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Europas Gasmarkt erreichte ein neues Gleichgewicht


Der „Gazprom“-Export nach Europa wird wiederhergestellt. Während im zweiten Quartal dieses Jahres der Umfang der Pipeline-Gaslieferungen aus Russland in die EU 67 Millionen Kubikmeter am Tag ausmachte, so erreichte er im bisherigen dritten Quartal (lt. Angaben für den Zeitraum vom 1. Juli bis einschließlich 12. August 2023) 84 Millionen Kubikmeter am Tag, wie Zahlen des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (ENTSOG) belegen. Freilich liegt dies dennoch deutlich unter dem Niveau, das man am Vorabend der Energiekrise, im vierten Quartal des Jahres 2021 beobachten konnte, als der Umfang der Lieferungen von „Gazprom“ in die EU 366 Millionen Kubikmeter am Tag ausgemacht hatte.

Der europäische Markt ist in den letzten mehr als anderthalb Jahren in den Zustand eines neuen Gleichgewichts gekommen, obgleich der Kreis der Gaslieferanten für die EU ein unveränderter geblieben ist. Wie auch Ende des Jahres 2021 kann man sie in sechs Hauptkategorien unterteilen. Erstens ist da der „Gazprom“-Konzern, der nach den Sprengstoffanschlägen gegen die Nord-Stream-Pipelines für die Lieferungen nach Europa eine der Gasmessstationen des ukrainischen Gastransportsystems, die Gasmessstation Sudscha mit einer projektierten Leistung von 244 Millionen Kubikmeter am Tag, aber auch die Balkan-Abzweigleitung von „Turk Stream“, deren Leistung 43 Millionen Kubikmeter am Tag ausmacht, nutzt. Zweitens sind da Norwegen und Dänemark, die vor allem von den in der Nordsee gelegenen Feldern Erdgas exportieren. Drittens, Großbritannien mit der Pipeline Interconnector, dem entscheidenden Kanal für Lieferungen, der das Terminal im englischen Bacton mit dem belgischen Zeebrügge verbindet. Viertens, Aserbaidschan, das Gas mit Hilfe der Transanatolischen (TANAP) und der Transadriatischen (TAP) Pipeline mit einem Transit via Georgien und der Türkei exportiert. Fünftens sind da die Länder Nordafrikas – Libyen und Algerien. Letzteres nutzt für Lieferungen in die EU unter anderem die Transitleitungen, die über das Territorium von Tunesien und Libyen verlaufen. Und sechstens sind da die Lieferanten verflüssigten Erdgases (LNG), deren Lieferungen in der Statistik von ENTSOG fixiert werden, nachdem das regasifizierte LNG in die Pipelinenetze der EU-Mitgliedsländer gepumpt worden ist.

Die entscheidende Veränderung, die sich seit Beginn der Energiekrise und im Weiteren auch nach Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine vollzogen hat, ist der drastische Rückgang der Lieferungen von „Gazprom“ und als Folge des Anteils des russischen Konzerns auf dem europäischen Markt. Wie bereits oben erwähnt wurde, belief deren Umfang im ausgewiesenen Zeitraum des dritten Quartals dieses Jahres 84 Millionen Kubikmeter am Tag, womit sie dem Niveau vom vierten Quartal des Jahres 2021 (366 Millionen Kubikmeter am Tag) um ein Mehrfaches hinterherhinken. Der Anteil von „Gazprom“ in der Struktur des Gas-Imports in die EU ist damit in der gleichen Zeitspanne von 37 bis auf zehn Prozent eingebrochen.

Die von „Gazprom“ hinterlassene Nische haben teilweise die LNG-Lieferanten eingenommen. Im zu Ende gehenden dritten Quartal dieses Jahres hat der Umfang der LNG-Lieferungen in die EU-Länder bis einschließlich 12. August 310 Millionen Kubikmeter am Tag erreicht. Und ihr Anteil an der Gesamtstruktur des Gasimports in die Europäische Union schnellte bis auf 38 Prozent hoch.

Die Lieferungen aller anderen Produzenten sind etwa auf ein und demselben Niveau geblieben. So hat im oben ausgewiesenen Zeitraum des dritten Quartals dieses Jahres ihr Gesamtvolumen 429 Millionen Kubikmeter am Tag ausgemacht, womit es den Stand des vierten Quartals des Jahres 2021 (414 Millionen Kubikmeter am Tag) nur ein wenig übertroffen hat. Vergleichsweise starke Schwankungen der Lieferungen waren nur für Großbritannien charakteristisch, das entsprechend der Verringerung der „Gazprom“-Lieferungen schrittweise den Export in die EU forcierte. Während im vierten Quartal des Jahres 2021 die Pipelinelieferungen in die Länder der Europäischen Union 36 Millionen Kubikmeter am Tag ausmachten, hat ihr Umfang im zweiten Quartal des vergangenen Jahres 88 Millionen Kubikmeter am Tag erreicht. Dabei ist der Anteil von Großbritannien in der Gesamtstruktur des Gasimports in die EU von vier bis auf acht Prozent angestiegen.

