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Es müssen die Begriffe „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschheit“ unterschieden werden


Bei der Plenartagung des Unterhauses des russischen Parlaments am 22. März wurde der Entwurf einer Erklärung der Staatsduma der Russischen Föderation über die Anerkennung des Genozids der Völker der Sowjetunion in den Jahren 1941-1945 erörtert. Das Datum für die Diskussion war nicht zufällig ausgewählt worden. Vor genau 80 Jahren war 1943 das weißrussische Dorf Katyn (andere Schreibweise auch: Chatyn) mit all seinen Bewohnern niedergebrannt worden. Daher begann die Sitzung mit einer Schweigeminute zur Erinnerung an alle ums Leben gekommenen Zivilisten der UdSSR.

Staatsduma-Chef Wjatscheslaw Wolodin (Kremlpartei „Einiges Russland“) erinnerte daran, dass diese Aktion Mordkommandos als Antwort auf die Tötung des deutschen Hauptmanns, des Lieblings des Führers Hans Woellke durch Partisanen durchgeführt hatten. Woellke selbst hatte seinem Land die erste Goldmedaille in der Geschichte bei Leichtathletik-Wettkämpfen Olympischer Spiele errungen, indem er 1936 in Berlin beim Kugelstoßen siegte. Diese wichtige Tatsache, die zu der so brutalen Strafaktion geführt hatte, wird üblicherweise bei der Beschreibung der Tragödie in dieser Ortschaft, die zu einem der Hauptsymbole der Nazi-Verbrechen geworden war, ausgelassen. Diese Tragödie rechnet man in der letzten Zeit ebenfalls zu Akten eines Genozids.

Danach begannen die Abgeordneten eine recht lebhafte Diskussion. Wir werden nicht auf die politischen Ziele der Vorbereitung der Erklärung eingehen, sie sind in den Medien ausführlich dargestellt worden. Uns interessieren mehr die historischen Aspekte der Erklärung und die Diskussion zu ihnen. Diese Analyse ist zumindest aufgrund von drei Ursachen wichtig.

Erstens, im Wortlaut der Erklärung und bei deren Erörterung werden recht eigenartig eine Reihe historischer Dokumente und Fakten ausgelegt. Und die lebhafte Diskussion belegt eine recht zwiespältige Beurteilung der Vollstrecker des Genozids und dessen Hauptopfer auf dem okkupierten Territorium der UdSSR.

Zweitens ist die im Diskussionsverlauf formulierte Auslegung des Begriffs „Genozid“, seiner Herkunft und Anwendung in der internationalen Praxis interessant.

Und schließlich das Wichtigste: Wollen die Offiziellen Russlands, dass auf parlamentarischer Ebene die schrecklichsten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Jahren des Zweiten Weltkrieges auf dem okkupierten Territorium der UdSSR, die von einem Genozid einzelner Völker begleitet wurden, anerkannt werden oder wird die Aufgabe gestellt, alle Verbrechen von Nazi-Deutschland, dessen Verbündeten und Komplizen als Genozid zu bezeichnen?

Wir hoffen, dass die nachfolgend geäußerten Erwägungen die Aufmerksamkeit der professionellen Historiker-Community auf sich ziehen. Schließlich hätten sich laut Aussagen des Vorsitzenden des Ausschusses für internationale Angelegenheiten Leonid Sluzkij (LDPR) „führende Historiker an uns mit der Notwendigkeit der Annahme solch eines Dokuments auf der Ebene der Staatsduma gewandt“.

Nachfolgend werden wir das Augenmerk auf eine Reihe von Momenten lenken, die von den Spezialisten bemerkt werden mussten, die an der Vorbereitung eines so wichtigen Dokuments teilnahmen.

So führte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow (Kremlpartei „Einiges Russland“), mehrere markante Zitate aus einer Hitler-Rede und aus Direktiven der Wehrmachtsführung an. Besonders interessant (unter Berücksichtigung der Parteien-Zusammensetzung der Duma) erklang das erste von ihnen. Hitler hatte am 30. März 1941 bei einem Auftritt vor der höchsten Armeeführung erklärt: „Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf… Wenn wir es nicht so auffassen, dann werden wir zwar den Feind schlagen, aber in 30 Jahren wird uns wieder der kommunistische Feind gegenüberstehen“.

