Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Eine kommende Legitimitätskrise


Die erste September-Dekade ist traditionell eng mit der Problematik des Zweiten Weltkrieges verbunden: Am 1. September erinnerte sich die Welt des Jahrestages seines Beginns, am 2. September – des Jahrestages seines Endes. Vor diesem Hintergrund erklärte Russlands Außenminister Sergej Lawrow am 30. August: „Die Angriffe auf Stalin als hauptsächlichen Übeltäter, das Zusammenwerfen von allem, was er in der Vorkriegszeit, während und nach dem Krieg getan hatte, auf einen Haufen – dies ist doch auch ein Teil eben jenes Angriffs auf unsere Vergangenheit, auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs“.

In den Worten Lawrows hat die liberale Öffentlichkeit sowohl in unserem Land als auch in Osteuropa eine gewisse Variante einer „Rehabilitierung des Stalinismus“ ausgemacht. Aber wenn man sich einmal Gedanken macht, so demonstrieren sie lediglich einen Teil jenes Problems, das uns alle in der Zukunft erwartet.

Die gegenwärtige Weltordnung ist entsprechend den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs konstruiert worden. Wir leben weiter entsprechend den Regeln, die durch die Siegermächte festgelegt worden waren. Das System der UNO (einschließlich des Sicherheitsrates und seiner ständigen Mitglieder), der internationalen Wirtschaftsregulierung (IWF, Weltbank, GATT/WTO) und des internationalen Rechts (angefangen bei der Charta der UNO bis zur ICAO) ist durch den Zweiten Weltkrieg geschaffen worden. Es hatte auch die grundlegenden Normen für das internationale Zusammenwirken bestätigt: die Anerkennung der formalen Gleichheit der Völker und Rassen, die Gleichberechtigung der großen und kleinen Länder und die Einschränkung des souveränen Rechts der Staaten hinsichtlich der Erklärung eines Kriegszustands. Zu den Überresten des Zweiten Weltkriegs gehören sowohl die bis in die Gegenwart erhalten gebliebenen Einschränkungen für die Souveränität Japans und Deutschlands als auch die Grenzen zwischen den heutigen europäischen Ländern.

Unsere Werteskala ist gleichfalls entsprechend den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges geschaffen worden. Wir postulieren, dass wir in einer humanistischen Zivilisation leben würden und dass sie alternativlos sei. Wir verurteilen Populismus, denn wir erinnern uns, dass der Populismus von Mussolini und Hitler zum Zweiten Weltkrieg führte. Wir verurteilen Rassismus, denn wir erinnern uns an das Aussehen der Nazi-Konzentrationslager. Wir halten etwas für unzulässig, wenn ein Politiker oder Experte vom Krieg wie über etwas Abstraktes und Notwendiges spricht, denn wir erinnern uns erneut des Zweiten Weltkriegs. Auf zahlreichen Internet-Foren werden die „Sofa-Anführer“ verurteilt: Die Nutzer, die zur militärischen Lösung eines Problems aufrufen, schicken sich selbst nicht zu kämpfen an. Interessant ist, dass beispielsweise während des Krimkriegs solch eine Haltung eine Norm war. Es wurde die Auffassung vertreten, dass kleine Kontingente von Profis kämpfen und das Volk den Krieg aus London, Paris oder Petersburg beobachten sollten.

Wir bemerken oft nicht, dass wir im Erbe des Zweiten Weltkriegs leben. Die Kommunisten und Liberalen, unversöhnliche Gegner, streiten sich im Rahmen einer Moral- und Werte-Skala. Die ersten beweisen, dass das geheime Zusatzprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt eine Fälschung oder Notwendigkeit für die UdSSR gewesen sei. Die zweiten beweisen, dass dieses Dokument den Stalinismus und Nazismus auf eine Stufe hebe. Aber stellen wir uns (einmal) vor, dass ein gewisser dritter – ein berechnender und zynischer politischer Realist im Geist von Palmerston oder Bismarck – auftaucht, der kühl sagt, dass es ein natürliches Recht der großen Staaten sei, die kleinen Länder in Einflusssphären aufzuteilen. Der Streit verliert jeglichen Sinn, denn er wird im Rahmen einer anderen Moral- und Werteskala geführt, in der der Wiener Ordnung.

