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Eine Sowjetisierung der Ukraine gehört nicht zu den Kreml-Plänen


Am Dienstag dauerte die von Präsident Putin am 24. Februar angeordnete russische Sonderoperation bereits den 41. Tag an. Und in dieser Zeit sind keine Vorschläge zum neuen Staatsaufbau der Ukraine aufgetaucht bzw. bekannt geworden. Unklar ist gleichfalls, was Moskau Kiew hinsichtlich angestrebter Friedensabkommen geantwortet hat. Es gibt auch keine Angaben über Entscheidungen zur Organisierung einer Verwaltung in den von russischen Truppen besetzten Zonen – außer in Bezug auf humanitäre Hilfsleistungen. Militär- und Zivilverwaltungen weisen keine natürlichen Spuren auf, nur propagandistische. Die Rede ist von Problemen mit der Zuführung von Freiwilligen und der Auswahl lokaler Kader. Der Staatsapparat der Russischen Föderation demonstriert scheinbar wieder einmal seine Ineffizienz. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Kreml nicht mit einer unweigerlichen Resowjetisierung der Ukraine aufgrund rein russischer innenpolitischer Ursachen befassen möchte.

Der Vorsitzende der Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) Wjatscheslaw Wolodin (von der Kremlpartei „Einiges Russland“) informierte über die Schaffung von Abgeordnetengruppen für eine Zusammenarbeit mit den Parlamenten der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik. Dies ist die erste politische Entscheidung nach der Anerkennung der Souveränität der ehemaligen ukrainischen Verwaltungsgebiete durch die Russische Föderation.

Derweil ist in den 41 Tagen der sogenannten Sonderoperation nicht klar geworden, welche Handlungen außer militärischen für das Erreichen der offiziell vom russischen Präsidenten erklärten Ziele zur Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine vorgesehen sind. Mehr noch, die Situation wurde auch dann nicht klarer, nachdem die Kiewer Offiziellen den russischen ihr Verständnis für das Wesen eines potenziellen Friedensabkommens beider Länder dargelegt hatten. Anstatt deutlich seine Position zu formulieren, hat sich Moskau erneut auf allgemeine Phrasen beschränkt. Kurz gesagt: Anfang April wurde offensichtlich, dass Russland sowohl keine Pläne für einen neuen Staatsaufbau der Ukraine hatte als auch keine solchen derzeit hat. Denn zu erklären, dass es sie tatsächlich gebe, dies aber jedoch ein großes Geheimnis sei, ist wohl jetzt kaum möglich. Und, was das Wichtigste ist, politisch wohl kaum zweckmäßig.

Mehr noch: Dies ist politisch schädlich, da der patriotisch eingestellte Teil der Gesellschaft, in dem die Unterstützung für die Sonderoperation anfangs schnell die Krim-Werte erreichte und dann übertroffen hat, bereits darauf besteht, dass der Kreml seinen Plan verkündet. Freilich erfolgt dies hauptsächlich im Informationsbereich und im herrschaftstreuen Internetsegment, die die staatliche Bürokratie nach wie vor für vollkommen steuerbare hält. Jedoch erfolgte dieser Tage gerade von dort aus ein Schlag in den Medien, als die mittleren Schichten des russischen Beamtentums zumindest als schlechte Vollstrecker der Entscheidungen von oben bezeichnet wurden. Und es erklangen bereits auch Verdächtigungen, ob dies nicht etwa Merkmale einer gewissen Sabotage seien.

Der Ex-Abgeordnete der Werchowna Rada aus den Vor-Maidan-Zeiten, Oleg Zarjow, der aktiv mit den russischen Militärbehörden im Verlauf der Sonderoperation zusammenarbeitet, veröffentlichte überraschend eine Zusammenstellung von Briefen von russischen Freiwilligen, die bisher nicht in die Ukraine entsandt wurden oder es real nicht bis dorthin geschafft haben. Der Blogger Jurij Podoljaka, der mehr als eine Million Follower hat, warf seinerseits das Thema der seines Erachtens merkwürdigen Personalpolitik in den von den russischen Truppen besetzten und kontrollierten Gebieten auf. Laut seinen Angaben würden irgendwelche prorussischen Aktivisten einfach ignoriert werden, andere recht erfahrene Menschen würden als Fahrer in der Bürgerwehr der Donbass-Republiken dienen. Und das Machtvakuum an einigen Orten würden kriminelle Elemente ausfüllen, die früher angeblich mit den sogenannten ukrainischen Nationalisten-Bataillonen und den Streitkräften der Ukraine zusammengearbeitet hätten.