Möglicherweise hatten gerade diese Worte die Vertreter der KPRF-Fraktion stimuliert, am aktivsten an der Diskussion teilzunehmen…

Wichtiger ist aber etwas Anderes. Die Erwähnung des „Vernichtungskampfes“ sollte wahrscheinlich die Völkermordspläne der Nazis illustrieren. Derweil belegt der vollständige Text dieses Dokuments (Franz Halder, der Generalstabschef des Heeres, hatte eine entsprechende ausführliche Aktennotiz in seinem Diensttagebuch vorgenommen), dass es nicht um die ethnischen, sondern um die politischen Gegner des Reichs gegangen war. Dem oben zitierten Text war der Satz vorausgegangen, dass es sich um einen „Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander“ handele. „Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum“, hatte Halder weiter festgehalten. Und weiter wurden die Worte von Hitler angeführt: „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz … Kommissare und GPU-Leute sind Verbrecher und müssen als solche behandelt werden“ (deutschsprachige Zitate entsprechend dem Kriegstagebuch Halders, die vom Autor des vorliegenden Beitrags etwas frei ins Russische übersetzt und als Hitler-Zitate ausgewiesen wurden – Anmerkung der Redaktion).

Jedoch gibt es hier keinerlei ethnischen, nationalen oder Rassen-Charakteristika. Wie auch in einem anderen vom Vortragenden angeführten Zitat über die politischen Kommissare. Der Befehl über den Umgang mit ihnen führte zu einer totalen Vernichtung nicht nur der in Gefangenschaft geratenen Politkommissare und aller Kommunisten, sondern auch der jüdischen Kriegsgefangenen. Oder der Juden ähnelnden Menschen. Vertreter nicht eines einzigen anderen Volkes der UdSSR wurden einer totalen Vernichtung ausgesetzt. Daher wird dieses Dokument wohl kaum als eine Untermauerung eines Genozids dienen können.

Zitiert wurde noch eine Quelle – mit einem Verweis auf die Direktive des Stabschefs der Oberkommandos der Wehrmacht vom 13. März 1941: „Bei der Einnahme einzelner Ortschaften sind alle Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren unverzüglich und sofort festzunehmen und unter Bewachung in Durchgangslager zu bringen“.

Der Wortlaut dieser Direktive wurde mehrfach veröffentlicht. Doch die oben ausgewiesenen Worte gibt es in ihm nicht. Derweil ist ein ähnlicher Text im Befehl des Kommandos der 2. Panzerarmee vom 11. Mai 1943 enthalten (die handelte im Gebiet von Brjansk – Anmerkung der Redaktion): „Bei der Einnahme einzelner Ortschaften sind alle vorhandenen Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren unverzüglich und sofort festzunehmen, wenn sie zu denjenigen gerechnet werden können, die in der Lage sind, Waffen zu tragen, und unter Bewachung per Bahn ins Durchgangslager 142 in Brjansk zu bringen“.

Es ist verständlich, dass dieser Befehl in keiner Weise mit der Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR zusammenhing und nicht das gesamte okkupierte Territorium betraf. Er wurde im Zusammenhang mit einer im Mai-Juni 1943 durchgeführten großen Antipartisanen-Operation unter dem Tarnnamen „Zigeunerbaron“ herausgegeben. In ihrem Verlauf wurden 1584 (lt. anderen Quellen – 1585 – Anmerkung der Redaktion) getötet, 1568 Menschen gefangengenommen, 15,812 Zivilisten wurden aus den eigenen Häusern vertrieben. Der Wortlaut dieses Befehls belegt anschaulich ein Kriegsverbrechen, aber keinen Genozid.

