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Erdogan kommt, um Kirgisien zu erschließen


Die wirtschaftlichen Probleme und Zunahme der Armut in Kirgisien schaffen einmalige Möglichkeiten für eine Expansion der Türkei. In der nächsten Zeit wird Präsident Recep Tayyip Erdogan nach Bischkek zwecks Teilnahme an einer Tagung des Obersten Rates für strategische Zusammenarbeit mit Kirgisien kommen. Die Erschließung der Republiken Zentralasiens durch China und die Türkei droht, zu Verlusten von Arbeitskräfteressourcen und einer Verringerung der Exportmöglichkeiten für Russland zu führen. Die globale Zunahme der Preise für Lebensmittel wird in diesem Jahr rund 38 Prozent der Einwohner Kirgisiens unterhalb der Armutsgrenze lassen. Und der Wirtschaftsrückgang in Russland aufgrund des geostrategischen Konflikts wird die Lage der einheimischen Bevölkerung in dieser GUS-Republik noch mehr verschlechtern.

Ende Juni erwartet man den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einem offiziellen Besuch in Bischkek. Den Anführer der türkischen Welt wird Kirgisiens Präsident Sadyr Dschaparow empfangen. In der kirgisischen Hauptstadt werden eine Tagung des Obersten Rates für strategische Zusammenarbeit und eine Sitzung der Parlamentarischen Vollversammlung der turksprachigen Staaten stattfinden. Außerdem wird die Etablierung eines Kirgisisch-Türkischen Entwicklungsfonds erwartet. Offizielle Vertreter beider Länder erinnern daran, dass das „strategische Ziel“, ein Warenaustausch zwischen den Ländern von bis zu einer Milliarde Dollar im Jahr, erreicht werden müsse. Der Vizepräsident der Türkei, Fuat Oktay, sagte im vergangenen Jahr, dass eine Milliarde Dollar nur das erste Ziel seien. „Weiter müssen wir daran arbeiten, um einen Warenaustausch von fünf Milliarden Dollar zu erzielen“, erklärte er.

Im vergangenen Jahr machte der Warenaustausch zwischen beiden Ländern 836 Millionen Dollar aus. Wobei dieser Handel ein absolut unausgewogener ist. Kirgisien kaufte Waren im Wert von etwa 749,5 Millionen Dollar, verkaufte aber nur für 86,5 Millionen Dollar. In der Exportstruktur bilden Baumwolle, Agrarerzeugnisse sowie Edelmetall-Erze und -Konzentrate den Löwenanteil. Im Gegenzug kommen aus der Türkei Bekleidung, Schuhwaren und Möbel. Aber zum markantesten Deal wurde der Erwerb von berühmten „Bayraktar“-Drohnen. Offizielle Vertreter Kirgisiens unterstrichen allerdings, dass auch russische Drohnen gekauft worden seien.

Laut Angaben des Föderalen Zolldienstes der Russischen Föderation machte entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres der Warenaustausch Russlands mit Kirgisien 2,5 Milliarden Dollar aus. Dabei ist der Export aus Kirgisien um 38 Prozent angestiegen, von 240 Millionen Dollar im Jahr 2020 bis auf 333 Millionen Dollar im Jahr 2021. Laut Angaben des Nationalen Statistikkomitees von Kirgisien entfielen im Jahr 2017 von den 3.000 Unternehmen mit einer ausländischen Investitionsbeteiligung 22,1 Prozent auf Joint-Ventures mit Russland, während 13,5 Prozent – auf die mit der Türkei. Auf die Gemeinschaftsunternehmen mit China entfielen 18,5 Prozent und die mit Kasachstan 14 Prozent.

