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EU-Spitzenvertreter instruieren Selenskij vor Verhandlungen mit Moskau


Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat mitgeteilt, dass am 8. April Spitzenvertreter der Europäischen Union Kiew besuchen werden. Die bevorstehende gemeinsame Arbeit „wird von vielen Völkern der Welt“ positiv bewertet werden, versicherte Selenskij. Und damit erinnerte er an die am Vorabend unterbreiteten großangelegten Vorschläge zur Reformierung oder Selbstauflösung des Sicherheitsrates der UNO. Experten schließen entsprechend den Ergebnissen der anstehenden Gespräche sowohl eine Verstärkung des Drucks auf Moskau als auch einige Bewegungen in der politisch-diplomatischen Regelung des Konflikts nicht aus.

Am Freitag erwartet man in Kiew den Besuch der Präsidenten der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell. Darüber informierte am Mittwoch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einer neuen Videobotschaft. Und am Donnerstagvormittag bestätigte dies noch einmal Sergej Nikiforov, Pressesekretär des Staatsoberhauptes der Ukraine. Wie Eric Mamer, der Sprecher der Europäischen Kommission, erklärte, erfolge die erwähnte Begegnung mit Selenskij im Vorfeld der Geberkonferenz zur Unterstützung der Ukraine, die für den kommenden Samstag in Warschau geplant ist. Laut Selenskij werde die bevorstehende gemeinsame Arbeit mit den Gästen aus der EU „durch viele Völker der Welt positiv bewertet“ werden.

In dieser Woche trat der ukrainische Präsident per Videokonferenzschaltung vor dem Sicherheitsrat der UNO im Zusammenhang mit dem Zwischenfall im Kiewer Vorort Butscha auf. Dabei schlug er dem Gremium vor, in dem Russland als Ständiges Mitglied ein Vetorecht besitzt, es auszuschließen oder sich selbst aufzulösen. Notwendig sei, „Russland als einen Aggressor und eine Kriegsquelle auszuschließen, damit es nicht die Entscheidungen blockiert, die dessen Aggression und Krieg betreffen“, oder das Sicherheitssystem zu reformieren, betonte Selenskij gegenüber den Mitgliedern des Sicherheitsrates. Und fügte hinzu: „Wenn es keine andere Variante oder Alternative gibt, so müssen Sie sich alle selbst auflösen“. Heute sei die UNO nicht in der Lage, effektiv auf die militärische Sonderoperation der Russischen Föderation zu reagieren, konstatierte der Präsident der Ukraine. Und weiter schlug er vor, in Kiew eine internationale Konferenz abzuhalten, die der Reformierung des globalen Sicherheitssystems gewidmet werden sollte.

Allerdings könne man, wie in einer Sendung des TV-Senders MSNBC die ständige Vertreterin der USA bei der UNO, Linda Thomas-Greenfield, erklärte, die Russische Föderation nicht aus dem Sicherheitsrat der UNO, der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges gebildet worden war, ausschließen. Man könne aber ihren Aufenthalt in diesem Gremium zu einem „sehr unkomfortablen“ machen, präzisierte die 69jährige US-Diplomatin. Und sie fügte hinzu, dass Washington bereits an einem Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat arbeite. Wie angenommen wird, könne noch in dieser Woche in der UN-Vollversammlung eine Abstimmung zur Aussetzung der Tätigkeit der Russischen Föderation im genannten Gremium erfolgen. In einem Kommentar für die „NG“ sagte zuvor der Programmdirektor des „Valdai“-Clubs Oleg Barabanow, dass er nicht ausschließe, dass eine Mehrheit in der Vollversammlung für eine Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands im UN-Menschenrechtsrat stimmen werde. Obgleich nach Ende einer dreijährigen Arbeitsdauer die Russische Föderation auch so dieses Gremium verlassen würde.