Die inhaltlich gehaltsvollste Diskussion der Abgeordneten hatte die Liste der Länder ausgelöst, die sich eines Genozids der Völker der UdSSR schuldig gemacht hatten. Im Entwurf der Erklärung hieß es, dass der Genozid „durch die Offiziellen Deutschlands, dessen Streitkräfte inklusive der SS-Truppen und deren Komplizen – den bewaffneten Einheiten, die auf dem Territorium Belgiens, Italiens, Spaniens, der Niederlande, Norwegens, Finnlands und anderer Staaten sowie durch einzelne Freiwillige aus Österreich, Lettland, Polen, Frankreich und Tschechien aufgestellt worden waren, aber auch durch Verräter aus den Reihen der Bewohner der okkupierten Territorien, die dem Hitler-Regime die Treue geschworen hatten,“ begangen wurde. Als „Komplizen“ wurden sowohl die Verbündeten Nazi-Deutschlands (Italien, Finnland) als auch die „bewaffneten Einheiten“, die auf dem Territorium der Länder gebildet wurden, die bis zum 22. Juni 1941 keine unabhängigen Staaten gewesen waren (mit Ausnahme Spaniens). Unter ihnen war Lettland genannt worden, das zur UdSSR gehörte.

Zur gleichen Zeit waren nicht die Verbündeten der Nazis – Rumänien und Ungarn – ausgewiesen worden, die ihr eigenes Okkupationsregime auf einem Teil des Territoriums der UdSSR etabliert hatten, wo hunderttausende Zivilisten ums Leben kamen. Nicht genannt wurden die Slowakei und Kroatien, die der UdSSR den Krieg erklärt hatten, wie auch noch ein Verbündeter von Nazi-Deutschland – Bulgarien. Wahrscheinlich aufgrund einer Ursache: dass sie slawische Staaten sind, was gleichfalls das Begreifen der Verbrechen der Okkupanten auf dem Territorium der UdSSR als einen Genozid erschweren würde.

Den Teilnehmern der Diskussion muss Anerkennung gezollt werden. (Einer von ihnen – Michail Matwejew von der KPRF – hatte sich witzig als „einen Historiker, der möglicherweise nicht viel Ahnung hat“, bezeichnet. Sie nannten alle Länder, die zu jener Zeit eigenständige Staaten gewesen waren. Viktor Sobolew (KPRF) schlug beispielsweise vor: „Lassen Sie uns doch alle i-Punkte setzen: Da waren Deutschland, das uns am 22. Juni den Krieg erklärt hatte, und dessen Verbündete – Finnland, Ungarn, Rumänien, Italien, Bulgarien und die Slowakei, die uns auch den Krieg erklärt und folglich mit ihren Streitkräften am Krieg gegen die Sowjetunion auf der Seite Deutschlands teilgenommen hatten. Und es hatte … Freiwillige aus den von Hitler okkupierten Ländern gegeben. Was sind dies für Länder? Frankreich, Belgien, Holland, Norwegen und Dänemark“.

Nach dieser klaren Analyse wäre es logisch gewesen, sich über die Überschrift des diskutierten Dokuments Gedanken zu machen. Schließlich hatte man in ihm sowohl Verbündete als auch Kollaborateure mit dem Begriff „Komplizen“ vereint.

Es sei daran erinnert, dass es in der modernen Historiografie üblich geworden ist, als „Komplizen“ die Einwohner der okkupierten sowjetischen Territorien zu bezeichnen, die als Kollaborateure gehandelt hatten. Wobei bei weitem nicht alle von ihnen entgegen dem Wortlaut der Erklärung dem Hitler-Regime die Treue geschworen hatten.

Leider folgten keine Vorschläge zur Korrektur der Überschrift der Erklärung. Was nicht überraschend ist, da nach Meinung eines der Redner einige Territorien 1940 nicht als eigenständige Staaten existiert hatten, denn „zum Dritten Reich gehörten die Italiener, Spanier, Franzosen, Belgier, Holländer und Finnen“.

Allerdings haben die Initiatoren der Erklärung einer Änderung zugestimmt: in die Liste der „Komplizen“ Rumänien aufzunehmen. Aber nicht, weil sich unter dessen Kontrolle auf dem Territorium von Transnistrien und Bukowina jeder zehnte Einwohner des okkupierten Territoriums der UdSSR befunden hatte, sondern angesichts des Bestehens brutaler Straf-Einheiten… Ungarn, dessen Truppen nicht nur aktiv an den Kampfhandlungen teilgenommen, sondern auch in der Anfangsphase des Krieges weite Gebiete der Ukraine und danach der RSFS kontrolliert hatten, wobei sie sich durch eine äußerte Brutalität beim Umgang mit der einheimischen Bevölkerung ausgezeichnet hatten (worüber in unseren Ländern ein spezieller Sammelband von Dokumenten publiziert wurde), ist nicht damit gewürdigt worden.

