Eine Integration von Weißrussland und Russland in der bisherigen Form sei bereits unmöglich, erklärte der Präsident der Republik, Alexander Lukaschenko. Er rief auf, die Wirtschaftsintegration unter Bedingungen einer Gleichberechtigung vorzunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich eine engere Zusammenarbeit nunmehr nicht nur in einer Rückkehr von Vergünstigungen und der Stundung von Krediten darstellen wird, sondern auch in dem Versuch, das Lebensniveau in Weißrussland bis zu den russischen Standards zu bringen. Und dann können in Abhängigkeit von den bevorstehenden Vereinbarungen die Ausgaben Russlands für die weißrussische Stabilität bis zu elf, zwölf Milliarden US-Dollar im Jahr ausmachen.
Jene Integration zu verwirklichen, die im Unionsvertrag verankert worden war, ist heute bereits unmöglich. Ihre Hauptkonturen waren unter anderen Bedingungen ausgearbeitet worden. Dies erklärte am Mittwoch Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko in einem Interview für ausgewählte russische Medien. „Deshalb haben wir mit Russlands Präsident begonnen, sogenannte Roadmaps zu erörtern, um die neuen Wege für eine Integration an die heutigen Bedingungen anzupassen und unter den neuen Bedingungen auszuarbeiten“, erinnerte er.
Lukaschenko präzisierte, dass, wenn man über die Tiefe der Integration spreche, so es aus wirtschaftlicher Sicht keinerlei Fragen und Probleme gebe. „Das wichtigste ist eine gleichberechtigte Grundlage“, rief er auf. Laut seiner Präzisierung würden in der Struktur des Unionsstaates heute alle für die Annahme von Entscheidungen notwendigen Organe existieren. „Lassen Sie uns also vom Leben ausgehen und so handeln, damit die gegenwärtigen politischen Strukturen, die wir haben, funktionieren… Wir treffen Entscheidungen und realisieren sie oft nicht. Wir sind soweit gegangen, dass wir Gaskriege, Milchkriege, Konfektkriege und Ölkriege vom Zaun gebrochen und bis zu Absurdem gelangten“, sagte der Präsident der Republik.
Ähnliche Formulierungen hatte zuvor auch Maxim Oreschkin verwendet, der jetzt das Amt eines Beraters des Präsidenten bekleidet: Die Integration Russlands und Weißrusslands, „dies ist keine Frage einer Vereinigung der Staaten. Es geht um eine Vereinigung der Wirtschaften wie die von gleichen Partnern“.
Freilich, das „Absurde“, auf das der Präsident der Republik verweist, ist nicht an einer leeren Stelle aufgetreten. Und das, was einst Minsk als eine Gleichberechtigung erschien, wurde durch Moskau an sich – besonders in der neuen Phase der Wirtschaftskrise – in einem anderen Licht gesehen.
„Von 2011 bis einschließlich 2015 wurden zollfrei alljährlich 18 bis 23 Millionen Tonnen Erdöl an unsere weißrussischen Partner geliefert worden. Und insgesamt hat der russische Haushalt im Zeitraum von 2011 bis 2015 im Zusammenhang damit 22,3 Milliarden Dollar weniger erhalten. All dies ist nichts Anderes als eine direkte und indirekte Unterstützung unseres verbündeten weißrussischen Staates“, erläuterte der Kreml-Pressedienst in der Hochzeit des Ölkrieges.
Dazu kamen ungefähr 5 Milliarden Dollar im Jahr als eine direkte finanzielle Bezuschussung der Republik in verschiedenen Formen. Die Medien teilten mit, dass beispielsweise laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds die gesamte Unterstützung Moskaus für die Wirtschaft Weißrusslands damals fast 9-10 Milliarden Dollar im Jahr ausmachte (siehe Printversion der „NG“ vom 13.08.2020).
Als diese Quelle zu versiegen begann, war Weißrussland gezwungen gewesen, die ohnehin schon signifikante Auslandsverschuldung des Landes zu vergrößern. Während die gesamte Staatsverschuldung der Republik im Jahr 2015 etwas weniger als 15 Milliarden US-Dollar ausmachte, überstieg sie laut Angaben der Nationalbank mit Stand von Beginn des Jahres 2020 bereits 18 Milliarden Dollar.
