt ablichten ließ. „Die Verdächtige hat, indem sie sich an einer orthodoxen Kirche – am SMD (Staatlichen Museum und Denkmal) „Isaak-Kathedrale“ – befand, vorsätzlich und öffentlich handelte, wobei sie eine offene Missachtung gegenüber der Gesellschaft demonstrierte sowie die religiösen Gefühle von Gläubigen erniedrigte und beleidigte, vor dem Hintergrund der oben ausgewiesenen Kathedrale ein Foto und eine Videoaufnahme mit entblößten Körperteilen gemacht“, teilte die Regionalverwaltung des Untersuchungskomitees der Russischen Föderation mit. In diesem Fall haben die Rechtsschützer die Ansicht des kaum durch Strings verhüllten Popos und der unbestrittenen Schönheit des architektonischen Meisterwerks von Auguste de Montferrand für unvereinbare gehalten. Im Pressedienst der Isaak-Kathedrale erklärte man, dass man sich nicht über die Frau beschwert hätte.

Es sei betont, dass man weder die Basilius-Kathedrale noch die Isaak-Kathedrale als in vollem Maße funktionierende heilige Stätten bezeichnen kann. Dies sind vor allem Museen, in die die Besucher gelangen, nachdem sie Eintrittskarten kauften und sich nicht auf einen Kontakt mit Gott, sondern auf ein Kennenlernen der Geschichte und Kultur Russlands eingestellt haben. Diese Geschichte ist bekanntlich keine einfache und voll von verzwickten Sujets. Beim Rundgang durch die Basilius-Kathedrale erfahren die Touristen beispielsweise von der Legende, wonach die Schöpfer dieser architektonischen Perle, die Baumeister Iwan Barma und Postnik Jakowlew, angeblich durch den gottesfürchtigen Zaren Iwan geblendet wurden. Was den Heiligen angeht, dem die Kathedrale gewidmet worden ist, so hatte er, der Moskauer „Narr in Christo“ Basilius der Selige, der auch der sogenannte Nackte war, mit Ketten herumscheppernd und ohne irgendwelche Kleidung durch die Hauptstadt herumziehend, einmal mit einem Stein ein Bild der Gottesmutter zerschlagen. Sozusagen auch eine religiös-politische Performance im Geiste jener Zeit.

Nur selten werden in unseren Tagen im Gotteshaus seines Namens Gottesdienste zelebriert. Ungefähr in eben solch einem Maße hat auch das Staatliche Museum und Denkmal „Isaak-Kathedrale“ etwas mit dem Kirchlichen zu tun. Beide nationalen Güter versucht das Moskauer Patriarchat erfolglos, in seinen Besitz zur weiteren Nutzung zu bekommen.

Das abgeschmackte Shooting vor dem Hintergrund der Basilius- und der Isaak-Kathedrale berührt vor allem ästhetische Gefühle. Dafür verurteilt man nicht. Die dreisten Blogger haben aber eine reale Strafe erhalten.

Der sich abgezeichnete Trend, anstößige Fotoshootings vor dem Hintergrund von Architekturdenkmälern durchzuführen, löst Unverständnis und gar Empörung vieler Menschen aus, nicht nur religiöser Spießbürger. Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass zu den Autoren der Fotografien und zu den Models für die Aufnahmen, aber auch deren Adressaten in den sozialen Netzwerken Vertreter jener Generationen werden, die als Persönlichkeiten in der Hochzeit der sogenannten kirchlichen Wiedergeburt geprägt worden sind. Die dreißigjährigen Anstrengungen des Moskauer Patriarchats, ihr gesellschaftliches Institut als Maß der Moral darzustellen, haben dazu geführt, dass die Kirche selbst ihre Heiligtümer nicht vor Erscheinungen von Nihilismus und Vandalismus schützen kann. Schließlich veranlasst die Causa „Pilgertum“ skandalöser Blogger zu bekannten Gotteshäusern, sich darüber Gedanken zu machen, was für eine Anziehungskraft die Kirche für die Jugend hat.

