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Erdogan ist gezwungen, sich an Moskau zu erinnern


Die Worte, die der russische Präsident Wladimir Putin formulierte, als er am 14. Dezember über Recep Tayyip Erdogan sprach, sind recht bemerkenswert. „Ich möchte die bedeutende, die führende Rolle von Präsident Erdogan in der Frage der Wiederherstellung der Situation im Gaza-Streifen hervorheben. Er ist unbedingt einer der führenden Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft, die die Aufmerksamkeit auf diese Tragödie lenken und alles tun, damit die Situation in eine bessere Richtung verändert wird, damit Bedingungen für einen langfristigen Frieden geschaffen werden“, sagte Putin, wobei er seine Speech mit den Worten beendete: „Gebe Gott ihm Gesundheit!“. Besonders interessant ist die Erklärung Putins, wonach er Erdogan besuchen wollte, doch das Treffen konnte aufgrund der großen Belastung durch Treffen des türkischen Staatsoberhauptes nicht stattfinden. Es ist paradox, da Erdogan jüngst mehrfach erklärte, dass er den russischen Staatschef gleich nach den Präsidentschaftswahlen (die Stichwahlen erfolgten am 18. Juni) eingeladen hätte, doch Putin konnte aufgrund des dichten Arbeitszeitplans die Einladung nicht annehmen. Das letzte Malhatten die beiden Staatsmänner in Sotschi am 4. September Gespräche im Präsenzformat geführt, wobei sie die Prolongierung des Getreide-Deals erörterten. Jedoch war bei dem Treffen aufgrund der Entscheidung Russlands, das Abkommen nicht zu verlängern, kein positives Ergebnis erzielt worden. Erdogan teilte am 19. Dezember mit, dass er sich in der nächsten Zeit anschicke, mit Putin eine Wiederaufnahme des Schwarzmeer-Getreide-Deals zu diskutieren.

Die persönlichen Beziehungen zwischen Erdogan und Putin führen zu regelmäßigen Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Ländern, in denen sich Episoden einer Abkühlung mit Zeiten einer Erwärmung abwechseln. Die sich vor kurzem abgezeichnete Abkühlung hat mehrere wichtige Gründe. Unter anderem hatte Ankara nach dem Türkei-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij am 17. Juli zwei Entscheidungen getroffen. Erstens hatte das Rüstungsunternehmen „Baykar“ entschieden, „Bayraktar“-Drohnen in der Ukraine herzustellen (der Inhaber des Unternehmens — Selçuk Bayraktar – ist bekanntlich der Schwiegersohn Erdogans). Zweitens sind entsprechend einer einseitigen Initiative Ankaras Kommandeure des Regiments „Asow“ (das in Russland als eine terroristische Organisation eingestuft wurde und verboten ist) in die Ukraine zugeführt worden, die eigentlich bis Ende des Krieges im Rahmen eines Abkommens über einen Gefangenenaustausch in der Türkei bleiben sollten. In Moskau wertete man das Geschehene als einen Verstoß gegen die Bedingungen der existierenden Vereinbarungen. „In diesem Fall haben sowohl die ukrainische als auch die türkische Seite die Bedingungen verletzt“, konstatierte Putins Pressesekretär Dmitrij Peskow.

Gleichfalls sei betont, dass sich gleich nach dem zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen in der Türkei Recep Tayyip Erdogan am 20. September in New York mit Israels Premierminister Benjamin Netanyahu getroffen hat. Nach der Begegnung ist erklärt worden, dass eine Entscheidung über eine Zusammenarbeit im Bereich der Energetik zwischen der Türkei und Israel getroffen worden sei. Im Kontext dieser Abmachung wurde der Bau eine Pipeline vom israelischen Gasfeld „Leviathan“ bis zum türkischen Hafen Ceyhan vorgesehen. Damals hatte Netanyahu erklärt, dass er die Türkei besuchen werde. Und es war beschlossen worden, die Beziehungen zwischen Tel Aviv und Ankara auf das Niveau einer strategischen Partnerschaft zu heben.

