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Eine Polizeidrohne patrouilliert über Textilstschiki


„Antikörper“ ist ein aktueller Text (wenn man genauer ist, hier und jetzt – ein im Trend liegender: nur zu populär ist das sattsam bekannte Virus-Thema). Kirill Kutalow, der früher in den Journalen „Snamja“ (seit 1931 in Moskau erscheinende monatlich erscheinende Literaturzeitschrift), „Topos“ (seit 2001 im Internet etablierte Literatur- und philosophisch-kulturologische Plattform, deren Redaktion sich in Moskau befindet) und „Mitin Shurnal“ (seit Januar 1995 erscheinende Literaturzeitschrift, die in Moskau durch Dmitrij Woltschek herausgegeben wird) publizierte, hatte vor diesem Roman zwei Bücher herausgebracht – die Sammlung von Erzählungen „Radio Babylon“ und die Reisebeschreibungen „Verbotene Früchte“. Für die Leser, die die Aktualität des Erscheinens von „Antikörper“ (in diesem Jahr durch den Verlag „Verlagslösungen“ herausgebracht – Anmerkung der Redaktion) beurteilen können, wird es sicherlich interessant sein, auch die anderen Arbeiten des Autors kennenzulernen.

Also denn: Wozu „Antikörper“ lesen? Wir probieren, der Sache auf den Grund zu gehen. Auf jeden Fall wird dem einen dieser Roman gefallen, bei einem anderen ein gereiztes Lächeln auslösen. Sowohl die einen als auch die anderen haben dazu ein Recht. Ja, über Geschmäcker streitet man sich, na und?! Professionelle literarische Streitgespräche haben – versteht sich – einen Sinn. Was aber die Autorin dieser Zeilen angeht, so gehört der Kutalow-Text nicht zum persönlichen „obligatorischen Leseprogramm“, obgleich die letzte Seite bereits umgeblättert worden ist. Nun, und der Nachgeschmack der Neuheit ist ein eindeutiger: Es werden sich eine Menge von Menschen finden, die der Roman „fesselt“ und nicht gleichgültig lässt.

Kutalow „baut“ in die Antiutopie sehr bekannte Moskauer Realitäten ein und stellt sich die globale Frage (beinahe eine rhetorische), wie man in der Quarantäne aufgrund der angenommenen Pest zu überleben und ungebrochen zu bleiben vermag sowie sich seiner treu bleiben kann – wenn man dies natürlich zulässt. Als ob du BIS zur Quarantäne dies überhaupt gewesen warst…

Die Nachrichtenseiten, dieser ganze wilde – wie man jetzt sagt: toxische Informationsfluss, der sich über die gegen ihn ungeschützten (Menschen) ergießt, sie sind sozusagen mit dem Text des Romans parallelgeschaltet worden – à la Reportage-Prosa, insgesamt eine kinematografische. Alles ist im Präsenz, hier und jetzt. So ein schnell lesbares Filmszenarium: „Am Sonntagmorgen patrouilliert eine Polizeidrohne den Luftraum über dem Stadtbezirk Textilstschiki…“.

Stilistische Gourmethappen gibt es nicht und wird es nicht geben. Alles ist auf maximale Art und Weise klar, fast kartografisch. Eine Schach-Partei ums Überleben. Eine kaleidoskopartige Geometrie der Personen, die in unterschiedlichste Umstände geraten, aus denen man unbedingt herauskommen muss. Da ist Ocker, der Zeit von seinem Leben an die „Stählerne Phalanx“ der Aufgeteilten Metropolie verkauft. Da gibt es den Business-Analytiker aus der Reiseagentur „Antidot“ Lischnjew. Da sind „Bärenmarder“ und auch Vika, eine Stewardess des Fluges mit der Nummer 915 Venedig – Moskau… Megapolis ist gleichfalls eine durchaus reale Person. Und da taucht auch schon („wie ein lebendiges“) das Zentrum für Wahl-Spiele an der Dmitrowka – ein massives graues Gebäude mit einem Wappen (der Sitz des Föderationsrates, des Oberhauses des russischen Parlaments in der Moskauer Bolschaja-Dmitrowka-Straße – Anmerkung der Redaktion) – auf. Der Leser vernimmt, wie auf der Twerskaja-Straße die Cyber-Gardisten mit den Gelenkverbindungen der chromierten Beine klappern, er hört das Gerassel der Pfoten ihrer Cyber-Hunde… Da gibt es nichts Unnötiges. Einfach echter Polizeiterror. Das ist fantastisch! Ja, und auch der ständig vom Bildschirm aus lächelnde Big Brother (nennen wir ihn einmal so)…

„Am Sonntag ist es auf den Straßen des Zentralen Bezirks der Aufgeteilten Metropolie belebt. Heute ist Feiertag, das erste Wochenende nach den Wahlen, ein traditioneller Tag, an dem die Physischen ins (Stadt-) Zentrum fahren, um über die Boulevards zu spazieren und an Teichen Kaffee zu trinken. Lischnjew begibt sich auch ins Zentrum. Er fährt mit der Metro bis Tschistyje. Dort begibt er sich nach oben und begibt sich über die Boulevards nach unten, in Richtung Neglinnaja. Durch das Laufen an der frischen Luft wird ihm frohgemut. Die Luft bringt das Blut in Gang. Und selbst der vorgestellte Serjoscha verkleinert sich scheinbar in den Abmessungen und verflüchtigt sich irgendwohin in Richtung Bewusstsein. Es strahlt die Sonne, vom Bildschirm auf dem Dach der Zentralbank schaut ein neuer Präsidenten-Bot. Er lächelt, neigt den Kopf etwas zur Seite, in den Augenwinkeln sind feine Falten zu sehen…“

In dem angenommenen Imperium hat man das Jahr 2027. Die „Nichteinverstandenen“ jagen die Sadisten – die Vertreter der Rechtsschutzorgane – auseinander. Das tödliche Virus, das sich nicht um die Unterschiede zwischen jenen, die „alles haben“ (oder für die es wenig Unmögliches gibt), und die arm wie eine Kirchenmaus sind, schert, macht nicht nur das Leben zu einem unerträglichen, sondern scheinbar gar selbst dessen Ausbleiben. Die Helden-Funktionen (ja, mitunter erscheinen die Personen von Kutalow gerade Funktionen und keine lebendigen Menschen zu sein) leiden, gucken Pornos, saufen, zählen Geld und denken darüber nach, „wie weiter“, wenn das SFD – das Polizeisystem zur Feststellung von Diskrepanzen – dich ständig verfolgt und beschattet: „es ist doch für deine Sicherheit“… Erinnert das nicht an etwas?

Die Probe einer Apokalypse: ein Lesestoff für jene, die dorthin schauen möchten, wo es noch schlimmer ist. Noch schlechter als in der realen Pandemie, an die sich viele gewöhnt haben – aber nur zeitweise.