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Ein Monat Kriegshysterie sind Russland und der Ukraine teuer zu stehen gekommen


Das Schüren der Kriegs- und Sanktionshysterie rund um Russland und die Ukraine ist beiden Ländern teuer zu stehen gekommen. Die ukrainischen Offiziellen sprechen von direkten Verlusten im Umfang von über zwölf Milliarden Dollar aufgrund des Kapitalabflusses. Die russischen Börsenindexe haben seit Jahresbeginn rund zwölf Prozent verloren, was einer summarischen Kapitalisierung der russischen Unternehmen von etwa acht Billionen Rubel entspricht. Sowohl die ukrainische als auch die russische Wirtschaft leiden unter der Beschleunigung der Inflation, der Abwertung der nationalen Währungen, der Einbrüche auf dem Effektenmarkt und dem Abstoßen staatlicher Wertpapiere durch die ausländischen Anleger. Sowohl die russische als auch die ukrainische Wirtschaft müssen unter Bedingungen einer Vorkriegshysterie noch einen Monat lang existieren. Dank einer geringen Staatsverschuldung, den akkumulierten Reserven und dem Zugang zu Energieressourcen sieht die Lage der russischen Wirtschaft stabiler aus. Auf der Seite der Ukraine gibt es jedoch einen Zugang zu ausländischer Finanzhilfe. Ohne diese Hilfe würde die ukrainische Wirtschaft weitaus früher als Russland mit schmerzhaften Problemen konfrontiert werden.

Im Januar dieses Jahres hat der führende russische Börsenindex rund 12,5 Prozent verloren. Dies bedeutet, dass der Verlust der Gesamtkapitalisierung der russischen Unternehmen, deren Aktien an der Moskauer Börse gehandelt werden, acht Billionen Rubel ausmachte. Der Hauptteil dieser Einbußen hängt mit dem Anheizen der Kriegshysterie und der Sanktionsrhetorik seitens der Verbündeten der USA zusammen.

Die Ankündigungen der westlichen Medien hinsichtlich eines baldigen Beginns eines Krieges mit Russland fördern einen Preisanstieg auf den Rohstoffmärkten. Der zusammengefasste Rohstoff-Index Bloomberg Commodity Spot Index (BCSI), der die Notierungen von 23 Börsenwaren (Future-Verträge für Energieträger, Metalle und Landwirtschaftsprodukte) erfasst, erreichte am Montag einen historischen Rekord vor dem Hintergrund der Zunahme der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. Tagsüber kletterte der Bloomberg Commodity Spot Index um 0,9 Prozent in die Höhe und erreichte einen Maximalwert in seiner gesamten Geschichte von 543,21 Punkten. Seit Jahresbeginn ist er um 8,15 Prozent hochgeschnellt.

Die Hauptbefürchtungen der Marktteilnehmer hängen mit der Möglichkeit von Störungen bei den russischen Gaslieferungen nach Europa zusammen. Vorausgesagt werden auch höhere Preise für Nahrungsmittel in der Welt. „Die Ukraine und Russland sind Spitzenreiter beim Handel mit Weizen, Mais und Sonnenblumenöl, was die Käufer aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten aufgrund von höheren Preisen für Brot und Fleisch im Falle von Störungen bei den Lieferungen anfälliger macht“, unterstreicht die Nachrichtenagentur Bloomberg. Analytiker von der Bank JP Morgan erwarten einen weiteren Anstieg der Preise für Energieträger, Metalle und Agrarprodukte. Sie haben auch eine Zunahme der Weltmarktpreise für Erdöl im Falle eines militärischen Konflikts bis auf 150 Dollar je Barrel, eine Verlangsamung des Wachstums der Weltwirtschaft bis auf 0,9 Prozent im ersten Halbjahr und eine Beschleunigung der globalen Inflation bis auf sieben Prozent nicht ausgeschlossen.

Dass eine mögliche Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikts zu einem Preisanstieg für Energieträger und zu einer weiteren Beschleunigung der Inflation in der Welt führe, haben auch Experten des Internationalen Währungsfonds gewarnt.

