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Europa versucht, Lukaschenko vor Gericht zu stellen


Der Strom der illegalen Einwanderer aus Weißrussland in die EU-Länder lässt nicht nach. Europa ist nicht bereit, einen Dialog mit Minsk zu dessen Bedingungen zu führen, und sucht nach Wegen für eine Einflussnahme. Europa-Abgeordnete fordern, sich nicht auf Sanktionen zu beschränken und eine Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs zur Gesamtheit der Handlungen von Alexander Lukaschenko zu beginnen.

Am Mittwoch teilten polnische Grenzer mit, dass innerhalb eines Tages 483 illegale Migranten versucht hätten, die Grenze seitens Weißrusslands zu überwinden. Festgenommen wurden zwei Bürger aus dem Irak und 13 Helfer der Illegalen. Laut Angaben des litauischen Grenzdienstes sind 28 Versuche einer Verletzung der Staatsgrenze fixiert worden. Sie alle wurden verhindert. Rund 500 Menschen am Tag – so viele Migranten werden im Durchschnitt an der Grenze zu Weißrussland in der letzten Zeit von den Grenzern der benachbarten europäischen Länder festgenommen.

Europäische Politiker charakterisieren die Situation an der Grenze zu Weißrussland als eine schwierige. Diese Frage erörtern täglich die Regierungen Polens und Litauens. Die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson berichtete, dass in diesem Jahr 6.000 Menschen widerrechtlich die Grenze seitens Weißrusslands mit der EU überschritten hätten (das entsprechende Video ihres Auftritts ist auf der Internetseite der Europäischen Kommission gepostet worden), während es im vergangenen Jahr insgesamt nur 150 im Verlauf des ganzen Jahres gewesen seien. Weitere rund 9.000 Illegale vermochten die Grenze nicht zu passieren und wurden zurückgeschickt. Nach ihren Worten seien dies Bürger aus dem Irak, Kongo, Kamerun und Syrien. Solch eine schreckliche Zunahme, aber auch das, dass Weißrussland sich nicht auf einem der Migrationswege aus diesen Ländern befindet, veranlassen die europäischen Politiker, von einem künstlichen Charakter dieses Stroms von Illegalen zu sprechen. Die Offiziellen von Weißrussland würden diese Menschen als ein Instrument zur Ausübung von Druck auf die Europäische Union ausnutzen. Sie hätten sich aber verrechnet. Und Europa lasse sich nicht erpressen, erklärte die Euro-Kommissarin. Sie erinnerte daran, dass es den europäischen Diplomaten gelungen sei, den Migrantenstrom zu verringern, indem man sich mit dem Irak über eine Einstellung der Direktflüge aus diesem Land geeinigt hätte. Jetzt würden sie über andere Länder kommen. Die EU würde aber derzeit mit ihnen Verhandlungen führten, teilte Ylva Johansson mit. Später sagte sie in einem Interview für das Wochenblatt „Die Zeit“, dass auf der Ebene der Europäischen Kommission ein erneutes Sanktionspaket verabschiedet worden sei. Nach ihren Worten werde es derzeit vom Europarat behandelt.

Die Verbrechen an der Außenkontur und die anhaltenden Repressalien innerhalb des Landes veranlassen dazu, irgendwelche nichttraditionelle Methoden zur Einflussnahme auf Alexander Lukaschenko zu suchen und nicht nur auf Sanktionen zu setzen, sagten Europaabgeordnete im Verlauf der Erörterung der weißrussischen Frage. Nachdem der ehemalige Vizeverteidigungsminister Polens Romuald Szeremietiew erklärte hatte, dass Weißrussland gegen die EU einen Hybrid-Krieg führe, schlug er vor, sich zwecks Hilfe an die NATO zu wenden. Seine Meinung zitierte der polnische Hörfunk. „Notwendig sind ernsthafte Debatten im Sicherheitsrat der UNO. Und schließlich ist eine internationale Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs erforderlich“, zitierte die „Deutsche Welle“ den Vorschlag des polnischen Abgeordneten Witold Vaszczykowski. Der Abgeordnete aus Litauen Andrius Kubilius ist der Auffassung, dass der Internationale Strafgerichtshof die Verbrechen Lukaschenkos auf der Grundlage der Konventionen von Chicago und Montreal sowie der Konvention gegen Foltern behandeln könne. Die ersten zwei betreffen den Zwischenfall mit er erzwungenen Landung eines Ryanair-Jets in Minsk, um den in Ungnade gefallen Journalisten Roman Protasewitsch festzunehmen.