Was die Strafverfahren angeht, so kann man schon jetzt vorsichtig vermuten, dass der Ausgang ein unterschiedlicher sein wird. Während für Bobijew und Tschistowa der Foto-Schabernack mit einem realen Urteil ausgegangen ist, sehen für die anderen Akteure die Perspektiven nicht so betrüblich aus. Am 31. Oktober hat das Gericht des Oktjabrskij-Stadtbezirks von Petersburg entschieden, für Irina Wolkowa keine Sicherungsmaßnahme zu beschließen und hat sie sogar nicht einmal in ihrer Tätigkeit und ihren Beschäftigungen eingeschränkt. Wahrscheinlich wird die Frau mit einem leichten Schrecken davonkommen. Warum aber hat dann das Pärchen kein solches Glück gehabt, das die Performance auf dem Roten Platz veranstaltete?

Der stellvertretende Vorsitzende der Synodalabteilung der Russischen orthodoxen Kirche für die Beziehungen der Kirche mit der Gesellschaft und den Medien, Wachtang Kipschidse, kommentierte am 1. November die Tat von Bobijew und Tschistowa in einer Sendung des hauptstädtischen Rundfunksenders „Echo Moskaus“: „Ich bin der Auffassung, dass dies unzulässig und kränkend ist. Das, was mit dem Sexualleben verbunden ist, darf nicht in den öffentlichen Raum gebracht werden, und umso mehr, wenn dies mit einem offenkundig provozierenden Ziel getan wurde. Für alles muss es seinen Platz geben“.

Also, der Ort ist für das Fotoshooting unglücklich ausgewählt worden. Liegt aber alles an dem Gotteshaus, das im Hintergrund zu sehen ist? Einige sind der Meinung, dass die entscheidende Bedeutung doch die Nähe zum Spasski-Tor des Kremls hatte, welches bewanderte Menschen außerhalb des Fotoausschnitts erahnen. Es wird noch angemerkt, dass das Mädchen in einer Jacke mit der Aufschrift „Polizei“ gekleidet war. Und der Junge besitze ein charakteristisches „moslemisches“ Aussehen. Hinzugefügt sei dazu das Sujet der Performance. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Blogger die Gefühle nicht nur von Gläubigen kränkten.

Kipschidse hat auch die Aufnahme von Wolkowa vor dem Hintergrund der Isaak-Kathedrale bewertet. „Solche Fälle stellen, wenn man sich die Statistik für ein Jahr anschaut, Einzelfälle dar. Im Vergleich zu anderen Paragrafen des Strafgesetzbuches ist dies verschwindend wenig. Dies belegt, dass diese Norm effektiv wirkt und die Verübung derartigen Taten vorbeugt, indem sie eine Atmosphäre der Achtung gegenüber religiösen Symbolen und den religiösen Weltanschauungen in unserer Gesellschaft schafft“, sagte er in einem Gespräch mit RBC, wobei er betonte, dass die Kirche ganz und gar nicht daran interessiert sei, dass man entsprechend diesem Paragrafen irgendwen in eine Haftanstalt bringe.

In der Meinung des Vertreters der Gläubigen sind keine Unterschiede hinsichtlich der beiden Fälle der angenommenen Verspottung von Heiligtümern auszumachen. Wenn sich jedoch die Urteile als unterschiedliche erweisen, wird man annehmen können, dass die Gefühle der Christen zu einer Gegenleistung für irgendwelche, für das Gericht wichtigere Motive für das Fällen der Entscheidungen geworden sind. Allerdings hat das Moskauer Patriarchat durch seine aktive Beteiligung am Auftauchen des 148. Paragrafen, beginnend ab dem Jahr 2012 und dem Fall der Punkgruppe „Pussy Riot“ a priori dem Auftreten derartiger peinlicher Situationen zugestimmt.