Es sei daran erinnert, hat man auch in Europa aktiv auf den Zwischenfall in Butscha reagierte, von wo seit dem 2. April, d. h. drei Tage nach dem Abzug der russischen Militärs aus der Kleinstadt Darstellungen von Zivilisten, die von ihnen angeblich ermordet wurden, verbreitet wurden und werden. Und in Europa beschloss man ebenfalls die Inkraftsetzung eines bereits fünften Sanktionspaketes gegen die Russische Föderation, aber auch über die Ausweisung dutzender russischer Diplomaten. So haben die bundesdeutschen Behörden 40 Mitarbeiter russischer diplomatischer Vertretungen zu unerwünschten Personen erklärt. (Lt. ersten Berechnungen sind seit Beginn des Ukraine-Krieges bereits etwa 400 russische Diplomaten aus europäischen und anderen Ländern ausgewiesen worden – Anmerkung der Redaktion). Wobei Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in ihrer Erklärung, die auf der Internetseite des Auswärtigen Amts veröffentlicht wurde, diese Entscheidungen mit Fotos aus Butscha in Verbindung gebracht hatte, da jene „von einer unglaublichen Brutalität der russischen Führung und derer, die seiner Propaganda folgen, von einem Vernichtungswillen, der über alle Grenzen hinweggeht“, zeugen würden. „Ähnliche Bilder müssen wir noch aus vielen anderen Orten befürchten, die russische Truppen in der Ukraine besetzt haben“, schloss sie dabei nicht aus. Und ihre Worte erklangen als eine Bestätigung für die dieser Tage vom offiziellen Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, abgegebene Erklärung. Laut seinen Aussagen, die durch keine handfesten beweise untersetzt wurden, sei durch das Zentrum für psychologische Operationen der ukrainischen Streitkräfte eine Serie von inszenierten Aufnahmen von angeblich durch gewaltsame Handlungen russischer Streitkräfte umgekommenen Zivilisten zwecks weiterer Verbreitung in westlichen Medien vorbereitet worden.

Bezeichnend ist, dass vor solch einem Hintergrund auch selbst Wladimir Selenskij lt. Medienberichten im Verlauf eine Fernsehmarathons erklärte, dass die ukrainische Delegation keine Verhandlungen mit Moskau zu Fragen der von Moskau angestrebten Demilitarisierung und Entnazifizierung des Landes führen werde. Dabei bezeichnete er den Donbass und die Krim als ukrainisches Territorium, wobei er hier lediglich die Möglichkeit eines Zeitaufschubs einräumte, und sprach sich für eine Rückkehr Russlands auf die Positionen vom Stand des 23. Februar aus. Das heißt bis zum Zeitpunkt vor Beginn der von Russlands Präsident Wladimir Putin befohlenen und bereits den 43. Tag andauernden Sonderoperation. Und somit versuchte er faktisch aus Moskauer Sicht, die von den ukrainischen Vertretern bei den Istanbuler Verhandlungen am 29. März formulierten, von der Tonart her kompromissfreundlicheren Erklärungen zu entkräften.

Derartige Erläuterungen des ukrainischen Präsidenten seien, wie der stellvertretende Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, Dmitrij Suslow, gegenüber der „NG“ anmerkte, eher für das Inlandspublikum bestimmt und würden eine extrem destruktive Rolle spielen. Sie würden überzogene Erwartungen bei der ukrainischen Elite und der Bevölkerung hinsichtlich dessen auslösen, wie der Deal letztlich aussehen könnte, und einen falschen Eindruck vom Näherkommen der Ukraine zu einem militärischen Sieg suggerieren. Obgleich dies nicht der Realität entspreche. „Die Kampfhandlungen gehen weiter. Und die Situation im Donbass wird für die ukrainische Seite immer fataler“, erklärte Suslow. Zur gleichen Zeit versuche aber Selenskij, bestätigte er, sich einer Unterstützung des Westens im Verhandlungsprozess zu versichern. Und hierbei werde mehr auf die Europäische Union gesetzt, da die USA nicht an Verhandlungen interessiert seien.

Wahrscheinlich werde das Freitag-Treffen dazu berufen sein, die Solidarität der EU-Vertreter mit der Ukraine zu unterstreichen. Im Zusammenhang damit können sie irgendwelche Initiativen zur Unterstützung der ukrainischen Seite im militärischen und Wirtschaftsbereich vorstellen. Um die Verhandlungsvorschläge Kiews zu unterstützen, sind die Europäer gleichfalls in der Lage, die von Moskau formulierten Aussagen zu Fragen der Krim, des Donbass sowie zur Demilitarisierung und Entnazifizierung für illegitime zu erklären. Dies wird natürlich die Position der Ukraine stärken, aber ganz bestimmt nicht die Welt erfreuen, da es die Verhandlungen erschweren wird. Möglicherweise wird es aber doch auch um das Erreichen eines gewissen Fortschritts bei der politisch-diplomatischen Konfliktregelung gehen, zumal die russische Seite selbst ungeachtet der Ereignisse von Butscha für eine Fortsetzung der Verhandlungen eintritt. In dieser Hinsicht könnten beispielsweise Vereinbarungen über eine Beteiligung von Ländern der Europäischen Union an den Sicherheitsgarantien sowie einige andere Aspekte der Konfliktregelung formuliert werden, nahm Suslow an. Und abschließend erinnerte er daran, dass der Besuch der EU-Spitzenvertreter nur unter den Bedingungen eines Abzugs der russischen Streitkräfte aus dem Gebiet von Kiew möglich geworden sei.