Aber selbst das Ansteigen der Weltmarktpreise für die traditionellen Waren des russischen und des ukrainischen Exports verspricht diesen Ländern nichts Gutes im Falle des Ausbrechens eines militärischen Konflikts. Schließlich hatten bereits vor Beginn des Schürens der informationsseitigen Spannungen sowohl Russland als auch die Ukraine aufgrund der an Tempo gewinnenden Inflation gelitten. Die Durchschnittseinkommen sowie -löhne und -gehälter sind in der Russischen Föderation höher als die ukrainischen. Beispielsweise nimmt die Ukraine hinsichtlich der Erschwinglichkeit von Benzin den letzten Platz in Europa ein. Für ein durchschnittlichen ukrainischen Lohn kann man nur ganze 384 Liter Benzin kaufen, während es in Russland fast dreimal mehr sind.

Der ukrainischen Wirtschaft gereicht ein bewaffneter Konflikt nicht zum Nutzen, und die ukrainischen Offiziellen sind der Auffassung, dass die Situation rund um die ukrainisch-russischen Beziehungen künstlich aufgeheizt werde. „Heute sehen wir keine größere Eskalation als es früher der Fall war. Ja, die Zahl der Militärs hat zugenommen. Doch darüber hatte ich bereits Anfang des Jahres 2021 gesprochen, als man von den Militärmanövern der Russischen Föderation gesprochen hatte… Solch eine Empfindung ergibt sich durch die Massenmedien, denen zufolge wir einen Krieg haben, Truppen durch die Straßen ziehen, dass es eine Mobilisierung gibt, dass Menschen irgendwohin fahren. Dem ist nicht so. Wir brauchen diese Panik nicht“, erklärte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij. Nach seinen Worten hätten die Meldungen über eine baldige Eskalation des militärischen Konflikts Panik auf den Märkten und im Finanzsektor ausgelöst, was sich negativ auf die Wirtschaft auswirke. Viele Investoren hätten begonnen, Gelder aus der Ukraine abzuziehen. „Nach dem Beginn einer weiteren Informationskampagne hat man 12,5 Milliarden (Dollar – „NG“) aus der Ukraine abgezogen. Unser Staat kann nicht selbst mit solchen Herausforderungen fertig werden. Aus den Staatsreserven stabilisieren wir unsere nationale Währung. Deshalb kommt dies der Ukraine sehr teuer zu stehen. Dies ist eine etwas unausgewogene Informationspolitik“, beklagte sich das ukrainische Staatsoberhaupt. Er ist gleichfalls der Auffassung, dass für eine Stabilisierung der Wirtschaft vier bis fünf Milliarden Dollar erforderlich seien. „Mit einer geringeren Zahl rechne ich nicht. Gerade solch eine Summe brauchen wir sehr“, sagte Selenskij.

Im Office des ukrainischen Präsidenten teilte man mit, dass das Land allein im Januar (und dies nicht einmal bis einschließlich 31. Januar) 1,5 Milliarden Dollar bzw. fünf Prozent seiner Gold- und Devisenreserven eingesetzt hätte, um den Kurs der Griwna vor einem Einbruch zu bewahren. Laut Angaben der Nationalbank der Ukraine hatten mit Stand vom 31. Dezember die Reserven der Ukraine rund 31 Milliarden Dollar ausgemacht. Der Berater des Staatsoberhauptes für Wirtschaftsfragen, Oleg Ustenko, lenkte das Augenmerk darauf, dass der gegenwärtige Stand der Reserven vier Monaten des ukrainischen Imports entspreche. Und „ihre rasche Auffüllung sei äußerst wünschenswert“. Im gesamten vergangenen Jahr machte der Umfang der Währungsinterventionen der Nationalbank 1,27 Milliarden Dollar aus. Seit Jahresbeginn schwächelt die Griwna laut Angaben der Nachrichtenagentur Reuters und verlor gegenüber dem US-Dollar fünf Prozent an Wert, gegenüber dem russischen Rubel – 4,4 Prozent.

Vom 1. bis einschließlich 24. Januar 2022 verringert sich das Portfolio der ukrainischen inländischen Staatsanleihen seitens der Nichtresidenten um 8,3 Milliarden Griwna und erreichte 83 Milliarden Griwna, informierte man in der ukrainischen Zentralbank. Experten prognostizieren, dass die Nichtresidenten weitere 1 bis 1,5 Milliarden Dollar abziehen könnten. Und der Zeitraum des Rückgangs der Nachfrage nach ukrainischen Schuldverschreibungen könne sich bis auf ein halbes Jahr in die Länge ziehen.