Insgesamt hat man entsprechend den Ergebnissen von mehr als anderthalb Jahren Energiekrise begonnen, die geringen Lieferungen von „Gazprom“ als eine neue Norm aufzufassen. Der Anteil von „Gazprom“ an der Struktur des Gasimports in die EU verringerte sich von 37 Prozent im vierten Quartal des Jahres 2021 bis auf zehn Prozent im zu Ende gehenden dritten Quartal dieses Jahres (womit natürlich auch die Deviseneinnahmen des Großkonzerns spürbar eingebrochen sind – Anmerkung der Redaktion). Derweil ist der Anteil von LNG von 22 bis auf 38 Prozent gestiegen. Und der Gesamtanteil der Pipeline-Lieferungen aus Großbritannien, Norwegen, Dänemark, Aserbaidschan und aus Ländern Nordafrikas – von 41 bis auf 52 Prozent. Daher löst selbst eine geringe Steigerung der „Gazprom“-Lieferungen, die im Juli und August dieses Jahres fixiert wurde, keinen ernsthaften Einfluss auf die Preise mehr aus.

Allerdings hebt die Tatsache, dass sich auf dem Markt ein neues Gleichgewicht herausgebildet hat, nicht das auf, dass die Verringerung der „Gazprom“-Lieferungen zu einem Rückgang des gesamten Gasimports nach Europa geführt hat. Der Export von „Gazprom“ in die EU war im dritten Quartal dieses Jahres geringer als im vierten Quartal des Jahres 2021 – um 282 Millionen Kubikmeter am Tag. Derweil haben die LNG-Lieferungen im gleichen Zeitraum um 95 Millionen Kubikmeter am Tag zugenommen. Und die Lieferungen aller anderen Produzenten – lediglich um 15 Millionen Kubikmeter am Tag. Im Ergebnis bleibt der gesamte Gasimport in die EU im dritten Quartal dieses Jahres unter dem Vorkrisenstand – um 17 Prozent (bzw. um 172 Millionen Kubikmeter am Tag).

Teilweise hängt dies mit einer zielgerichteten Einsparung von Gas zusammen, die die EU-Mitgliedsländer bereits im Sommer vergangenen Jahres vereinbart hatten. Eine der Formen des Sparens ist eine Minimierung des Einsatzes von Gas in der Energiewirtschaft. Laut Angaben des Analytik-Unternehmens Ember verringerte sich die Stromerzeugung aus Gas in der EU in den ersten sieben Monaten dieses Jahres um 13 Prozent im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres. Und der Anteil des Gases in der Struktur der Stromerzeugung verringerte sich in der EU von 19 bis auf 18 Prozent. Dies erklärt in Vielem, warum die Gasvorräte in den europäischen Untergrundgasspeichern (UGS) über dem Stand des Vorjahres bleiben. Und dies ungeachtet der Reduzierung des Imports. Während am 14. August 2022 die UGS auf dem Territorium der EU zu 74,8 Prozent gefüllt waren, so liegt genau ein Jahr später dieser Wert bei 89,8 Prozent.

Das Einsparen von Gas führt aber zu Verlusten für die europäische Industrie. Laut Eurostat-Zahlen hat sich die Industrieproduktion in den Ländern der Euro-Zone im Verlauf von vier der letzten sechs „statistisch belegten“ Monate verringert. Im März dieses Jahres – um 1,5 Prozent auf das Jahr hochgerechnet, im April um 0,1 Prozent und im Mai und Juni dieses Jahres um 2,5 bzw. 1,2 Prozent. Freilich, Verluste müssen auch „Gazprom“ und der russische Staat einstecken. Der von Alexej Miller geleitete Konzern muss sich mit einem drastischen Einbruch der Exporterlöse herumschlagen, was ungern eingestanden wird, aber mittelbar Daten aus dem russischen Finanzministerium bestätigen. Laut den Zahlen aus dem Ministerium von Anton Siluanow stürzten die Einnahmen des föderalen Haushalts aus dem Gas-Exportzoll in den ersten sieben Monaten dieses Jahres um 78 Prozent in die Tiefe, vergleicht man sie mit den Zahlen aus dem analogen Zeitraum des Vorjahres (um 957 Milliarden Rubel).

Dies illustriert gut die Zwischenbilanz der Energiekrise. Die strukturelle Neuausrichtung des Imports und die Verringerung der Nachfrage führten zu einem stabilen Rückgang der Preise. Der durchschnittliche Gaspreis am für Europa bestimmenden Hub TTF lag im Juli dieses Jahres um 81 Prozent unter dem Stand vom Juli des Vorjahres (342 Dollar für 1000 Kubikmeter gegenüber 1838 Dollar für 1000 Kubikmeter). Aber der Rückgang der Pipeline-Gaslieferungen aus Russland hat sich als ein so starker erwiesen, dass nicht nur „Gazprom“, sondern auch die europäische Industrie ernsthafte Unkosten tragen. Letztere balanciert nach Meinung einiger Experten an der Grenze einer Rezession. Ein Ausweg für beide Seite kann nur eine Wiederherstellung der Lieferungen bis auf den Vorkrisenstand sein. Dies wird den Zugang der europäischen Industriebetriebe zu Rohstoffen erleichtern und dabei „Gazprom“ erlauben, das Finanzloch nicht nur in der Konzernkasse, sondern auch im russischen Staatshaushalt zu stopfen, das sich aufgrund des drastischen Rückgangs der Exporte gebildet hat. Freilich, letztere Aussicht hindert die EU-Länder daran, eine Zusammenarbeit mit dem russischen Gaskonzern in der überschaubaren Perspektive wiederaufleben zu lassen. Der Grund: Der Westen vertritt die Auffassung, dass damit die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine neue finanzielle Mittel erhalten würde.