Dabei benötigt Weißrussland, das keinen Spielraum für finanzielle Manöver hat, immer noch vergünstigte Lieferungen von Energieträgern wie vor fünf bis zehn Jahren. Außerdem steht akut die Frage nach einer Lockerung der Forderungen nach einer Rückzahlung der laufenden Schulden. Wie die „NG“ bereits schrieb, erreicht die Staatsverschuldung der Republik gegenüber dem Hauptgläubiger Russland derzeit etwa acht Milliarden Dollar. Und deren Rückzahlung wird vor dem Hintergrund der zunehmenden Sanktionsdrohungen problematisch.
Am 14. September finden, wie der Kreml-Pressedienst am vergangenen Freitag bestätigte, in Sotschi Gespräche von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko statt. Bereits am Mittwoch erläuterte der Pressesekretär des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow: „Auf der Ebene von Experten und verschiedener Institutionen dauert die Arbeit zu aktuellen Fragen an, sei dies die Frage der weißrussischen Schulden, einer „Roadmap“ zur Integration oder der Preise für Energieressourcen, die nach Weißrussland geliefert werden… All dies wird jedes Mal bei einem Treffen beider Präsidenten erörtert. Gegenwärtig, unter den Bedingungen, unter denen Weißrussland solche nicht einfachen Tage durchmacht, erlangt dieses Kommunizieren eine noch größere Aktualität und Wichtigkeit“, versicherte er.
Also kann Minsk unter wirtschaftlicher „Gleichberechtigung“ eine Rückkehr zu vergünstigten Lieferungen von Energieträgern, eine Lockerung der Forderungen hinsichtlich einer Tilgung der Kredite sowie andere Finanzspritzen verstehen. Aber über dies hinaus wird möglicherwiese noch etwas erforderlich sein, besonders jetzt, da die weißrussische Führung die Protestierenden bändigen und die chronischen sozial-ökonomischen Probleme der Republik lösen muss.
Zum Beispiel machten die internationalen Reserven des Landes mit Stand vom 1. September rund 7,5 Milliarden Dollar aus, wie am Mittwoch die Nationalbank Weißrusslands mitteilte, womit sie allein nur im „Protest-“ August um beinahe 16 Prozent zurückgegangen sind.
„Eine engere Integration Russlands und Weißrusslands als zum gegenwärtigen Tag ist in der nächsten Zukunft unmöglich. Und vor allem aufgrund des Unterschieds in den Lebensniveaus beider Länder. Als der Europäischen Union neue Länder beitraten, forderte man von ihnen zuerst, die Wirtschaft und den Sozialbereich zumindest dem minimal zulässigen Lebensniveau in der EU anzupassen. In diesem Fall muss Weißrussland für die Ziele einer engeren Wirtschaftsintegration Mittel finden, um die Löhne und Gehälter sowie Renten bis zum russischen Durchschnittsniveau anzuheben“, erläuterte gegenüber der „NG“ Natalia Miltschakowa, stellvertretende Leiterin des Zentrums „Alpari“. Ohne ausländische Kredite sei dies schwer zu bewerkstelligen, meint die Expertin. Aber wird vielleicht Russland dabei helfen? Das ist eine Diskussionsfrage, besonders wenn man berücksichtigt, dass sich auch die russische Wirtschaft selbst in einer Krise befindet.
Gegenwärtig beträgt laut Angaben des Nationalen Statistikkomitees von Weißrussland und der Nationalbank der durchschnittliche Monatslohn in Weißrussland rund 520 Dollar. Dies ist jedoch spürbar weniger als in Russland, mit dem eine engere Integration bevorsteht. In der Russischen Föderation liegt laut Angaben von Rosstat und der Zentralbank der durchschnittliche Monatslohn bei etwa 750 Dollar. Unter Berücksichtigung der Anzahl der Beschäftigten in der Republik — über 4,3 Millionen Menschen – erfordert die Beseitigung solch eines Unterschieds bei den Löhnen und Gehältern, dass alljährlich rund 12 Milliarden Dollar dafür gefunden werden müssen.