Die gesamte Struktur der Weltordnung und unser Wertesystem sind jedoch durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs legitimiert worden. Im Zuge des Sich-entfernens von ihm werden die eigentlich offensichtliche Werte verwaschen und vage. Was wird der Zweite Weltkrieg für die Generation sein, die im Jahr 2017 oder 2020 geboren wurde? Etwas in der Art des (Vaterländischen) Kriegs von 1812, zu einem fernen historischen Ereignis mit einer historischen Romantik im Geiste von Tolstois „Krieg und Frieden“. Für deren Kinder, die etwa im Jahr 2050 geboren werden, kann der Krieg auch ganz und gar einen Varieté-Charakter erlangen – Husaren, Kornetts (Hörner), Epauletten -, wie dies im Grunde genommen mit den Napoleonischen Kriegen zum Ende des 19. Jahrhunderts geschah.

Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts können unbequeme Fragen auftreten. Warum müssen gerade die fünf Siegermächte in dem fernen Krieg (nach dem es im Übrigen bereits einen Haufen Kriege gegeben hat) nach wie vor die Welt lenken? Warum müssen sich Deutschland und Japan in einer ungleichen Lage befinden, obwohl die Generation, die sich an jenen Krieg erinnert, schon lange der Geschichte anheimgefallen ist? Warum sind die Grenzen, die im Ergebnis jenes Krieges festgelegt worden waren, eine gewisse heilige Kuh und eine neue Norm für Jahrhunderte? Letztlich existieren alle Länder Osteuropas in unseren Tagen in einem sowjetischen „Baumuster“: die ehemaligen sozialistischen Länder – (im Baumuster) aus der Mitte der 1940er Jahre und die früheren Republiken der UdSSR – in dem von 1990. Aber müssen wir sie als endgültige ansehen? Oder sind sie nur eine Zwischenetappe der historischen Entwicklung und werden sie sich unter bestimmten historischen Bedingungen genauso verändern wie auch alle Grenzen vor ihnen?

Die Thematik des Stalinismus zieht zwei langfristige Probleme nach sich. Erstens ergibt sich die Frage nach dem Platz Russlands im UN-Sicherheitsrat als Rechtsnachfolger und Fortsetzer der Stalinschen UdSSR. (Wenn Russland Rechtsnachfolger nicht der UdSSR, sondern des Russischen Imperiums ist, müssen wir auf Neue alle völkerrechtlichen Dokumente unterzeichnen.) Zweitens wird die Frage nach der Legitimität der durch Stalin festgelegten Grenzen in Osteuropa wiederauferstehen. Polen hatte vier deutsche Provinzen erhalten (Schlesien, Posen, Vorpommern und einen Großteil von Ostpreußen). Und im Osten hatte dessen Grenzen der sowjetisch-polnische Vertrag von 1945 festgeschrieben. Aber wenn der Stalinismus auf internationaler Ebene kriminell bzw. verbrecherisch ist, wie sind da Stalinschen Grenzen zu bezeichnen? Ob die Frage nach der deutschen und ungarischen Reconquista in Osteuropa eine abgeschlossene ist, ist bisher unbekannt. Entweder ist sie abgeschlossen oder Deutschland und Ungarn erholen sich noch von der Katastrophe Mitte des 20. Jahrhunderts.

Experten machen sich oft darüber Gedanken, ob uns ein hypothetischer Nuklearkrieg oder eine Klimakatastrophe dem Tode weihen wird. Dabei ignorieren wir irgendwie das wichtige Thema des Zusammenwirkens von Krieg und Gesellschaft. Der Erste Weltkrieg hatte nicht zufällig 1914 begonnen, genau einhundert Jahre nach Abschluss der Napoleonischen Kriege. Schon vor den Politikern der 1890er Jahre hatte sich die Frage gestellt: Wenn die Napoleonischen Kriege bereits zu so weit zurückliegenden und varietéartigen geworden, so ist es unmöglich, die Weltordnung mit ihren Ergebnissen zu legitimieren. Gebraucht wird ein neuer Sieg als ein neuer Bezugspunkt.

Wird aber nicht unsere in Jalta und Potsdam festgelegte Ordnung den ganzen Weg der Wiener Ordnung „von Waterloo bis Sarajevo“ wiederholen?