Es sei daran erinnert, dass, wie die „NG“ bereits schrieb, gerade Zarjow und Podoljaka — den Offiziellen der Russischen Föderation durchaus loyal gegenüberstehende Ukrainer – vor einiger Zeit begonnen haben, Informationen über die Etablierung von Militär- und Zivilverwaltungen zu verbreiten. Wobei sowohl vom Süden – im Gebiet Cherson und in einem Teil des Verwaltungsgebietes Saporoschje – als auch im Norden – in den Verwaltungsgebieten Tschernigow und Sumy – die Rede war. Freilich hatte der frühere Abgeordnete auch noch Orte zumindest im Verwaltungsgebiet Kiew erwähnt. Jetzt aber bemühen sie sich, sich nicht besonders daran zu erinnern. Augenscheinlich weil vor Ort nichts Derartiges erfolgt. Auf jeden Fall ist es nicht möglich, tatsächliche Spuren von Militär- und Zivilverwaltungen – Namen von Siedlungen oder Kreisen, Namen von Führungskräften und Anschriften, wo Einwohner empfangen werden – ausfindig zu machen. Es gibt auch nicht eine einzige Fotografie eines entsprechenden Schilds, was unter den heutigen Realitäten undenkbar ist, wenn irgendein Objekt existiert. Keine Bestätigungen liefert beispielsweise auch das Mitglied des sogenannten Hauptrates der Militär- und Zivilverwaltung von Saporoschje, Wladimir Rogow. Er weist sich gerade so aus, sagt aber nicht, wo sich diese Verwaltung befindet und wer sowohl sie selbst als auch ihren Rat leitet. Dafür ist aber Rogow an der vordersten Linie der Informations- und Propaganda-Front. Genauso wie auch das gewisse Komitee zur Rettung des Gebietes Cherson „Für Frieden und Ordnung“, über das die „NG“ gleichfalls geschrieben hat.

Wie es scheint, gibt es für diese Situation einige Erklärungen. Eine ist vom Prinzip her eine objektive, eine andere – eine durchaus mögliche, und die dritte ist eine rein vermutete. Die erste besteht darin, dass die russische Bürokratie vertikal aufgebaut ist. Und folglich wird keiner ohne Anweisungen von oben nichts tun. Da in der letzten Zeit der Erhalt von Emanationen des politischen Willens aus den höchsten Führungsriegen erschwert worden ist, gerät die Situation oft in eine Sackgasse. Wobei alle bereits begreifen, dass man etwas tun muss. Was aber genau weiß keiner. Die Initiative kann sich aber traditionell als eine strafbare erweisen. Ein zweiter Moment ist, dass wahrscheinlich der eine oder andere Militärchef, der eine Region kontrolliert, auf die Frage von Aktivisten über Garantien und die Perspektiven des konkreten Territoriums antwortet, dass es keine Informationen gebe. Wonach diese auseinandergehen und nach Hause zurückkehren, um Posts über die „russische Welt“ zu schreiben. Und werden Saporoschje und das Gebiet von Cherson wirklich unter der Herrschaft der Russischen Föderation bleiben oder nicht? Die Gebiete Tschernigow und Sumy sollte es scheinbar, doch dann ist es anders gekommen.

Und schließlich gibt es eine Vielzahl von mit Fakten untermauerten Beweisen aus der Ukraine über die große Popularität von roten Bannern dort. Mit ihnen fährt russische Technik herum. Man befestigt sie zusammen mit der russischen Trikolore an Verwaltungsgebäuden. Mehr noch, fast alle prorussischen Aktivisten sind Menschen linker Anschauungen, die sie vor allem aus der sowjetischen Vergangenheit ihres Landes übernommen haben. Somit müsste sich der Kreml im Falle einer Aktivierung der politischen Arbeit sozusagen mit einer Resowjetisierung der Ukraine befassen oder die bestehenden sozialen Strukturen unterstützen. Anders gesagt heißt dies, den einheimischen Oligarchen die Entnazifizierung zu übertragen, die gerade die entgegengesetzten Prozesse finanzierten. Folglich hat sich da auch eine Sackgassen-Situation ergeben, die durch rein russische innenpolitische Gründe verschlimmert wird. Es ist schwierig, zur gleichen Zeit eine Marginalisierung der KPRF vorzunehmen und deren analogen Strukturen beispielsweise in den neuen Volksrepubliken aus der Taufe zu heben.