Die Durchschnittsrente in Weißrussland lag schon nicht so weit unter der russischen. Sie beträgt etwa 190 Dollar im Vergleich zu den 210 Dollar in der Russischen Föderation. Aber wie dem auch sein mag, dieser Unterschied müsste auch ausgeglichen werden. Und dies sind noch einmal rund 50 Millionen Dollar im Monat (unter Berücksichtigung dessen, dass es in Weißrussland 2,5 Millionen Rentner gibt). Im Endergebnis ergibt sich: Die Anhebung des Lebensniveaus der Weißrussen bis zu den russischen Standards erfordert jährliche Investitionen in einem Umfang von zwölf Milliarden Dollar, was umgerechnet auf jeden Bürger Russlands etwa 6.000 Rubel (umgerechnet ca. 67 Euro) im Jahr ausmacht. Solch eine Belastung kann hypothetisch mittelbar über eine erneute Anhebung von Steuern und eine Kürzung der aktuellen Ausgaben des Haushalts der Russischen Föderation umverteilt werden. Und dies, ohne jene neun bis zehn Milliarden Dollar zu zählen, die Moskau früher laut Expertenschätzungen alljährlich in die Republik steckte. Und dies bedeutet, dass eine noch wesentlichere Hilfe für Weißrussland erforderlich werden kann.
Ausländische Experten sind der Auffassung, dass Moskau sich auf solche Investitionen einlassen werde, schließlich ist der Einsatz das Risiko wert. „Moskau strebt das an, was wir als eine Soft-Annexion bezeichnen.“ So interpretieren das Geschehen Analytiker des US-amerikanischen Magazins „Foreign Affairs“. Ihre Meinung nach werde der Prozess „mit einer Wirtschaftsintegration und einer gemeinsamen Währung“ beginnen, danach werde es eine politische Integration geben, die eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik vorsehe. Und abgeschlossen werde der Prozess „durch die Bildung eines vollwertigen Unionsstaates, was einen faktischen Beitritt Weißrusslands zu Russland bedeuten würde“.
Im Kreml weist man jedoch solche Vermutungen zurück. „Natürlich kann es keinerlei Fusionen, Übernahmen usw. als ein Ergebnis des Besuchs geben. Dies ist absoluter Unsinn“, erläuterte Peskow gegenüber Journalisten. Die Einrichtung eines gemeinsamen Emissionszentrums bezeichnete er aber als einen „sehr wesentlichen Schritt auf dem Weg der Vertiefung der russisch-weißrussischen Integration“. Er präzisierte aber, dass ihm nicht bekannt sei, dass dieses Thema konkret diskutiert worden wäre.
Die Bevölkerung der Russischen Föderation ist jedoch soziologischen Umfragen nach zu urteilen wohl kaum zu einer kostspieligen Integration mit der Republik bereit. „Die Vereinigung beider Staaten ist nicht notwendig. Gebraucht werden einfach gute gutnachbarschaftliche Beziehungen mit Weißrussland wie mit einem anderen Staat“, meinen 43 Prozent der 1600 Bürger, die durch das Allrussische Meinungsforschungszentrum VTsIOM gemäß einer repräsentativen Auswahl befragt wurden. Obgleich Anfang 2019 die Anzahl der Anhänger solch einer Antwort etwas größer war – 48 Prozent.
Für eine „Vereinigung beider Staaten zu einem Staat auf einer gleichberechtigten Grundlage“ sprachen sich 22 Prozent der Befragten aus. Innerhalb von anderthalb Jahren hat sich damit der Anteil der Anhänger dieser Variante vergrößert. Im Januar 2019 machte er 18 Prozent aus. Für einen „Beitritt Weißrusslands zu Russland als eins oder mehrere Subjekte der Russischen Föderation“ sprachen sich wie vor anderthalb Jahren 17 Prozent der Befragten aus.