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Entscheidungen russischer Gerichte lösen weiterhin in Strasbourg Erstaunen aus


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) war erneut gezwungen gewesen, die Offiziellen der Russischen Föderation an die Notwendigkeit zu erinnern, die Einstufung eines ausländischen Bürgers als einen für das Land unerwünschten, zu begründen. In Strasbourg ist man erneut erstaunt, warum für die Gerichte in der Russischen Föderation die Verweise auf eine Gefahr für die nationale Sicherheit ohne Beweise ausreichend sind. Die „NG“ erhielt eine Untersuchung über die Spezifik des Verhaltens der einheimischen Justiz gegenüber Zugereisten. Beispielsweise haben die Gerichte im ganzen vergangenen Jahr den Erlass des Präsidenten über das Verbot einer Ausweisung ausländischer Bürger während der Corona-Pandemie ignoriert oder ihn umgangen.

Die willkürlichen und mitunter unmotivierten Schlussfolgerungen über Gefahren für die nationale Sicherheit von Seiten ausländischer Bürger sind keine unbedingte Grundlage für deren Ausweisung aus der Russischen Föderation, unterstrich man in Strasbourg.

Der EGMR hat ein weiteres Mal konstatiert, dass die Normen der russischen Gesetze so verfasst worden sind, dass jeglicher Ausländer mit einem „One-Way-Ticket“ ausgewiesen werden kann, selbst derjenige, der bereits legal im Land lebt. Es geht nicht nur um eine Ausweisung, sondern auch um Verbote für eine erneute Einreise, darunter um unbefristete. Dabei können die staatlichen Behörden oft die Gründe für die Anerkennung eines ausländischen Bürgers als eine „reale Gefahr“ für den Staat oder die öffentliche Ordnung nicht erklären oder wollen es nicht.

Der EGMR hat zum Beispiel im Verlauf der Behandlung der Klage des französischen Professors Philippe Frison herausgefunden, dass die russischen Beamten ihm die Verkündung der Argumente verwehrten, die die Vorbereitung zur „gewaltsamen Veränderung der Grundlagen der Verfassungsordnung“ bestätigt hätten. In Strasbourg hält man solch eine Vorgehensweise für eine unzulässige. „Dies macht eine Anfechtung der Behauptungen der Sicherheitsdienste durch die Vorlage von entlastenden Beweisen – solchen wie ein Alibi oder eine alternative Erklärung von Handlungen – unmöglich.“ Laut Angaben des russischen Innenministeriums haben die Einwanderungsbehörden im Jahr 2020 rund 189.000 Entscheidungen über das Verbot einer Einreise in die Russische Föderation gefällt.

Seinerseits hat das Komitee „Bürgerunterstützung“, das sich mit einer Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und Einwanderern befasst und in Russland als ein „ausländischer Agent“ eingestuft worden ist, eine Übersicht zur Deportationspraxis des vergangenen Jahres vorbereitet. Es stellte sich heraus, dass im Jahr 2020 die Anzahl der Beschlüsse über ordnungsrechtliche Ausweisungen ausländischer Bürger aus der Russischen Föderation doch um fast 75 Prozent zurückgegangen ist. Gerade im Zusammenhang mit dem Moratorium in Bezug auf solche Entscheidungen, das entsprechend einem Präsidentenerlass verhängt worden war. Im Jahr 2019 hatten die Gerichte der ersten Instanz entschieden, 125.000 Menschen auszuweisen, im Jahr 2020 – 33.000, wobei die überwältige Mehrheit solcher Entscheidungen vor dem Erlass gefällt worden war, heißt es in dem Dokument. Meistens bestrafte man die Migranten wegen der Nichteinhaltung der Einreiseregeln oder wegen einer illegalen Arbeitstätigkeit.

Das heißt, betonen die gesellschaftlichen Aktivisten: Ungeachtet des Erlasses haben viele Gerichte weiter Entscheidungen über eine Ausweisung von Eingereisten gefällt. Einige Richter versuchten, ihn zu umgehen, wobei sie beispielsweise darauf bestanden, dass eine Einlieferung ausländischer Bürger für eine unbestimmte Zeitdauer in die Zentren für eine zeitweilige Inhaftierung kein Verstoß gegen das Verbot für eine ordnungsrechtliche Ausweisung sei. Schließlich habe man die Person physisch doch nicht deportiert. Dabei haben die Gerichte es auch abgelehnt, die Menschen aus den erwähnten Zentren in der Zeit der Corona-Pandemie zu entlassen. Das heißt, sie haben sie vom Wesen der Sache her zu einer unbefristeten Haft verurteilt.

