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Erschöpfung, die in Apathie übergeht


Die langerwarteten Schulferien werden die Gesellschaft vom Hauptproblem der russischen Schule ablenken, das sich im letzten Unterrichtsviertel offenbarte. Während des Rückgangs der Corona-Pandemie klagten die Kinder, die nach der Quarantäne und die Online-Ausbildung in die Klassenräume zurückgekehrt waren, massenhaft über Müdigkeit. Scheinbar wird sich dieses Problem nicht schnell und von selbst lösen.

Laut Befragungen des Zentrums für Sozialisierung und Personalisierung der Ausbildung für Kinder des Föderalen Instituts für die Entwicklung des Bildungswesens der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst klagten Schüler aus 14 Regionen der Russischen Föderation nach der Quarantäne massenhaft über Müdigkeit, wobei dies jetzt bereits offline. Die Müdigkeit kann aber schnell zu einer Apathie übergehen.

Bis zu 60 Prozent der Eltern Russlands verbinden die schulisch bedingte Übermüdung mit dem Bestehen von Hausaufgaben. Es stellte sich heraus, dass 90 Prozent der „ermüdeten“ Kinder die Hausaufgaben abends erledigen (dies beansprucht im Durchschnitt zwei Stunden und zehn Minuten). Die Sache ist aber die, dass die Schulkinder der Russischen Föderation auch vor COVID-19 für die selbständige Arbeit mit den Lehrstoffen nicht wenig Zeit aufwandten, fast 13 Stunden in der Woche. Während es in Finnland und Tschechien rund vier Stunden sind, in den USA und in Dänemark – sechs, in Israel aber nicht mehr als 25 Minuten (jeweils fünf Minuten am Tag). Da ergibt sich, dass COVID-19 hier nicht der Grund ist.

Es sei daran erinnert, dass es noch in der Vor-Pandemie-Periode nicht wenige Elternproteste gegen eine Überbelastung der Schüler mit Hausaufgaben gegeben hatte. Und nicht nur in Russland. In Spanien empörten sich Eltern gegen die Belastung der Schüler mit Hausaufgaben. In Frankreich unterschrieben hunderttausende Eltern eine Petition für die Kürzung der Sommerferien als Gegenzug für eine Abschaffung der Hausaufgaben. Und in Großbritannien nötigte die Welle sozialer Proteste das Bildungsministerium, die selbständige Beschäftigung mit den Unterrichtsmaterialien der Steppkes in die Form einer projektbezogenen Tätigkeit überzuführen. Als Vorbild dienten die Erfahrungen einer Grundschule in der Grafschaft Hertfordshire, wo als Hausaufgaben Spaziergänge durch die ländliche Gegend, Tischspiele, das Wischen des Fußbodens im Zimmer und die Hilfe für Mutter bei der Zubereitung des Abendbrotes angesehen wurden.

Zur gleichen Zeit ist die Frage, warum man die Schüler heute mit Hausarbeiten belastet, nicht ganz berechtigt. Hausaufgaben hatte es für die Schüler bei der traditionellen Ausbildung stets gegeben. Eine andere Sache ist, dass ein Großteil der Kinder in früheren Jahren dafür weniger Zeit aufgewandt hatte. Und erneut ist da die Ursache eine, die tiefer liegt. Heute hat sich die Gesellschaft hinsichtlich der Frage nach der Ausbildung geändert, verändert hat sich die Haltung zum Lehrprozess. Das Studium ist zu einer persönlichen Sache eines jeden geworden. Der Schüler (und seine Eltern) stellen sich selbst Ziele für die Bildung und gehen zu diesen. Die gestellten Ziele verändern die Haltung zu den Hausaufgaben.

Verändert hat sich die eigentliche Situation um den Schüler. Während zu Zeiten der UdSSR dies ein gesättigtes intellektuelles Umfeld war, in den Perestroika-Zeiten – ein Überlebensthema, so ist es heute ein zum größeren Teil unterhaltendes Ambiente. Da ergibt es sich, dass die sich durch Spiele ablenken lassenden Schüler immer schlechter das Ausbildungsmaterial erschließen und sich aneignen. Die Lehrer sehen Wege zur Behebung der Situation darin, die Methodik zur Vermittlung ihres Lehrfachs noch stärker vielfältig zu gestalten und so die Motivation der Schüler zu beeinflussen. Dafür brauchen sie aber immer mehr Freiheit für kreatives Wirken.

In der Schule vollzieht sich heute jedoch ein umgekehrter Prozess. Die Bildungseinrichtungen müssen einen Plan erfüllen, der von oben vorgegeben wird. Und die Chefs versuchen, die Schuldirektoren in generelle Rahmen zu stecken. Außerdem hängen die Direktoren sehr stark von den Gründern der Bildungseinrichtung ab. Die Angst, die Arbeit zu verlieren und aus dem Rating zu fallen, das die Kommune oder der Stadtbezirk bzw. Kreis festgelegt haben, nerven die Schulleiter, erklärte Natalia Tarasowa, Direktorin des oben erwähnten Zentrums für Sozialisierung und Personalisierung der Ausbildung von Kindern. Sie erklärte auch, dass die Ermüdung – darunter auch der Schüler (unter Einwirkung einer Kettenreaktion oder des Domino-Prinzips) – auch aus diesem Grunde auftreten könne.

Übrigens, die generelle Politik des Ministeriums für Ausbildung der Russischen Föderation ist darauf ausgerichtet, „Lehrbücher einheitlichen Aussehens“ für alle Schulen und für jedes Unterrichtsfach einzuführen. Das heißt: Man will die Arbeit der Schullehrer noch mehr neuordnen.

Wie sehen in solch einem Fall aber die Beamten des Bildungsministerium eine Behebung der Situation? Die Antworten sind bisher unklare. Das Ministerium ist mit drängenderen Problemen beschäftigt. Die Situation kann sich nämlich so entwickeln, dass ab 1. September das Schulleben erneut Abschied vom Präsenzunterricht nehmen und zum Online-Regime übergehen muss. Diskutiert werden daher Fragen bezüglich einer Transformation der Ausbildung, insbesondere die Perspektiven einer sich herausbildenden digitalen Didaktik. Bisher sind nach 20 Tagen Arbeit einer Hotline zur Erfassung von Vorschlägen und Ideen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität, die durch das Ministerium eingerichtet wurde, 1400 Vorschläge eingegangen.