Im Verlauf der Diskussion waren Zahlen der Opfer (von 19 bis 24 Millionen) unter den Vertretern aller slawischen Völker zu hören, und nicht nur Bürger der UdSSR. Freilich hat sich dies nicht in den territorialen Rahmen der Erklärung eingefügt und harmoniert nicht vollkommen mit dem, dass die Abgeordneten unter den „Komplizen“ Kroatien, Bulgarien und die Slowakei erwähnt hatten. Und noch ein wichtiges Detail: Vor dem Hintergrund solch eines Spektrums an Zahlen der ums Leben gekommenen Menschen löst die in der Erklärung ausgewiesenen Zahl der hingerichteten und an Hunger, Krankheiten und durch Bombardements ums Leben gekommenen sowjetischen Zivilisten – 13.684.692 Menschen – Zweifel aus. Sie kommt in statistischen Sammelbänden vor. Aber ihre Glaubwürdigkeit löst große Zweifel aus.

Bei der Begründung der Notwendigkeit der Verwendung des Begriffs „Genozid“ verwiesen die Teilnehmer der Diskussion mehrfach auf Dokumente des Nürnberger Prozesses. Eine der Redner teilte mit, dass diesen Begriff die französischen Staatsanwälte erwähnt hätten. Wie aber gut bekannt ist, hat dieser Begriff weder in die Anklageschrift noch in das Urteil Eingang gefunden. Ein zweiter Redner behauptete: „Wenn wir die Dokumente des Nürnberger Tribunals lesen, und wir handeln heute in seinem völkerrechtlichen System, so geht es gerade um einen Genozid der Völker der Sowjetunion“. Nach seiner Meinung „kann man die Willkürakte und Gräueltaten der Nazis sowie die Ereignisse jener Zeit mit keiner anderen Formel und keinem anderen Begriff als Genozid bezeichnen“. Derweil kommen im Urteil des Nürnberger Tribunals „andere“ Termini vor: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Daher ist es recht zweifelhaft, dass die Auslegung des Begriffs hinsichtlich der Staatsbürgerschaft „noch einmal die gerichtliche Bewertung, die durch das Nürnberger Tribunal gegeben wurde, bekräftigt“.

Kartapolow erinnerte an jene, an die das Dokument gerichtet sei – an die Parlamentarier der ganzen Welt. „Man muss sie mit eben ihrer Waffe schlagen. Sie haben das „Genozid“ erfunden, sie haben ihn begründet, sie haben ihn in die Jurisprudenz eingeführt“. Leider hatte sich keiner der Diskussionsteilnehmer dessen erinnert, dass der polnisch-jüdische Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin (1900-1959), der den Begriff „Genozid“ „erfunden“ und untersetzt hatte, auf dem Territorium des Russischen Imperiums, unweit der Stadt Bezvodno im heutigen Weißrussland geboren wurde.

In der russischen Historiografie ist wie auch im Verlauf von elf regionalen Gerichtsprozessen ermittelt worden, dass die Okkupanten die sowjetischen Kriegsgefangenen, Kommunisten, die Widerstandskämpfer, Geiseln, Geisteskranken und Invaliden, aber auch die Juden und Zigeuner als eine separate Kategorie von Opfern ausgewiesen hatten. Übrigens, das Volk der Zigeuner (Sinti und Roma – Anmerkung der Redaktion) wurde in der Erklärung und im Verlauf der Diskussion nicht einmal erwähnt.

Es gab da noch einen Vorschlag, der gleichfalls nicht in den Wortlaut aufgenommen wurde, der am Tag der Erörterung veröffentlicht worden war: Am Vorabend der Tagung war noch eine, die bereits elfte Entscheidung eines Gerichts des Verwaltungsgebietes Belgorod über den „Genozid des sowjetischen Volkes“ gefällt worden. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung wurde in allen Medien die Tatsache der schrecklichen Tragödie im Binsenmatten-Werk von Belgorod angeführt, bei der am 5. Februar 1942 „rund 2.000 völlig unschuldige Menschen“ ums Leben gekommen waren.

