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Ein russisches Pendant zum EGMR ist wohl kaum möglich


Russland ist seit dem 16. März aus dem Europarat ausgeschlossen worden. Die Bürger der Russischen Föderation verlieren ab 19. September dieses Jahres die Möglichkeit, ihre Interessen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu verteidigen. Die einen Experten bezeichnen dies als eine „Rechtskatastrophe“, andere behaupten, dass unsere Rechtsprechung in der letzten Zeit auch so zu oft auf die Meinung von Strasbourg geschaut habe. Dabei bewegt alle die Frage, ob denn den Bürgern Russlands irgendetwas als Ersatz für den EGMR vorgeschlagen werde. Wie die „NG“ herausgefunden hat, bleibt wahrscheinlich nur davon zu träumen.

Laut dem Statut des Europarates wird die Entscheidung nicht früher als im Jahr 2023 in Kraft treten. Doch Strasbourg wird nur noch bis zum 16. September Klagen von Bürgern Russlands annehmen, wie inzwischen mitgeteilt wurde. Viele Menschenrechtler und Juristen haben beschlossen, eine maximale Anzahl von Klagen dorthin zu senden, um sich „für einige Jahre im Voraus“ mit Arbeit zu versehen.

Derweil betonen Experten, dass die Beschlüsse des EGMR ein überaus wichtiger Orientierungspunkt waren, ohne die die Menschenrechte in Russland zu degradieren beginnen. Verschlechtern kann sich die Situation für die Bürger Russlands, die unter Folterungen, unter einer langen Haft und durch die Missachtung der Standards für eine gerechte Rechtsprechung gelitten haben. „Ich bin durch die Nachricht über das Ausscheiden der Russischen Föderation aus dem Europarat betrübt. Wir verlieren ernsthaft dadurch“, erklärte der „NG“ Ilja Schablinskij, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe. In den letzten Jahren hatten das Verfassungs- und das Oberste Gericht mehrfach auf die Positionen des EGMR verwiesen, wobei sie diese als einen gewissen Standard betrachteten. Und der „Grundgedanke war einer – Vorrang haben die Menschenrechte und -freiheiten“.

Schablinskij ist sich sicher, dass unsere Offiziellen keine Alternative zum EGMR außer rhetorische Worte und Vorgaben vorschlagen werden. „Ja, im demonstrativen Sinne wird es positive Entscheidungen geben, die vor dem generellen Hintergrund erstaunen werden“, räumt er. So hat beispielsweise dieser Tage das Oberste Gericht den untergeordneten Instanzen verboten, die Summen für Kompensationszahlungen aufgrund Erwägungen für ein Einsparen von Etatmitteln geringer festzulegen. Es hatte eine Berufungsentscheidung aufgerufen, die eine Wiedergutmachungszahlung für eine zweijährige widerrechtliche strafrechtliche Verfolgung auf ein Zehntel, von 500.000 bis auf 50.000 Rubel, verringert hatte. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Richter bemühen, keine aus ihrer Sicht unbegründete Bereicherung von Betroffenen zuzulassen. Schließlich „wird die Staatskasse ärmer, und die wird aus Steuergeldern gebildet“. Diesbezüglich hat das Oberste Gericht seine Meinung bekundet: „Die Wiedergutmachung eines moralischen Schadens ist keine Kompensierung materieller Verluste. Folglich kann sie nicht als eine Bereicherung angesehen werden“.

Nach Aussagen von Schablinskij sei dies alles Show. Jüngst hat es auch eine Reihe von Gerichtsentscheidungen zugunsten von Bürgern gegeben, erinnerte er, die gegen Versicherungsgesellschaften vor Gericht gegangen waren. „All dies ist aber doch keine Tendenz geworden. Vom Wesen hat sich nichts geändert“. Jegliche Erläuterungen von oben werden in ihrer Mehrheit auch weiterhin vor Ort, an der Basis ignoriert werden. Und alles ist so, weil die Gerichte „einfach ein Anhängsel der Maschine der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane sind“, unterstrich der Experte. Er erinnerte daran, dass früher die Idee von der Schaffung eines russischen analogen Organs zum EGMR formuliert worden war, dann aber aufgrund seiner Haltlosigkeit zu Grabe getragen wurde. Schließlich hätten da die Offiziellen ihre Ineffizienz und die Voreingenommenheit der funktionierenden Häuser für Rechtsprechung quittieren müssen. Denn wozu im Land ein spezielles Gericht etablieren, wenn die Menschenrechte a priori die gewöhnlichen Gerichte der allgemeinen Jurisdiktion verteidigen sollen? Tatsächlich aber, sagte Schablinskij, „verschlechtert sich die generelle Situation. Die Gerichte werden immer mehr zu abhängigen von den Rechtsschutz- und Sicherheitsinstitutionen, erfüllen ihre Aufträge und haben faktisch aufgehört, die Funktion einer Rechtsprechung wahrzunehmen“.

