Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Eine Havarie in einem Chemie-Betrieb kann zum Anlass für einen Krieg im Donbass werden


In dieser Woche werden die Außenministerinnen Deutschlands und Kanadas in Kiew weilen. Die Besuche erfolgen vor dem Hintergrund von Erklärungen über die Wahrscheinlichkeit von „Provokationen, die zu einem Vorrücken von Russland auf das Territorium der Ukraine führen werden“. Wladimir Selenskij hat vorgeschlagen, die Situation in einem dreiseitigen Format zu erörtern – mit der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten. Weder in Moskau noch in Washington hat man bisher die Vorbereitung solcher Gespräche bestätigt.

Vor einem Monat war Tobias Lindner, der Staatsminister im Auswärtigen Amt in Kiew gewesen, der sich mit dem ukrainischen Außenminister Dmitrij Kuleba traf. Die Seiten vereinbarten den Besuch von Annalena Baerbock, der am Monta, dem 17. Januar erfolgte. Am Tag darauf wird sie Gespräche in Moskau führen.

Der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums Oleg Nikolenko teilte mit, dass zu den Schlüsselthemen der Montag-Gespräche „die weitere Konsolidierung der Unterstützung für die Ukraine seitens Deutschlands vor dem Hintergrund der aggressiven Handlungen Russlands, eine Aktivierung der friedlichen Regelung des russisch-ukrainischen bewaffneten Konflikts sowie die Erörterung von Schritten zur Verstärkung der bilateralen Zusammenarbeit und Wiederaufnahme der Arbeit des Normandie-Formats“ werden sollten.

Zur gleichen Zeit wurde der Besuch der kanadischen Außenministerin Mélanie Joly bekannt. Es sei betont, dass am vergangenen Dienstag ein Telefonat von Wladimir Selenskij und Kanadas Premierminister Justin Trudeau erfolgte, der dem ukrainischen Präsidenten versicherte, dass „jeglicher militärische Überfall auf die Ukraine ernste Konsequenzen haben wird, inkl. koordinierte Sanktionen“. In einem Interview für den kanadischen Fernsehsender CTV gab Joly keine direkte Antwort auf die Frage, ob Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte geplant seien. Sie sagte: „Die wichtigste Frage ist derzeit die Zusammenarbeit mit der Ukraine hinsichtlich der Gefahren für ihre Sicherheit… Der Verteidigungsminister arbeitet aktiv daran, es erfolgen Verhandlungen mit den Verbündeten“. Die Chefin des kanadischen Außenministeriums erläuterte, dass von der Sicherheit der Ukraine die Sicherheit Europas abhänge und ergo die Sicherheit der ganzen Welt, darunter auch von Kanada.

Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters werde Mélany Joly nach den Gesprächen in Kiew in die westlichen Verwaltungsgebiete der Ukraine reisen, wo seit 2015 eine Mission kanadischer Militärinstrukteure arbeitet. Sie bilden ukrainische Militärs aus. Die Tätigkeit der Mission wird jedes Jahr auf Bitten von Kiew verlängert. Im Rahmen ihrer europäischen Tournee wird die kanadische Ministerin in Paris Gespräche mit dem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian führen und sich in Brüssel mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem Chef der EU-Diplomatie Josep Borrell treffen. „Kanada wird mit seinen Partnern für eine Aufrechterhaltung der auf Regeln basierenden internationalen Ordnung arbeiten“, zitierten ukrainische Medien eine Erklärung von Joly am Vorabend ihres Besuchs.

Im Westen ist man von der Existenz neuer Gefahren für die internationale Sicherheit überzeugt. Wie auch einst erklingen besorgte Erklärungen über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges auf dem ukrainischen Territorium. Ende letzter Woche berichtete der Fernsehkanal CNN unter Berufung auf hochrangige Beamte, dass die USA Informationen über die Vorbereitung einer Sonderoperation durch die russische Seite im Osten der Ukraine erhalten hätten. Geplant sei angeblich, einen Angriff zu inszenieren, um diesen den ukrainischen Streitkräften anzulasten und die Provokation als Anlass für einen Einmarsch auszunutzen. Im Einklang mit dieser Meldung informierte die Hauptverwaltung für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums am vergangenen Freitag, dass „russische Geheimdienste Provokationen gegen Militärs der Streitkräfte der Russischen Föderation vorbereiten, um dies der Ukraine vorzuwerfen“. In der entsprechenden Mitteilung hieß es, dass eine Provokation in den Munitionslagern der operativen Gruppe der russischen Truppen in Transnistrien erfolgen könne.

Am gleichen Tag tauchten auch andere besorgniserregende Nachrichten auf. Erstens wurde ein großangelegter Hacker-Angriff gegen mehrere dutzend ukrainische Regierungsseiten im Internet vorgenommen, nachdem man in Kiew begann, von Gefahren derartiger Attacken für Objekte der kritischen Infrastruktur zu sprechen. Im Zusammenhang damit berief die Europäische Union eine Sondersitzung des entsprechenden Fachkomitees ein. Josep Borrell betonte bei einem Briefing zu den Ergebnissen des informellen Außenministertreffens der EU-Mitgliedsländer: „Leider denke ich nicht, dass dies der letzte Hackerangriff sein wird. Daher sind wir bereit, Spezialisten zu entsenden, sobald Kiew um sie bitten wird“.