Derweil ist gut bekannt, dass die Hauptopfer hier Juden gewesen waren. Darüber hatte die „NG“ in der Ausgabe vom 28. Januar 2019 in dem Beitrag „Wenig bekannte Seite des Holocausts auf dem Territorium Russlands. Der Schmerz des Binsenmatten-Werkes“ berichtet. Unter den bei lebendigem Leibe verbrannten war auch die 28jährige russische Lehrerin Olga Sawizkaja gewesen. Vor der Hinrichtung hatte man ihr angeboten, sich vom 4jährigen Sohn zu trennen, dessen Vater ein Jude gewesen war, und ihn zur Hinrichtung herzugeben. Die Mutter ließ den Sohn nicht im Stich und ist zusammen mit ihm ums Leben gekommen.

Eine Reihe von Anmerkungen der Abgeordneten betrafen die Linguistik. Konstantin Satulin (Kremlpartei „Einiges Russland“) lenkte die Aufmerksamkeit auf den Titel der Erklärung. „So spricht man nie vom Genozid – von einem Genozid durch Deutschland. Es war ein Genozid seitens Deutschlands und dessen Komplizen“. Im Diskussionsverlauf erklangen auch exotische Vorschläge – die Formationen auf dem Territorium der annektierten oder okkupierten Länder nicht als „Freiwillige“ zu bezeichnen. Vorgeschlagen wurde, die heutigen Länder hervorzuheben, deren Vertreter am Genozid teilgenommen hatten. Bei solch einem Herangehen konnte man in diese Liste nicht nur das von der Wehrmacht okkupierte und von den Abgeordneten „unverdient vergessene“ Litauen aufnehmen, sondern auch die übrigen Republiken, das heißt Völker der UdSSR inklusive der auf dem Territorium des heutigen Russlands lebenden. (Allein die in keinerlei Genozid-Schemas passende Republik Lokot mit ihrem „Führer“ Bronislaw Kaminski, der von den Hitler-Leuten 1944 aufgrund übermäßiger Brutalität hingerichtet wurde, kann da erwähnt werden.)

Unterbreitet wurde der Vorschlag, in die Liste der Länder, die einen Genozid der Völker der UdSSR begangen hatten, Japan aufzunehmen, das kein sowjetisches Territorium okkupiert hatte. Aber auch von Deutschland ist eine Wiedergutmachung im Umfang dessen 20 Jahreshaushalte usw. gefordert worden.

Übrigens, der Erinnerungspolitik in Deutschland wurden zwei Absätze der Erklärung gewidmet. Der sowjetischen Opfer, darunter in den Jahren der Blockade, wolle man sich angeblich in der Bundesrepublik Deutschland nicht und in keiner Weise sie verewigen. Zur gleichen Zeit wurde die Anerkennung des Holodomor durch den Bundestag am 30. November 2022 als Völkermord hervorgehoben.

Ist dem (wirklich) so? Es genügt, Beispiele von Erklärungen des gegenwärtigen Bundespräsidenten Deutschlands und dessen Vorgänger anzuführen. Joachim Gauck hatte am 27. Januar 2014 in einem Schreiben an den Präsidenten Russlands im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag des Endes der Blockade unterstrichen: „Ich kann nur mit tiefer Trauer und mit Scham an den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion denken. Ein besonders schreckliches Geschehen war die brutale Einkesselung Leningrads…. Ich sage Ihnen und Ihrem Volk: Wir teilen den Schmerz um die Opfer und wir fühlen mit den Überlebenden, die bis heute unter den Folgen des Krieges leiden“.

Am 14. November 2021 trat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Bundestag auf und sagte unter anderem: „Unser Gedächtnis aber scheut, wenn es Auskunft über Krieg und Verbrechen im Osten und Südosten Europas geben soll. Es versagt vor den Verbrechen an Zivilisten, Zwangsarbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen schon in den ersten Monaten nach dem Überfall Hunderttausende ums Leben kamen: verhungert, erschlagen, erschossen“.