Der entscheidende Aspekt der Zusammenarbeit beider Länder ist die Arbeitsmigration (Gastarbeiter aus Kirgisien in Russland). Russland befindet sich schon lange im Prozess einer kritischen Verringerung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung (laut Angaben der Organisation für Wirtschaftskooperation und Entwicklung – OECD – hat sich innerhalb von beinahe zehn Jahren die Anzahl der Arbeitskräfte in der Russischen Föderation von 75,7 Millionen Menschen im Jahr 2011 bis auf 74,8 Millionen im Jahr 2020 verringert, das heißt um beinahe eine Million Menschen). Zur gleichen Zeit bezeichnen Analytiker die rasche Zunahme der Bevölkerungszahl in Kirgisien als wichtigstes und akutestes Problem. Wie in einem Report des Instituts für Studien und Expertise von VEB.RF betont wird, habe sich in den letzten fünf Jahren die Bevölkerungszahl in Kirgisien um fast 630.000 Menschen oder um elf Prozent erhöht. Dies schaffe aber eine wesentliche Gefahr eines Mangels an Lebensraum, da die Fläche des Territoriums, das für ein komfortables Leben und die Realisierung einer Wirtschaftstätigkeit geeignet ist, äußerst beschränkt ist.

Kirgisiens Staatlicher Einwanderungsdienst schätzte im Jahr 2019 die Gesamtzahl der Migranten auf 824.000 Menschen, von denen sich 88 Prozent (728.000) in der Russischen Föderation befunden hätten. Die Türkei teilt mit Kasachstan den 2. und den 3. Rang hinsichtlich der Attraktivität für diese Kategorie von Bürgern – jeweils vier Prozent. Auf der Suche nach einem Job gehen viele Kirgisen auch nach Südkorea, in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Deutschland (jeweils ein Prozent). Etwa genauso viele (1 Prozent) entfallen auf die übrigen Länder Europa. 15 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter oder 25 Prozent von der Gesamtzahl der Arbeitskräfte des Landes befinden sich im Ausland auf der Suche nach Arbeit. Wobei über 90 Prozent der Migranten Menschen im besten arbeitsfähigen Alter von 20 bis 49 Jahren ausmachen.

Die Wirtschaft hängt zu stark von den Geldüberweisungen der Migranten ab, die im Jahr 2019 2,4 Milliarden Dollar oder beinahe 30 Prozent des BIP des Landes ausmachten, teilte der Pressedienst der UNO unter Berufung auf den UN-Sonderberichterstatter für Frage der akuten Armut, Olivier De Schutter, mit. „Die Geldüberweisungen bringen in erster Linie den armen ländlichen Haushalten einen Nutzen. Und mit ihrer Hilfe verringerte sich die Armut um elf Prozent im Jahr 2019. Sie können aber keine langfristige Strategie für die Entwicklung des Landes sein. Dies ist eine Flucht menschlichen Kapitals in beispiellosen Dimensionen“, betonte De Schutter. (Im vergangenen Jahr überwiesen die kirgisischen Gastarbeiter aus Russland 2,69 Milliarden Dollar in die Heimat, wie die Nationalbank der GUS-Republik im Februar dieses Jahres mitteilte. Dies seien 97 Prozent aller Überweisungen aus dem Ausland und etwa 379 Millionen Dollar mehr als im Jahr zuvor gewesen. – Anmerkung der Redaktion).

Kirgisien versucht heute, mit zahlreichen Problemen fertig zu werden – mit dem Ansteigen der Preise für Nahrungsmittel, dem Rückgang der Einnahmen aus den Geldüberweisungen und der zunehmenden Arbeitslosigkeit. Viele von ihnen hängen mit den Folgen der COVID-19-Pandemie und der Sanktionen, die gegen Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine verhängt wurden, zusammen.

„Obgleich sich die Armut in Kirgisien allmählich verringert, lebten im Jahr 2020 immer noch mehr als 25 Prozent unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Nach Schätzungen der Weltbank könne bis zum Jahresende diese Zahl bis auf 38 Prozent ansteigen, was das Land um ein Jahrzehnt zurückwerfen werde“, betonte De Schutter. Der Sonderberichterstatter rief das Land auf, sich von der Abhängigkeit von den Geldüberweisungen zu lösen und mehr Mittel in die Vorschulausbildung zu investieren, die Qualität der Ausbildung in den Schulen anzuheben, aber auch das System des sozialen Schutzes für die in Armut lebenden Menschen zu verstärken.

