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Eine Überprüfung auf Flexibilität oder ein zerstörerischer Testlauf


Nach Abschluss des Einheitlichen Abstimmungs- bzw. Wahltages 2022 sind eine Vielzahl von Einschätzungen aufgetaucht, die dessen Ergebnisse mit der Haltung der Bevölkerung zum gegenwärtigen Kurs der agierenden Offiziellen in Verbindung bringen. So sowohl insgesamt als auch im Einzelnen natürlich zur militärischen Sonderoperation, die bereits mehr als 200 Tage andauert. Durch die offiziellen Redner wird das gesamte Wesen der Situation der Kürze halber auf eine Unterstützung des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin reduziert. Es sei angemerkt, dass dieser Satz gerade so auch aussehen soll, um beim Durchlesen sowohl von links nach rechts als auch umgekehrt einen Sinn zu haben.

Der Pressesekretär des Präsidenten, Dmitrij Peskow, verwendete beispielsweise die These in der Art und Weise, dass es am Sieg der amtierenden Gouverneure angeblich einen Verdienst von Putin gebe, der diese Kandidaten unterstützt hätte. Über seinen Anteil an den gesamten Prozent-Zahlen war nichts gesagt worden. Tatsächlich hatte das Staatsoberhaupt wirklich mit jedem öffentlich gesprochen, aber die Erfolgswünsche für sie – für seine eingesetzten Männer — nicht mit der Präzisierung „bei den Wahlen“ versehen. Dennoch hat es der Kreml für nötig erachtet, diesen Gedanken zu unterstreichen.

Die kremlnahen Politologen haben bereits wissenschaftlich erläutert, dass auch die guten Ergebnisse der regierenden Partei „Einiges Russland“ die Folge eines hohen Grades an Involviertheit der Partei in die Agenda der Sonderoperation sei, das heißt: in die Agenda persönlich von Putin. An diese Verbindung erinnert erneut auch Peskow: „Alles, was sich ereignet, jegliche Handlungen, die die Militärs im Verlauf der militärischen Sonderoperation unternehmen, werden dem Obersten Oberbefehlshaber gemeldet“. Da die Frage die erneute „Umgruppierung von Kräften und Mitteln“ der Armee im (ukrainischen) Verwaltungsgebiet Charkow betraf, hat eine derartige Antwort scheinbar den Gesprächen einen grundsätzlichen Charakter verliehen, dass Putin auch die Sonderoperation im manuellen Regime führe.

Die Sache besteht verständlicherweise nicht nur in solchen Überlegungen – unter Berücksichtigung dessen, dass hinsichtlich dieser Manöver in der Gesellschaft ein kritisches Unverständnis aufgetreten ist. Daher haben wir es — allem nach zu urteilen — mit einer erneuten Aktualisierung des Vorgehens im Schwarz-weiß-Format zu tun: Bist du für Putin oder gegen ihn? Diese These, die von der nicht zum System gehörenden, von der außerparlamentarischen Opposition für einen Kampf gegen die Herrschenden ohne Schattierungen und Halbtöne in Umlauf gebracht worden war, nutzen jetzt auch die Herrschenden selbst mit einem für sich offenkundigen Vorteil aus. Das Reduzieren aller lokalen und folglich konkreten Tagesordnungen bis zu solch einer globalen Frage erlaubt zum Beispiel dem Staatsapparat, sie zuerst ruhig zu ignorieren. Und danach bereits auch die Mechanismen für eine Lösung lokaler Probleme zu liquidieren – zusammen mit den entsprechenden Grassroot-Initiativen und -Politikern, die versuchen, ohne Sanktionen zu deren Trägern zu werden. Obgleich sie möglicherweise oder gar ganz bestimmt nicht gegen Putin sind, sondern im Gegenteil ihm gern helfen würden – wie naiv sie doch sind -, mit den negativen Konsequenzen des gesamtrussischen Spielens eines manuellen Antriebs fertig zu werden.

Aber was für ein anderer kann dieser Antrieb im Grunde genommen noch sein, wenn in ihm das Wesen der innerhalb von zwei Dezennien errichteten Führungsvertikale besteht? Die sattsam bekannte Machtpyramide ist hier, woran erinnert sei, ganz und gar keine nach Etagen angeordnete Gesamtheit von Hierarchien mit einer Aufteilung von Vollmachten, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Das Putin-System ist wahrscheinlich überhaupt keine Pyramide, das heißt – eine fundierte Figur, sondern eine gewisse Art von Mast. Für seine Stabilität werden ein gehöriger, unter der Oberfläche liegender Teil und das Betonieren einer weitläufigen Fläche gebraucht. Was in der Realität solch eine Röhre vertikal hält – ein ausschließlich „in der Tiefe versunkenes Volk“ (ein Begriff, der vom ehemaligen Putin-Berater Wladislaw Surkow geprägt wurde und ein politisch uninteressiertes, aber an politischen Veranstaltungen teilnehmendes Volk meint – Anmerkung der Redaktion), eine geheime Tschekisten-Bruderschaft oder rein Konstruktionsklammern, muss bald – wie es scheint – verstanden und eventuell gar erfahren werden.

Dies wird augenscheinlich gerade die Sonderoperation fördern. Obwohl bisher auch nicht vollends klar ist, was für ein Test dem Bauwerk bevorsteht, das vom Aussehen her ein stählernes zu sein scheint – die Überprüfung auf Flexibilität oder kein zerstörungsfreier Kontrolltest? Der Modus operandi dieses Herrschaftsmasten ist eine ständige Vermittlung des Bildes, wie der Präsident im Alleingang mit allen Problemen des Landes und dessen Bürger fertig wird. In einem friedlichen Leben kann so etwas möglicherweise noch irgendwie mit der Realität harmonieren, besonders wenn die nicht allzu sehr effektiv organisierten Herrschenden keine Gegner haben oder sie erfunden worden sind. Sobald jedoch solche auftauchen, wird die bisher klare bzw. scharfe Darstellung offenkundig zu flimmern beginnen