„Die Unmöglichkeit einer Anrufung eines internationalen Gerichtsorgans erfordert mindestens das Durchlaufen aller nationalen Gerichtsinstanzen, deren Position sich oft auf eine formale Zurückweisung der Argumente der Antragsteller reduziert“, sagte Alexander Inojadow, Leiter für Strafrechtspraxis der BMS Law Firm. Viele Jahre lang hätte die Praxis des EGMR die Rechtsanwendung in unserem Land hinsichtlich der Ermittlung und Beurteilung von Tatsachen einer Verletzung der Rechte und Grundfreiheiten beeinflusst, erinnerte er. Die Effektivität des Instituts äußerte sich auch darin, dass seine Schlussfolgerungen das Verfassungsgericht berücksichtigt hätte. Nach Aussagen Inojadows ist es „offensichtlich, dass in unserem Land kein anderes nationales Gerichtsorgan geschaffen wird, das in der Lage ist, effektiv Verletzungen zu ermitteln und die Menschenrechte und -freiheiten zu verteidigen“. Und bei einem Fehlen einer vom Staate unabhängigen gerichtlichen Kontrolle würden viele anzuerkennende Rechte und Freiheiten, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgewiesen worden sind, deklarative bleiben.

„Der Verzicht auf den EGMR markiert die größte Katastrophe für die einheimische Jurisprudenz im 21. Jahrhundert“, meint auch der Experte für die Arbeit mit dem EGMR Anton Ryschow. Er sagte gleichfalls, dass die Sache nicht einmal darin bestehe, dass man tausenden Bürgern Russlands – angefangenen bei Häftlingen und bis hin zu betrogenen Bausparern – die Möglichkeit nehme, Gerechtigkeit in einem internationalen Gericht zu suchen. Das Problem sei ernsthafter: Werde es nach dem Ausscheiden aus dem Europarat nicht zu einer Rückentwicklung in den Ansätzen kommen, die nach den Präzedenzfällen des EGMR in Gang gesetzt wurden? Unsere Gesetzbücher, Gesetze, Reformen, die von den Grundgesetzen des Strasbourger Gerichts durchdrungen sind, werden die Offiziellen sie nicht auch aufheben? Für die Anwälte macht es jetzt Sinn sich zu beeilen, um es zu schaffen, bis zum 16. September jene Klagen beim EGMR einzureichen, die sich gerade im Prozess des Aufsetzens befinden oder ein Durchlaufen der obersten russischen Gerichte erwarten. Die wird der EGMR noch behandeln können. Wie jedoch die Beschlüsse dann umgesetzt werden, ist noch eine andere Frage. Ryschow hält es für notwendig, die Arbeit in der Richtung von Vertragsorganen der UNO zur Verteidigung der Menschenrechte umzugestalten. In diesem Sinne könne man die Erfahrungen von Anwälten aus den Ländern Zentralasiens studieren, die über viele Jahre nur diese Möglichkeit hätten. „Was das Stützen auf die Konvention und die Präzedenzfälle des EGMR in den russischen Gerichten angeht, so nehme ich an, dass man die Formulierung aus Teil 4 des Artikels 15 der Verfassung der Russischen Föderation nutzen kann, die nicht nur den internationalen Verträgen Russlands, sondern auch den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts den Vorrang einräumt. Somit wird die aufgegebene Konvention, die in 46 europäischen Ländern weiterhin wirken wird, weiter Wirkung besitzen wird. Und es macht Sinn, nach wie vor in den einheimischen Gerichten auf sie zu verweisen“, erklärte der Experte.