Die Kiewer Offiziellen rechnen damit, die finanziellen Löcher mit Hilfe internationaler Gelder zu stopfen. Möglicherweise ist damit auch das Auftauchen von Schätzungen in Bezug auf größere finanzielle Verluste der Ukraine zu erklären. Nach Aussagen Ustenkos hoffe das Land auf einen zusätzlichen ausländischen Kapitalzufluss. Der Berater meint, dass dies der Ukraine erlauben werde, nicht selbst auf die internationalen Kapitalmärkte zwecks Anleihen gehen zu müssen, „für die dann zusätzliche Zinsen zu zahlen sind“. „Unser Staat arbeitet auch aktiv mit den entscheidenden Partnern und internationalen Organisationen und vereinbart Pakete einer Finanzhilfe in Form entweder staatlicher Bürgschaften oder direkter Regierungskredite“, versicherte man im Office des ukrainischen Präsidenten.

„Wir hoffen, in der nächsten Zeit rund zwei Milliarden Dollar zu bekommen. Außerdem erwarten und rechnen wir mit dem Erhalt der sogenannten Kreditbürgschaften von den USA“, erklärten ukrainische Staatsbeamte. Rostislaw Schurma, stellvertretender Leiter des Präsidenten-Office, erklärte in der vergangenen Woche, dass die Ukraine plane, „mit allen strategischen Partnern Pakete in einem Gesamtumfang von drei bis fünf Milliarden Dollar zu schnüren, die ein zusätzliches Kissen sein werden und die Stabilität unseres Finanzsystems unabhängig vom Szenario garantieren“. Die Europäische Kommission hat die Bereitstellung einer dringenden Makro-Finanzhilfe über eine Summe von 1,2 Milliarden Europa für die Ukraine beschlossen.

Die russische Wirtschaft erleidet durch die „Kriegsrhetorik“ auch eigene Verluste. Für die Russische Föderation hat sich das Schüren einer Vorkriegspsychose auf den Effekten- und Währungsmarkt ausgewirkt. Der größte Einbruch ereignete sich am „schwarzen Dienstag“, am 18. Januar. Damals sackte entsprechend den Ergebnissen der Hauptsession der Moskauer Börsenindex um 6,5 Prozent ab. Der RTS-Index – um 7,29 Prozent. Betont wurde, dass die Talfahrt des Indexes der Moskauer Börse ab dem Stand der historischen Spitzenwerte 25 Prozent ausmachte. Somit wurde der gesamte Anstieg des vergangenen Jahres eingebüßt.

Außerdem sind die Notierungen der russischen Kreditausfallversicherung – der 5-Jahres- Credit Default Swaps (CDS) – gestiegen, mit denen die russischen staatlichen Obligationen abgesichert werden. Mitgeteilt wurde, dass sie seit Beginn des Jahres um 30 Prozent in die Höhe gegangen seien. Gestiegen sind auch die Notierungen der ukrainischen CDS. Den Investoren kostet die Kreditausfallversicherung bezüglich der ukrainischen staatlichen Wertpapiere 917.000 Dollar im Jahr bei einem Wert der Papiere von zehn Millionen Dollar.

Der Rückgang der Indexe hat sich auf den Wert der russischen Unternehmen ausgewirkt. Die Sberbank-Aktien haben seit vergangenem Oktober 38 Prozent verloren, „Yandex“ hat innerhalb eines Monats um 25 Prozent an Wert verloren, „Gazprom“ – um 14 Prozent.

Aufgrund der Spannungen sind auch die Aktien der ukrainischen Unternehmen eingebrochen, die im Westen gehandelt werden. Seit Jahresbeginn haben die Wertpapiere des Bergbauunternehmens Ferrexpo (ein in Großbritannien registriertes Unternehmen, das auch in der Ukraine aktiv ist – Anmerkung der Redaktion) eine Talfahrt von 25 Prozent erlebt. Das Öl- und Gasunternehmen Enwell Energy verlor um zehn Prozent an Wert, die Aktien ukrainischer Agrar-Holding – um 16 Prozent.

In Russland wie auch in der Ukraine hat sich die Kapitalflucht der Nichtresidenten beschleunigt. Dabei hat die Zentralbank bisher keine Daten für den Januar vorgelegt. Entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres machte aber der reine Kapitalabfluss aus Russland 72 Milliarden Dollar aus, womit er um das 1,4fach zugenommen hat, folgt aus Zentralbank-Angaben. Der reine Abfluss von Mitteln der Nichtresidenten aus den russischen Staatsanleihen und Eurobonds belief sich im gleichen Zeitraum auf 3,2 Milliarden Dollar (während er 3,9 Milliarden Dollar im Jahr zuvor ausmachte), teilte man in der von Elvira Nabiullina geleiteten russischen Zentralbank mit. Betont wird, dass im IV. Quartal der reine Abfluss von Geldern der Nichtresidenten aus den erwähnten Wertpapieren 4,3 Milliarden Dollar erreichen konnte, während es im Jahr 2020 noch einen Zufluss von 2,5 Milliarden Dollar gegeben hatte.