Interessant ist, dass am Mittwoch Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, in einem Interview des französischen Nachrichten-TV-Senders LC1 den Abzug der russischen Truppen aus dem Verwaltungsgebiet Kiew als eine Geste des guten Willens bezeichnete, die dazu berufen sei, günstige Bedingungen für die Verhandlungen mit den ukrainischen Offiziellen zu sichern. Und in deren Verlauf seien ernsthafte Entscheidungen möglich. Russland sei daran interessiert, dass Wladimir Selenskij den bei den russisch-ukrainischen Verhandlungen gestellten Bedingungen zustimme. Und durch die Verhandlungen möchte Moskau der Militäroperation beenden, resümierte Peskow.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow nutzte derweil das Internet, um seine Sicht zum von der ukrainischen Seite vorgelegten neuen Entwurf für ein Abkommen darzulegen. Ein entsprechender, etwas mehr als drei Minuten langer Videokommentar wurde am Donnerstag,  um 14:34 Uhr Moskauer Zeit auf der offiziellen Seite des russischen Außenministeriums gepostet. Die Redaktion von „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgend eine Übersetzung dieses Kommentars:

 

„Gestern hat die ukrainische Seite der Verhandlungsgruppe ihren Entwurf für ein Abkommen vorgelegt. In ihm ist ein Abgehen von den wichtigsten Bestimmungen auszumachen, die beim Treffen in Istanbul am 29. März in einem Dokument festgehalten wurden, unter dem die Unterschrift des Leiters der ukrainischen Delegation David Arachamia steht.

In jenem Dokument hatten die Ukrainer klar formuliert, dass sich die künftigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht auf die Krim und Sewastopol erstrecken. Im gestrigen Entwurf aber fehlt diese klare Konstatierung. An ihrer Stelle werden vage Formulierungen über eine gewisse „effektive Kontrolle“ mit Stand vom 23. Februar dieses Jahres vorgeschlagen.

Außerdem figuriert die Idee, wonach die Probleme der Krim und des Donbass bei einem Treffen der Präsidenten Russlands und der Ukraine zur Sprache kommen sollen. Wobei Präsident Wladimir A. Selenskij mehrfach erklärt hatte, dass solch eine Begegnung ausschließlich nach Einstellung der Kampfhandlungen möglich sei. Sicherlich wird die ukrainische Seite in der nächsten Etappe bitten, die Truppen abzuziehen, und neue Vorbedingungen auftürmen. Diese Absicht ist klar. Sie ist inakzeptabel.

Ich würde gern daran erinnern, dass nach Istanbul als Antwort auf die Keime von Realismus in der ukrainischen Position die russischen Streitkräfte eine Deeskalation in der Kiew-Tschernigow-Richtung als eine Geste des guten Willens und zur Stimulierung des Vorankommens zu einer Vereinbarung vorgenommen haben. Als Antwort – die Provokation in Butscha, die sofort auch der Westen für die Verkündung einer neuen Portion von Sanktionen ausnutzte, aber auch die Gräueltaten gegen russische Kriegsgefangene seitens ukrainischer Neonazis.

Und noch ein prinzipieller Aspekt: In dem Dokument, unter dem die Unterschrift von D. Arachamia steht, ist klar gesagt worden, dass im Kontext eines neutralen, block- und kernwaffenfreien Status der Ukraine jegliche Militärmanöver unter Beteiligung von Ausländern nur mit Zustimmung aller Garantiestaaten inkl. Russland abgehalten werden würden. In dem gestern eingegangenen Vertragsentwurf ist jedoch diese eindeutige Festlegung auch ersetzt worden. Jetzt geht es bereits um eine Möglichkeit, Manöver mit Zustimmung der Mehrheit der Garantiestaaten ohne jegliche Erwähnung von Russland abzuhalten. Eine derartige Unfähigkeit zum Erreichen von Vereinbarungen ist zu einer chronischen geworden. Sie charakterisiert die wahren Absichten Kiews, seine Linie auf eine Verschleppung und sogar ein Scheitern der Verhandlungen durch ein Abweichen von dem erreichbaren Einvernehmen. Darin sehen wir eine Manifestation jener Tatsache, dass das Kiewer Regime durch Washington und dessen Verbündeten kontrolliert wird, die Präsident Wladimir Selenskij zu einer Fortsetzung der Kampfhandlungen veranlassen.

Ungeachtet aller Provokationen wird die russische Delegation den Verhandlungsprozess fortsetzen, wobei sie unseren Entwurf für ein Abkommen voranbringt, in dem klar und im vollen Umfang alle Schlüsselpositionen und -forderungen dargelegt worden sind.“