Mit einer gesonderten Passage in der Rede Sluzkis wurde Polen „gewürdigt“, das hinsichtlich der gefallenen sowjetischen Soldaten und Offiziere am Weitesten als die anderen gegangen sei: „Ihre Grabstätten, ihre Gräber gibt es nicht mehr. … In ausnahmslos allen Wojewodschaften sind sie vernichtet worden“, behauptete der LDPR-Chef. Dem ist nicht ganz so. Angeführt sei nur ein Beispiel: Auf dem städtischen Friedhof von Oświęcim befindet sich die Gedenkstätte für die sowjetischen Soldaten, die im Verlauf der Befreiung dieser Stadt und des Todeslagers Auschwitz gefallen waren, in einem ausgezeichneten Zustand.

Leider haben die russischen Massenmedien, die den Wortlaut der von den Abgeordneten verabschiedeten Erklärung (die wortwörtlich den Entwurf dieses wichtigen Dokuments, das am 14. März veröffentlicht worden war, wiederholte) publizierten oder darlegten, die wichtigste Frage nicht behandelt: Ist ihre weitere Überarbeitung unter Berücksichtigung der formulierten Änderungen vorgesehen?

Derweil wurde wenige Tage später auf der Internetseite der Duma der überarbeitete Wortlaut der Erklärung veröffentlicht, in der die verbündeten Länder Nazi-Deutschlands ausgewiesen wurden. In dem Verzeichnis der Staaten, aus denen Freiwillige gekommen waren, ist aber nach wie vor Lettland ausgewiesen (neben Österreich, Dänemark, Polen, Frankreich und Tschechien) und Estland dieser Liste hinzugefügt worden.

Unseres Erachtens muss die Erörterung dieses wichtigen Themas detailliert auch in der Experten-Community vorgenommen werden. Die offene Diskussion im Parlament zeigte, dass in den Bewertungen der Ereignisse und des Vorgehens des Okkupationsregimes viele Fragen bleiben.

Sowohl die Erklärung an sich als auch die Diskussion in der Staatsduma sind zweifellos aus der Sicht der Gestaltung der Erinnerungspolitik über den schrecklichsten Krieg in der Menschheitsgeschichte, der Millionen Menschenleben kostete, interessant. Die Exaktheit der Formulierungen und Fakten spielt eine überaus wichtige Rolle bei der Beurteilung der Errungenschaften als auch der ungelösten Fragen in der heutigen russischen Geschichtswissenschaft.

Es scheint, dass in der wissenschaftlichen Literatur, den Bildungsprogrammen und Medien von einem Genozid, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die gegen die Völker der Sowjetunion durch Deutschland, dessen Verbündeten und Komplizen im Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges in den Jahren 1941-1945 verübt wurden, gesprochen werden muss. Dabei müssen unbedingt zwei Völker der UdSSR ausgewiesen werden, das jüdische und das der Sinti und Roma, die von der Staatengemeinschaft generell als Opfer des Nazi-Genozids anerkannt wurden. Es müssen aber auch alle Kategorien von Bürgern der UdSSR ausgewiesen werden, die Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit bzw. Menschlichkeit wurden.

Post Scriptum

Der Begriff „Genozid“ wird im heutigen Russland seit Beginn des Konflikts im Donbass im Jahr 2014 und vor allem der sogenannten militärischen Sonderoperation in Russland (seit dem 24. Februar 2022) so häufig verwendet, dass selbst Experten davon sprechen, dass dieser Terminus schrittweise ausgehöhlt wird. Eine Frage bleibt dabei jedoch dennoch offen: Sind die massenhaften Erschießungen von Sowjetbürgern in den Jahren der Stalin-Repressalien ebenfalls der Kategorie „Genozid“ zuzuordnen? Schließlich sollen hunderttausende Menschen erschossen worden sein. Und die Zahl derjenigen, die aufgrund der schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen in den GULAGs den Tod gefunden hatten, ist gleichfalls eine erschütternde. In Russland ist diese düstere Seite in der Geschichte des 20. Jahrhunderts inzwischen fast ausgeblendet worden, da solche Organisationen wie „Memorial“ oder das Sacharow-Zentrum plattgemacht wurden und werden.