Die weißrussischen Offiziellen demonstrieren keinerlei Absichten, ihre Position sowohl hinsichtlich der Repressionen noch in Bezug auf die Migranten zu ändern. Einheimische Propagandisten berichten täglich über die schweren Aufenthaltsbedingungen der Migranten an der Grenze mit Polen. In Sendungen der weißrussischen TV-Kanäle erzählen Migranten, die die polnische Grenze im Sturm überwinden wollen, wie sie polnische Vertreter der bewaffneten Organe zurück nach Weißrussland drängen und wie Bewusstlose über den Boden geschleift werden würden. Sie berichten, dass sie schon lange nichts gegessen hätten und Wasser aus Pfützen trinken würden. Die Polen demonstrieren ihrerseits Videoaufnahmen, wie den Illegalen irgendwer von weißrussischer Seite hilft, die Stacheldrahtabsperrungen zu überwinden. Und weißrussische Grenzer werfen irgendwelche Gegenstände gegen Fahrzeuge der polnischen Dienste.

Am vergangenen Dienstag teilte der polnische Vizeaußenminister Martin Prydach mit, dass Polen, das sich von den Ideen des Humanismus leiten lasse, einen humanitären Konvoi für die Migranten nach Belarus entsenden werde, die sich in einer schlimmen Lage befinden würden und des Allernötigsten beraubt seien. Zuerst antwortete ihm der offizielle Sprecher des weißrussischen Grenzkomitees Anton Bytschkowskij. Er schlug Polen vor, die Migranten zu sich zu nehmen, die ohnehin schon auf dessen Territorium seien, und ihnen die für den humanitären Konvoi vorbereiteten Gegenstände zur Verfügung zu stellen.

Am Mittwoch trat der Sprecher von Weißrusslands Außenministerium Anatolij Glas mit einer zornigen Retourkutsche an die Adresse Polens auf: „Absurd und lächerlich sehen die Erklärungen von einer gewissen Bereitschaft, den „Menschen zu helfen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, vom Vertreter des Landes aus, in dem Flüchtlinge halbtot geschlagen und widerrechtlich abgeschoben werden und man nicht einmal behinderte Kinder verschone und einen Ausnahmezustand verhängt, um dies zu verbergen. Das nicht einfach die Entscheidungen der meisten internationalen Organisationen und die Bestimmungen der entsprechenden Dokumente ignoriert, sondern sich auch auf herausfordernde Art und Weise weigert, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerade über eine Hilfe für die Flüchtlinge, die an der Grenze hängengeblieben sind, zu erfüllen“, sagte er. Die Erklärungen polnischer Politiker über einen humanitären Konvoi bezeichnete Glas als Politikasterei (spießbürgerliches Politisieren) und populistische Rhetorik. Und die Absicht, „ohne eine Zustimmung des Partners“ einen humanitären Konvoi ins Land zu entsenden, wertete er als Missachtung der weißrussischen Staatlichkeit und Souveränität.

Es sei daran erinnert, dass Opponenten Lukaschenkos schon lange davon sprechen, dass seine Handlungen zum Gegenstand einer Behandlung eines internationalen Gerichts werden müssten. Wie die „NG“ schrieb, wird am 11. Oktober in Nürnberg eine Rechtskonferenz stattfinden, bei der geplant ist, mögliche Varianten für eine strafrechtliche Verfolgung der weißrussischen Offiziellen wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erörtern (https://ngdeutschland.de/fur-lukaschenko-bereitet-man-einen-nurnberger-prozess-vor/). Organisiert wird sie von der Antikrisen-Volksverwaltung, die durch einen der Anführer der Proteste, den Ex-Minister und früheren Diplomaten Pawel Latuschko gebildet worden war.

Die Initiatoren eines Nürnberger Prozesses für Lukaschenko sind der Auffassung, dass seine Handlungen (die Nötigung eines Ryanair-Jets zur Landung in Minsk, die Migrantenkrise an der Grenze zur EU) alle Merkmale internationalen Terrorismus aufweisen würden, und werfen den westlichen Politikern Unentschlossenheit und das Fehlen politischen Willens vor. Vielleicht werden die Initiativen der Europa-Abgeordneten diesen Prozess beschleunigen.