Der Strom der Erörterungen der Gefahr eines militärischen Konflikts von Russland und der Ukraine wirke sich auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte beider Länder negativ aus, sagte die Experten der „NG“. Olga Belenkaja, Leiterin der Abteilung für makroökonomische Analyse im Investitionsunternehmen „Finam“, konstatiert, dass seit Anfang November des letzten Jahres bis einschließlich des vergangenen Freitags die ukrainische Griwna 8,4 Prozent an Wert verloren hätte, der russische Rubel – 8,1 Prozent. „Seit Jahresbeginn bis einschließlich 28. Januar machten die Griwna-Verluste fünf Prozent aus, die des Rubels – 4,1 Prozent. Dies ist eines der schlechtesten Ergebnisse für die Länder mit sich herausgebildeten Märkten“, erklärte sie. Das Schwächeln der Währungskurse schaffe Bedingungen für eine neue Beschleunigung der Inflation. Und dies werde die Zentralbanken veranlassen, eine härtere Geld- und Kreditpolitik zu verfolgen, die das Wirtschaftswachstum aufhalten werde, fuhr die Expertin fort.

Die Verluste seien für die Länder nach Schätzungen von Experten nicht gleichartige. „Die internationalen Reserven Russlands belaufen sich laut Angaben der Zentralbank auf 639 Milliarden Dollar bei einer Auslandsverschuldung des Landes von insgesamt 478,2 Milliarden Dollar. Derweil machten die Geld- und Währungsreserven der Ukraine Ende des Jahres 2021 30,9 Milliarden Dollar aus. Und die gesamte Auslandsverschuldung erreichte Ende des dritten Quartals des vergangenen Jahres 125 Milliarden Dollar. Das Verhältnis der Staatsverschuldung in Bezug auf das BIP macht für Russland rund 18 Prozent aus, für die Ukraine etwa 60 Prozent“, sagte Belenkaja, wobei sie anmerkte, dass die Wirtschaft der Ukraine zwar auch schwächer als die russische sei, doch durch die ausländische Unterstützung die negative Wirkung durch die geopolitische Situation abschwächen könne.

„Derzeit kann man sagen, dass die Geopolitik einen Schlag gegen den Rubel, die Griwna und den Schuldenmarkt der Ukraine und der USA geführt hat“, sagt Andrej Wernikow vom Investmentunternehmen „Univer Kapital“. Russlands Wirtschaft habe jedoch auch einiges Positives aufgrund der derzeitigen Hysterie. „Analytiker der Bank JP Morgan und viele andere angesehene Experten sind der Auffassung, dass die Gefahr eines großen Konflikts zu der Befürchtung einer Störung des Öl- und Gastransits nach Europa führe und die Preise für Öl und Gas anhebe… Beispielsweise erfolgt ein Drittel des Gastransits aus Russland nach Europa durch die Ukraine. Dank diesem Umstand befinden sich die Preise für Öl und Gas auf einem hohen Stand, obgleich der starke Dollar nicht zu Gunsten ihrer Zunahme spricht“, fuhr der Analytiker fort.

Der Schaden für die russische und die ukrainische Wirtschaft aufgrund des gegenwärtigen Anheizens der politischen Leidenschaften ist bei weitem kein gleichartiger, meint Pjotr Puschkarjow, Chefanalytiker der Firma „TeleTrade“. „Während im Fall der Ukraine die Investoren massenhaft zeitweilig die früheren Pläne für den realen Wirtschaftssektor aufgeben, erfolgte in Russland das Abziehen der Mittel größtenteils nur vom Effektenmarkt. Das heißt: Verringert hat sich nur der Anteil einer Beteiligung ausländischen Kapitals an russischen Finanzinstrumenten“, erzählt er. Das ukrainische Finanzsystem leide weitaus stärker, fuhr Puschkarjow fort. Und im Fall einer Ausweitung des Konflikts und ohne zusätzliche Finanzhilfe werde die Wirtschaft der Ukraine wohl kaum die Konfrontation länger als mehrere Monate überstehen.