Nach Einsetzen der Pandemie vergrößerte sich der Anteil der Einwohner der Republik, dessen Einkommen sich unterhalb der Armutsgrenze befindet, von 20 bis auf 31 Prozent. Die Armut hat aufgrund des Rückgangs der Einkommen und des Ansteigens der Arbeitslosigkeit zugenommen, berichtete Kirgisiens Minister für Wirtschaft und Handel, Danijar Amangeldijew. Nach seinen Worten machte der Rückgang des BIP im Jahr 2020 8,6 Prozent aus. (Im vergangenen Jahr war die Zunahme eine minimale – 0,1 Prozent. – Anmerkung der Redaktion)

Bemerkenswert ist, dass es in Russland Experten gibt, die in der türkischen Expansion keine besonderen Risiken für Russland ausmachen. „Die Türkei hat sich im gesamten Raum der ehemaligen UdSSR in den 90er Jahren sehr sicher und zuversichtlich gefühlt. Und nicht nur in den Ländern Zentralasiens, die ihr aufgrund der Sprachen der Turk-Gruppe nahe sind, sondern sogar auch in der Ukraine. Heutzutage ist jedoch ihr Einfluss vor allem im humanitären Bereich geblieben – im Bildungs- und im Gesundheitswesen“, meint der Politologe Andrej Susdalzew. „Die Türkei versucht nicht, sich in diesen Ländern Russland geopolitisch entgegenzustellen, das da Militärstützpunkte hat. Im Wirtschaftsbereich ist der türkische Einfluss da gleichfalls unerheblich. Er beschränkt sich auf eine Reihe kleiner Projekte. Obgleich das Potenzial Kirgisiens recht erheblich ist. Hier konzentrieren sich 30 Prozent der Süßwasservorräte in der Region. Es gibt Golderzgruben. Auf dem Territorium der Republik befindet sich ein Hub für den weiteren Transport von Waren aus dem Reich der Mitte. Das wirtschaftliche Vorrücken Chinas beunruhigt die Türkei, besonders der Beginn der Bauarbeiten für eine Bahnstrecke aus der Volksrepublik China über Kirgisien nach Usbekistan. Die Strecke mit der chinesischen Spurweite kann in Richtung des Kaspischen Meeres verlängert werden, wo sie bereits direkt die Interessen der Türkei gefährdet“.

Nach Aussagen des Experten könne sich die gegenwärtige Krise in der Russischen Föderation spürbar auf die Wirtschaft Kirgisiens auswirken. Ein Drittel des BIP der Republik machen die Überweisungen der Migranten aus. „Der spürbarste Schlag (der Krise in Russland – Anmerkung der Redaktion) erfasste den Handel und den Dienstleistungsbereich. Und gerade in diesen Sektoren sind die meisten Migranten aus Kirgisien beschäftigt, im Unterschied zu ihren Kollegen aus anderen Ländern, die beispielsweise mehr im Bauwesen im Einsatz sind. Der Exodus von Arbeitsmigranten hängt auch mit den gestiegenen Kosten für die Reise (nach Russland) und die Ausstellung der Dokumente zusammen“, sagte Susdalzew.

Hierbei muss freilich daran erinnert werden, dass Kirgisien aktiv mit der Türkei im militärischen Bereich zusammenarbeitet. Türkische Angriffsdrohnen vom Typ „Bayraktar“ sind bereits in die Bewaffnung des kirgisischen Grenzdienstes aufgenommen worden. Und Präsident Sadyr Dschaparow hat sich persönlich „Bayraktar“-Drohnen angesehen und sich mit ihrem Einsatz vertraut gemacht. Es ist klar, dass der Einsatz der türkischen Kampfdrohnen nicht nur ein großes Programm zur Ausbildung und Schulung des entsprechenden Personals, sondern auch Elemente einer Integration der Sicherheits- und bewaffneten Strukturen beider Länder erfordert.