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„Es ist der Hammer. Meine Oma unterstützt die Mobilmachung“


Der letzte Sonntag des Monats, der 25. September, war auch in der russischen Hauptstadt keiner, wie gewohnt. Passagieren der Moskauer Metro ist mit Sicherheit aufgefallen, dass nicht nur mehr Streifen der Russischen Garde auf den Stationen im Einsatz waren. Zu sehen waren gleichfalls junge Militärs und Männer in gleichen Tarnanzügen ohne Erkennungszeichen und Schulterstücke, die bereits im reiferen Alter waren und beinahe gleich pralle Rucksäcke mit sich führten. Mitfahrende werden sich sicherlich da die Frage gestellt haben: „Sind diese Männer von der Mobilmachung erfasst worden?“.

Wenige Stunden später unterhielt sich unsere Redaktion mit Nadeschda, einer Verkäuferin in einem Fachgeschäft für Wurst- und Molkereiprodukten sowie Feinfrostwaren vor den Toren Moskaus (der komplette Name liegt in der Redaktion vor). Ihr Gesichtsausdruck war von Sorgen geprägt. Nicht ohne Grund, da zwei Großneffen einen Mobilmachungsbescheid bekommen hatten. Zu weiteren Details konnten die Endfünfzigerin nichts sagen, obgleich zu spüren war: Unterschiedliche Fragen quälen sie im Zusammenhang mit diesem Umstand? Vielen Menschen in Russland geht es derzeit so, denn auf einmal ist der in den achten Monaten gegangene Ukraine-Konflikt nicht mehr in weiter Ferne, sondern wurde auf einmal Teil auch ihres alltäglichen Lebens. Die einen lähmt dieser Umstand, andere wollen sich damit nicht abfinden. Gehen auf die Straßen. Vor allem Frauen sind es – Mütter, Ehefrauen und Freundinnen -, die mit einem Schlage von der Angst erfasst wurden, dass sie ihre Söhne, Ehemänner und Partner verlieren könnten. Schließlich weiß keiner, wie lange noch die sogenannte militärische Sonderoperation andauern wird, für welchen Zeitraum gilt die Teilmobilmachung, wohin werden konkret die Einberufenen geschickt und – das Wichtigste: Werden die Männer wohlbehalten heimkehren? Und gerade deshalb sind am Sonntag erneut Frauen zu Protestaktionen gekommen, zum Beispiel in Jakutsk oder im dagestanischen Dorf Endirej. Sie wollen ihre Männer verteidigen, nicht in den Krieg ziehen lassen. Aber diese Wünsche werden von der Polizei niedergeknüppelt. Viele Menschen werden verhaftet. Mit Stand vom Wochenende landesweit mehr als 700 Bürger Russlands.

Ja, die von Präsident Wladimir Putin am 21. September verkündete Teilmobilmachung weist Makel auf, führte zu Fehlern, die nun die Offiziellen eingestehen müssen und eiligst zu überwinden suchen. Im sibirischen Ust-Ilimsk möglicherweise zu spät, da in den Morgenstunden des Montags ein junger Mann ins Militärkommissariat dieser durch ihr Zellulose-Kombinat bekannten Stadt mit einer Waffe gekommen war und den Leiter Alexander Jelisejew mit mehreren Schüssen schwer verletzte. Ob dies eine Reaktion auf einem möglichen Mobilisierungsbescheid war, war im Telegram-Kanal des zuständigen Gouverneurs nicht zu erfahren. Freilich für die staatlichen Fernsehkanäle ist dies kein Thema, die berichten über den Tag 4 der Referenda über einen Beitritt der Donbass-Republiken DVR und LVR sowie die ukrainischen Verwaltungsgebiete Cherson und Saporoschje zu Russland, über den Wahlerfolg der Rechtszentristen mit Giorgia Meloni von der Partei Fratelli d’Italia an der Spitze…