Zweitens informierte die Hauptverwaltung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums der Ukraine über einen Störfall in dem großen Chemiebetrieb „Konzern Stirol“, der sich in Gorlowka, auf dem von Kiew nichtkontrollierten Territorium des Donbass befindet. Laut einer offiziellen Meldung erfolge dort aufgrund undicht gewordener Behälter seit dem 14. Januar ein Austreten von Ammoniak. „Die chemische Verschmutzung kann zu einer Umweltkatastrophe im Osten des Landes führen. Moskau kann die Situation ausnutzen, um die militärische Aggression gegen die Ukraine auszudehnen“. Solche Meldungen verbreiteten ukrainische Medien am Wochenende unter Berufung auf die Aufklärung. Außerdem wurde berichtet, dass die OSZE-Sondermission in von Kiew nichtkontrollierten Gebieten Militärtechnik und Waffen außerhalb der Dislozierungsorte entdeckt habe. Außerdem wurde gemeldet, dass Analytiker der Gruppe Conflict Intelligence Team eine Verlegung von „Iskander“-Raketenkomplexen aus dem Fernen Osten in Richtung ukrainische Grenze festgestellt hätten. Insgesamt hat sich ein informationsseitiges Bild ergeben, dass die früheren Erklärungen über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges weiter befeuert.

Die Leiterin der Mission der Ukraine bei der NATO, Natalia Galibarenko, sagte in einem Interview für den US-amerikanischen Sender „Voice of America“, dass nach den in der vergangenen Woche erfolgten Verhandlungen mit Russland die Spannungen an den ukrainischen Grenzen nicht nachgelassen hätten. „Man muss bereit sein, die diplomatischen Anstrengungen fortzusetzen. Man muss aber auch verstehen, dass Russland den Weg eines bewaffneten Konflikts wählen kann“. Russische Nachrichtenagenturen zitierten zu diesem Zeitpunkt Worte des Pressesekretärs des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, der gesagt hatte, dass Moskau dennoch eine „sehr konkrete Antwort auf seine sehr konkreten Vorschläge“ zu Garantien für die Sicherheit der Russischen Föderation erhalten möchte. Er erläuterte: „Wir haben zu große Spannungen an der Grenze. Es gibt zu viele Spannungen in diesem Teil Europas“. Dabei erinnerte Peskow daran, dass der Westen nach wie vor keine Beweise für die Erklärungen über die Vorbereitung eines militärischen Überfalls von Russland auf ukrainisches Territorium veröffentlicht hätte.

Der ehemalige Leiter des ukrainischen Dienstes für Auslandsaufklärung Nikolaj Malomusch schrieb in einer Kolumne für das Nachrichtenportal „Glavred“ („Chefredakteur“): „Es ist klar, dass Russland erneut die Einsätze erhöht, selbst nach den erfolglosen Verhandlungen im Rahmen USA-Russland-NATO-OSZE… Die Situation wird geschürt, die Temperatur ist eine hohe. Es lohnt jedoch nicht, großangelegte Operationen von Russland zu erwarten. Möglich sind vielleicht Spezialoperationen in einzelnen Regionen (zum Beispiel im Donbass)“. Er ist der Auffassung, dass keiner an einem globalen Krieg interessiert sei, bei dem Nuklearwaffen-Potenziale zum Einsatz gebracht werden könnten. Malomusch betonte, dass nicht so sehr ein direkter militärischer Überfall befürchtet werden müsse, über den die Medien schreiben, sondern Operationen zur Destabilisierung auf dem friedlichen Territorium der Ukraine. „Russland haut weiterhin auf wunde Punkt ein – in Bezug auf die religiösen, zwischenregionalen und politischen Beziehungen in der Ukraine“.

In den westlichen Hauptstädten denkt man, dass sich die Sache nicht auf eine innere Destabilisierung beschränken werde. Bezeichnend ist da die Erklärung des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im britischen Unterhaus (House of Commons) Tobias Ellwood. Laut einer Meldung der Zeitung „The Independent“ erklärte er, dass eine russische Militäraggression gegen die Ukraine „unabwendbar und unausweichlich“ sei. Und dass die kommende Woche zu einer entscheidenden werde.

Der Leiter des Office des Präsidenten der Ukraine, Andrej Jermak, erklärte, dass Selenskij vorgeschlagen habe, Gespräche mit Putin und Biden durchzuführen. Es sollte „ein trilaterales Treffen organisiert werden, möglicherweise im Videokonferenz-Regime… Wir erwarten eine Reaktion der russischen Seite. Unsere amerikanischen Partner haben aber den Vorschlag mit Interesse aufgenommen“. Putins Pressesekretär Dmitrij Peskow sagte Journalisten, dass man in Moskau von Washington bisher keine Vorschläge für die Abhaltung solch eines Gipfeltreffens erhalten hätte. Die Sprecherin des Weißen Hauses Jen Psaki betonte, dass sie über keine Informationen über den ukrainischen Vorschlag verfüge, die USA aber generell zu verschiedenen Gesprächen bereit seien. „Wenn sie entscheiden, dass sie an diplomatischen Gesprächen teilnehmen möchten, sind wir dafür offen“.

Der ukrainische Politologe und Direktor des analytischen Zentrums „Penta“ Wladimir Fesenko sagte, dass „bisher die Chancen dafür, dass ein Treffen in einem trilateralen Format erfolgen kann, gelinde gesagt nicht sehr groß sind. Ich denke, dass Russland dem wohl kaum zustimmen wird“. Nach seiner Meinung sei Wladimir Putin bereit, nur mit Joseph Biden zu sprechen.