Wie der Analytiker des Komitees „Bürgerunterstützung“ Konstantin Troizkij in der Übersicht schreibt, „waren mehrere Dutzend Beispiele von Gerichtsentscheidungen der ersten Instanz anzutreffen, als man ausländische Bürger in Zentren für eine zeitweilige Inhaftierung einliefert, wobei nicht der Erlass vom 18. April 2020 erwähnt wird“. Beispielsweise verurteilte im Juli vergangenen Jahres das Tschudowo-Kreisgericht im Verwaltungsgebiet Nowgorod einen Bürger aus Usbekistan zu einer Zwangsausweisung entsprechend Artikel 18.8 des Ordnungsstrafrechts („Verstoß gegen das Aufenthaltsregime“). Im Wortlaut des Urteils gibt es keine Andeutung hinsichtlich des Moratoriums. Dagegen unterstrich die Richterin, dass „es keine zweifellosen Grundlagen für eine Nichtanwendung einer zusätzlichen Bestrafung hinsichtlich des Migranten in Form einer ordnungsrechtlichen Ausweisung gibt“. Nach Meinung der Menschenrechtler haben die Richter entweder wirklich nichts von dem Erlass gehört, was wenig wahrscheinlich ist, oder sie haben ihn bewusst ignoriert. Es gab auch solche, die offen in ihren Entscheidungen erklärt hatten, dass das Gesetz über dem Präsidentenerlass stehe.

Wahrscheinlich hat das Richterkorps wohl doch eine inoffizielle Erlaubnis von der höchsten Führung erhalten, sich ein wenig von Zugereisten zu entledigen. Obgleich auch so etwas möglich ist, dass die nachgeordneten Beamten stupide die Anordnung der Landesführung sabotierten, denn einerseits hatten sie hier eigene Interessen, andererseits aber das Verständnis, dass dies für sie kein Nachspiel haben wird. Mitunter hat die einheimische Justiz auch auf eigene Art und Weise diesen Erlass ausgelegt, wie die Menschenrechtler meinen – „auf eine ausgeklügelte und offenkundig widerrechtliche Art und Weise“. Zum Beispiel hatte hinsichtlich eines Eingereisten das Taganroger Stadtgericht im Verwaltungsgebiet Rostow einen Beschluss über eine Zwangsausweisung aufgrund des Fehlens von Migrationsdokumenten, die das Recht bestätigten, sich in der Russischen Föderation aufzuhalten, gefällt. Die verkündete „Pandemie-Amnestie“ hatte sogar den Illegalen erlaubt, den Aufenthalt im Land zu formalisieren. Der Richter entschied aber, dass der Erlass lediglich „die Umsetzung der Entscheidungen über eine Ausweisung aus der Russischen Föderation ab dem 15. März bis einschließlich 15. September 2020 aussetzt, aber die Festlegung einer ordnungsrechtlichen Bestrafung in Gestalt einer Ausweisung nicht verbietet“.

Wie Troizkij unterstrich, sei solch eine Interpretation „eines der schlechtesten Beispiele der Rechtskasuistik“. Die Einlieferung in ein Zentrum für eine zeitweilige Inhaftierung ist eine Sicherungsmaßnahme für die Hauptbestrafung. Der Erlass aber schreibt gerade vor, keine Entscheidungen über eine Ausweisung zu fällen. Die Menschenrechtler führen als Beispiel noch eine Geschichte eines Arbeitsmigranten an. Der Richter, der den ausländischen Bürger zur Deportation verurteilt, verweist scheinbar auf den Präsidentenerlass, erklärt aber im gleichen Atemzug: Ausgehend von der Berücksichtigung der Umstände der begangenen Rechtsverletzung und der Persönlichkeit des Schuldigen folgt, dass er „durch seine Handlungen eine Gefahr für die Sicherheit Russlands und dessen Bürgern verursacht“, aber auch „eine terroristische Tätigkeit unterstützt“. Obgleich zuvor in der gleichen Entscheidung ausgewiesen wird, dass das Gericht „keinerlei Umstände gefunden hat, die die Verletzung des Artikels 18.8 des Ordnungsstrafrechts der Russischen Föderation belasteten“, Dies ist im Übrigen lediglich eine Nichteinhaltung der Fristen für die Registrierung im Einwanderungsdienst. Dabei führt der Richter nicht einen Fakt hinsichtlich einer Beteiligung der Person an einer ungesetzlichen Tätigkeit an.

In dem Dokument wird gleichfalls betont, dass man die Migranten, die in Zentren für eine zeitweilige Inhaftierung geraten sind, im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit, die gegen sie verhängte Bestrafung umzusetzen, freigelassen werden müssten. Aber bei weitem nicht in allen Fällen ist dies geschehen, nachdem die Haftzeiten mehrfach verlängert wurden. „Mehr noch, das Moratorium hinsichtlich einer Zwangsausweisung hat einige Richter nicht daran gehindert, ausländische Bürger in Zentren für eine zeitweilige Inhaftierung einzuweisen, in denen ihnen bevorstand, sich für eine unbestimmte Zeit zu befinden“, heißt es in der Übersicht des Komitees „Bürgerunterstützung“. Dabei gestehen aber dennoch die Menschenrechtler ein, dass in einigen Fällen die Berufungsinstanzen Entscheidungen über eine Deportation aufgehoben haben, wobei sie lediglich Strafen beließen, das heißt: somit die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Urteile anerkannten.