Und sie finden damit ihr Publikum, das vom Alter her dem Rentenalter näher ist und jegliche Informationen aus dem Fernsehgerät für bare Münze nehmen. Ja, und diese Fernsehzuschauer unterstützen auch die von Putin verkündete Teilmobilmachung. „Es ist der Hammer. Meine Oma unterstützt die Mobilmachung“, zeigte sich Alexander aus Wolgograd, der gegenwärtig in Moskau lebt und arbeitet, bestürzt (der komplette Name liegt in der Redaktion vor). In einem Gespräch mit „NG Deutschland“ erkundigte sich der 28jährige, was er tun könne, um nicht einberufen zu werden. Damit ist er nicht allein. Viele russische Männer suchen fieberhaft im Internet nach Varianten, um das Land zu verlassen, um nicht an die Front geschickt zu werden. Freilich soll die bisherige Teilmobilmachung nur etwa 300.000 Männer mit den notwendigen militärischen Spezialisierungen und einem bereits abgeleisteten Wehrdienst betreffen. Aber keiner weiß, wenn es letztlich treffen wird. Offizielle bezeichnen dieses Verhalten, dieses Suchen nach „Fluchtmöglichkeiten“ als unberechtigtes Panikmachen, können aber nur wenig mit solchen Worten beruhigen und Sorgen verdrängen. Schließlich wurde bekannt, wie Nikolai Peskow, der Sohn des Kremlsprechers, in einer Hörfunklivesendung erklärte, dass er sich an die entsprechenden Stellen wenden würde, um nicht einberufen zu werden. In Russland weiß man sehr wohl, dass die Kinder von Staatsbeamten oft einen unberechtigten Sonderstatus genießen.

Der Ukraine-Konflikt dringt immer tiefer und umfassender in den Alltag der Bürger Russlands ein. Die Reaktion auf ihn wird deutlicher und wirft auch Fragen auf, vor allem an die kremlnahen Soziologen. Vor dem Hintergrund der neuen spürbaren Ausreisewelle – vor allem junger russischer Männer – kommen sie wohl in eine Erklärungsnot: Wie erklären sie beispielsweise die hohen Zahlen für eine Unterstützung der militärischen Sonderoperation, die beinahe jede Woche gemeldet wurden? Haben sie wirklich ein reales Bild von der Haltung der Menschen zu diesem umstrittenen Konflikt vermittelt oder wollten sie nur dem Kreml einen Gefallen tun?

Fragen ergeben sich gleichfalls bezüglich der nahen Zukunft. Was erwartet Russland in den nächsten Tagen und Wochen, nach den Referenda? Laut Angaben russischer Nachrichtenagenturen, die sich auf ungenannte Quellen im Präsidialamt berufen, könne bereits bis zum 30. September der Prozess des Beitritts der vier Regionen zu Russland abgeschlossen werden, da man in Moskau generell von einer überwältigenden Zustimmung dafür ausgeht. Folglich rechnet man mit einem großen Auftritt des Kremlchefs am Freitag. Bereits im Vorfeld dieses Tages – so wird in zahlreichen russischsprachigen Telegram-Kanälen berichtet – sollen die Grenzen Russlands am 28. September für alle Männer des Landes bis zum Alter von 60 Jahren geschlossen werden. Dies wird sicherlich am Rating Putins kratzen, was izhn jedoch wohl kaum groß berühren wird.

Im Ausland verfolgt man ebenfalls aufmerksam die rasante Entwicklung der Ereignisse in Russland und auf dem ukrainischen Territorium. Kasachstans Außenministerium ließ durch Sprecher Aibek Smadijarow am Montag erklären, dass Astana in der Frage des Anschlusses anderer Territorien an die Russische Föderation vom Prinzip der territorialen Integrität der Staaten ausgehe. Dabei erinnerte Smadijarow auch an die Worte von Präsident Qassym-Schomart Tokajew im Verlauf des Internationalen Petersburger Wirtschaftsforums vom Juni dieses Jahres, die unter Russlands Hurra-Patrioten Empörung ausgelöst hatte. Freilich weiß Tokajew sehr wohl darum, dass in der kasachischen Gesellschaft die russische militärische Sonderoperation in der Ukraine wenig Zustimmung findet. Und Experten erwarten, dass der kollektive Westen mit neuen Sanktionen gegen Russland aufwarten werde, denn die Ergebnisse der Referenda will man in keiner Weise anerkennen. Wie konkret aber Kiew reagieren wird, ist noch unklar. Sicher ist, dass die Ukraine unter Präsident Wladimir Selenskij die unter russischer Federführung organisierten Abstimmungen nicht anerkennen wird. Ob und wie man aber weiterhin massive Schläge gegen diese künftigen Subjekte Russlands führen wird, ist unklar. Schließlich erklärte Außenminister Sergej Lawrow am Rande der UN-Vollversammlung in New York am vergangenen Samstag: „Das gesamte Territorium der Russischen Föderation, dass in der Verfassung der Russischen Föderation festgeschrieben wurde und zusätzlich festgeschrieben werden kann, befindet sich unbedingt unter dem vollen Schutz des Staates. Dies ist absolut natürlich. Alle Gesetze, Doktrinen, Konzeptionen und Strategien der Russischen Föderation erstrecken sich auf deren gesamtes Territorium“. Folglich werde Moskau auf jegliche Angriffe gegen die neuen russischen Regionen mit entsprechenden Maßnahmen reagieren.