Es gibt auch entgegengesetzte Meinung, wonach unter den gegenwärtigen Bedingungen Russlands Ausscheiden aus dem Europarat in keiner Weise die Verteidigung der Rechte und legitimen Interessen der Bürger Russlands beeinflussen werde. Vom Wesen her, betonte gegenüber der „NG“ der Anwalt Alexej Gawrischjow, sei die Unmöglichkeit, sich an den EGMR zu wenden, der logische Abschluss jener Meinungsverschiedenheiten und Prozesse, die es früher zwischen der Russischen Föderation und Europa gegeben hätte. Eine Rückkehr der Todesstrafe sei, unterstrich Gawrischjow, natürlich nicht das beste Ergebnis dieser Entscheidung. Er selbst ist sich aber sicher, dass keine „erschwerenden“ Konsequenzen in die Rechtsanwendungspraxis eingeführt werden würden. „Ausgehend von der Praxis der letzten Jahre sind die Gerichte der Berufungsinstanzen, das Oberste Gericht der Russischen Föderation und das Verfassungsgericht Russlands die effektivsten Instrumente, die vom Sinn ein analog zum EGMR sind. Im Zusammenhang damit bin ich mir sicher, dass sie mit den gestellten Aufgaben fertig werden. Ich bin mir gewiss, dass auch die Höhen der Kompensationen zunehmen und die Entwicklung solch einer Praxis dazu führen wird, dass die festgelegten Entschädigungszahlungen dem zugefügten Schaden entsprechen werden“, erklärte der Gesprächspartner der „NG“.

Jaroslaw Bogdanow, Vorsitzender der Stiftung für den Schutz der Rechte von Investoren in ausländischen Staaten, ist ganz und gar der Meinung, dass das Ausscheiden Russlands aus dem Europarat ein „weiteres Signal über die rasante Veralterung und Degradierung der Normen des internationalen Rechts und für die Notwendigkeit der Schaffung neuer Institute, die mehr den heutigen Realitäten entsprechen, ist“. „In dieser Hinsicht kann für Russland das Ausscheiden aus dem EGMR wirklich zu einer Möglichkeit für eine „Importsubstitution“ – für die Entwicklung neuer, moderner und wirksamer Normen und Institute, die sich im Weiteren in das System des internationalen Rechts einfügen können – werden“. Zum Beispiel alles, was mit dem digitalen Bereich zusammenhäng. Für sie gibt es entweder wenig oder er wird ganz und gar nicht geregelt. Notwendig sind aber sowohl ein digitales Schiedsgericht als auch eine globale digitale Allianz, die nach dem Vorbild der UNO zwecks Regulierung und Verankerung von „Spielregeln“ in diesem Bereich geschaffen wird.

Der EGMR sei eher eine „außerordentliche“ Instanz für ein Anfechten der Entscheidungen, die durch russische Gerichte gefällt wurden, konstatierte Natalia Skrjabina, Mitglied der Vereinigung der Juristen Russlands. Sie lenkte das Augenmerk darauf, dass Russlands Außenministerium präzisiert hätte: Russland werde weiterhin die gefällten Beschlüsse des EGMR erfüllen, wenn in ihnen keine Widersprüche zur Verfassung enthalten seien. Die Expertin erinnerte jedoch, dass die Umsetzungsrate der Anweisungen des EGMR in Russland auch so eine relativ geringe sei. Folglich „garantiert ein Anrufen des Gerichts in Strasbourg an sich noch nichts“. Das russische Gerichtssystem sieht ein mehrstufiges Anfechten von Gerichtsentscheidungen in den übergeordneten Instanzen vor. Dies sind eine Berufung als auch zwei Kassationsanträge, eine Aufsicht, aber auch eine Revision aufgrund neuer und sich neu ergebener Umstände. „Solch ein hierarchisches System bedeutet, dass letzten Endes das übergeordnete Gericht nicht nur eine legitime, sondern auch eine gerechte Entscheidung fällt“, erläuterte Natalia Skrjabina.

Der Gründer und CEO der Consulting-Gruppe vvCube Wadim Tkatschenko sagte der „NG“, dass, auch wenn es nichts Analoges zum EGMR in Russland gebe, dies jedoch nicht bedeute, dass die nationalen Institute keine Instrumente für eine Überprüfung der Begründetheit von durch Gerichte getroffenen Entscheidungen in Bezug auf Bürger und der Allumfassendheit der Verteidigung der Menschenrechte sein könnten. Obgleich sich natürlich die Frage nach ihrer Objektivität und Unabhängigkeit „vom vertikalen Zusammenwirken der Kader innerhalb des Gerichtssystems“ ergeben würde. Nach seiner Meinung war das Ausscheiden der Russischen Föderation aus dem Europarat voraussehbar gewesen. Viele tendenziöse Entscheidungen seien noch lange vor dem Jahr 2014 gegen Russland gefällt worden. Und danach seien sie bereits zu einer Praxis geworden. „Das Oberste Gericht als ein Aufsichtsinstanz und das Verfassungsgericht können die Lücke durch das Ausscheiden aus dem EGMR bei Ausarbeitung einer neuen Herangehensweise an den Schutz der Menschenrechte schließen. Auch kann man auf überstaatliche Institute im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion, der GUS oder das Unionsstaates von Russland und Weißrussland hoffen“, wie der Experte hin.