Außerdem hatte Erdogan gleich nach seinem Wahlsieg begonnen, die bisherige harte Rhetorik gegenüber der Europäischen Union abzuschwächen, und hatte sogar mehrfach unterstrichen, wie wichtig es für die Türkei sei, Mitglied der EU zu werden. Zu jener Zeit hatte er auch erneut den früheren Minister Mehmet Şimşek, der Staatsbürger Großbritanniens war und viele Jahre in einem großen internationalen Konzern gearbeitet hatte, zum Wirtschaftsminister ernannt. Şimşek ist ein markanter und erfolgreicher Wirtschaftsfachmann prowestlicher Anschauungen, der gute Beziehungen mit internationalen Finanzinstituten besitzt. Unter türkischen Experten ist die Meinung weit verbreitet, dass der neue Minister dazu bestimmt war, die Beziehungen mit den internationalen Finanzinstituten und der westlichen Welt wiederherzustellen.

Wahrscheinlich war Moskau durch die Entscheidungen stark enttäuscht gewesen, die durch Ankara in der Zeit nach den Wahlen getroffen wurden. Doch die von der Türkei in der Zeit nach den Wahlen unternommenen Manöver zur Verbesserung der Kontakte mit der westlichen Welt brachten keine positiven Ergebnisse. Der Deutschland-Besuch Erdogans endete mit einem Fiasko, er konnte sich nicht mit Joseph Biden in den USA treffen, obgleich er es auch stark gewollte hatte. Und das Vorhaben zur Herstellung strategischer Beziehungen mit Israel ist aufgrund des Beginns des Krieges im Gaza-Sektor auf Eis gelegt worden.

Und derweil entwickelt sich auch in der Türkei an sich nicht alles sehr erfreulich. Die türkische Wirtschaft, die sich auch so in einer schlechten Situation aufgrund der hohen Inflationsrate befindet, hängt in vielem hinsichtlich der Energieträger von Russland ab. Im vergangenen Jahr erreichten die Ausgaben der Türkei für den Import von Energieträgern das Rekordniveau von 100 Milliarden Dollar. Und innerhalb von zwölf Monaten – bis einschließlich Februar dieses Jahres – hat das Land 39 Prozent des Gesamtumfangs der Gasimporte von Russland erhalten. Im Januar dieses Jahres hatte Gazprom beschlossen, die Zahlung der 20-Milliarden-Dollar-Schulden von Botas (des türkischen Stromverteilungsunternehmens) um ein Jahr aufzuschieben. Und der Zeitraum des Zahlungsaufschubs geht zu Ende. Dabei entwickeln sich die Kampfhandlungen in der Ukraine scheinbar zugunsten der Russischen Föderation aufgrund eines Blockierens der Militärhilfe für Kiew durch Washington.

All diese Ereignisse haben den türkischen Staatschef veranlasst, sich an Moskau zu erinnern. Und sie haben sich als imstande erwiesen, zu einer Erwärmung und zu neuen Verhandlungen mit Russland zu führen. Im Ergebnis seiner Manöver muss und will Ankara erreichen, dass Rosatom ein zweites Kernkraftwerk zu bauen, das laut bisherigen Plänen in Sinop errichtet werden soll. Gegenstand einer Diskussion ist natürlich auch der Getreide-Deal. Man kann voraussagen, dass die Türkei, die von Anfang an ihre Neutralität in der Ukraine-Frage erklärt hatte, jetzt seine Beziehungen mit Kiew von einer militärischen zu einer humanitären Zusammenarbeit verändern wird. Die Russische Föderation darf ebenfalls keinerlei Zweifel daran haben, dass die Türkei ihre Pflichten im syrischen Idlib erfüllen wird.

Die lobenden Worte Putins an die Adresse Erdogans kann man als ein Symbol dafür auffassen, dass der Präsident der Russischen Föderation für die bevorstehenden Gespräche in der Türkei eine starke Position besitzt. Es sei daran erinnert: Die endlosen Manöver in den türkisch-russischen Beziehungen haben zur Gestaltung einer eigenartigen Kultur der Diplomatie zwischen beiden Ländern geführt. Die zwischenstaatlichen Beziehungen Russlands und der Türkei, mit denen sich vom Wesen der Sache her spezielle Institutionen befassen müssen, erfolgen hauptsächlich über die Staatsoberhäupter. Und es muss eingestanden werden, dass diese Methode, wenn auch mitunter Probleme beschert, dennoch erlaubt, die bilateralen Kontakte Ankaras und Moskaus zu festigen und zu entwickeln.