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Extremismus vom Bösen


In Russland hat man die „Satanische Bibel“ als extremistisches Material eingestuft. Zur Grundlage wurde eine Expertise aus der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg auf Ersuchen der dortigen Verwaltung des Inlandsgeheimdienstes FSB. Und als Initiatoren wurden in einer offiziellen Mitteilung des vereinigten Pressedienstes der Gerichte von Sankt Petersburg das Justizministerium der Russischen Föderation und eine gewisse Daria Waraksina ausgewiesen. Gerade sie hatte dem FSB das Buch für ein Gutachten übergeben.

Die Untersuchung zeigte, dass es im Text „Anzeichen für eine Erniedrigung der Gefühle von Christen“ und eine „Entheiligung der Kanons der Bibel“ gebe. Und Gott werde in ihr (der „Satanischen Bibel“ – Anmerkung der Redaktion) „mit einem Leichnam und tollwütigen Hund“ verglichen“. „Der Autor spricht über sich und eine Gruppe von Menschen, die Satan verehren, in einem Ton der Überlegenheit. Gerechtfertigt werden Gewalt und Brutalität. Die Informationen in Form von Aufrufen veranlassen, gewaltsame Handlungen gegenüber Menschen und Tieren vorzunehmen. Die Erzählform über den Tod, das Morden ist eine manipulative. Vorgeschlagen wird Terror gegenüber schwachen Menschen, nichtvollwertigen Menschen, die nach Meinung des Autors in der Mehrheit seien“, erklärten die Experten.

Obgleich in der Expertise der Autor der Schrift nicht ausgewiesen wurde, informiert eine Notiz über ihn auf der Internetseite des Verlags, der eben jenes Buch herausgebracht hatte. Es handelt sich um Anton Szandor LaVey, den Gründer der Church of Satan.

„Das Buch von LaVey erschien 1969 und ist eines der zahlreichen Manifeste der Gegenkultur“ erzählte der „NG“ Boris Falikow, ein Experte auf dem Gebiet neuer religiöser Bewegungen. „Dies ist wohl die konsequenteste Predigt für Hedonismus. LaVey besteht darauf, dass es keinen Grund gebe, die natürlichen menschlichen Instinkte zu unterdrücken, in welchem Bereich sie sich auch offenbaren mögen. Präsent ist ein Einfluss von Nietzsche, aber in einer sehr oberflächlichen „konterkulturellen“ Variante. Weitaus spürbarer ist der Einfluss von Ayn Rand. Nicht ohne Grund hatten die Fans letzterer LaVey des Plagiats bezichtigt. Aus religiöser Sicht ist dies kein Satanismus, sondern Atheismus, da Satan als ein Symbol für die Befreiung der Instinkte angesehen wird und es nicht um seine objektive Existenz (wie auch um die Existenz von Gott) geht“.

„Das Buch wurde seitens konservativer Kräfte kritisiert. Aber die Versuche, es zu verbieten, waren erfolglos. Der einzige gelungene langfristige Versuch wurde in der Republik Südafrika unternommen, wo es von 1973 bis einschließlich 1993 unter einem Verbot stand“, betonte Falikow. Das anrüchige Werk wird auch heutzutage frei im Internet verbreitet. Eine entsprechende Suchanfrage brachte rund 11.000 Verweise innerhalb von 53 Sekunden. Der Umfang des Textes ist nicht groß, weniger als einhundert elektronische Seiten. Es ist offensichtlich, dass die 666 Seiten des Buches, dass das Gericht behandelte, ein banaler Marketing-Trick sind. Die Auflage ist eine winzige und in allen Varianten eine symbolische – 166 Exemplare.

Die Ideologie von LaVey, die der Glaubenslehre der Church of Satan zugrunde liegt, basiert auf der „Satanischen Bibel“ und den zweitrangigen Schriften von LaVey – „The Satanic Rituals“ und „The Compleat Witch“. Sie ist auf einer konsequenten Leugnung der westchristlichen Theologie und Anthropologie entwickelt worden. Vom Wesen her ist dies ein bis zum Absurden getriebenes primitives karikiertes Christentum, das von Innen her herausgekehrt worden ist, eine Parodie auf die christliche Lehre.

Die 1960er Jahre waren in den USA ein goldenes Zeitalter für eine neue – und vor allem für eine alternative – Spiritualität. Damals waren auf dem fruchtbaren Boden der Hippies, der psychodelischen und der Kulturrevolutionen sowie der Mode hinsichtlich der östlichen (asiatischen) Exotik zu Hunderten neue Kulte und Religionen entstanden.

Nach dem Lesen unterschiedlicher Lebensbeschreibungen kann man sich leicht davon überzeugen, dass Anton Szandor LaVey (geboren wurde er 1930, und verstarb 1997 – Anmerkung der Redaktion) tatsächlich einer der vielen rastlosen Amerikaner der Nachkriegszeit gewesen war. Er hatte sich laut eigenen Erzählungen mit dem Dressieren von Löwen in einem Zirkus-Zoo, dem Spielen auf einer Orgel und ganz und gar mit dem bescheidenen Gehalt eines Polizeifotografen durchs Leben geschlagen.

Die Rituale der Church of Satan sind durch LaVey und seine Mitstreiter entwickelte rituelle Handlungen, die auf ein Schüren der Sexualität des Menschen ausgerichtet sind.

Das wichtigste von ihnen, die „schwarze Messe“, parodiert den katholischen Gottesdienst, wobei schwarze Kerzen, ein umgedrehtes Kruzifix, der nackte Körper einer Gottesdienerin als Altar u. ä. verwendet werden. LaVey selbst schreibt im „Das Buch Luzifer“ von der „schwarzen Messe“ mit ihren lehrbuchhaften Schrecken wie über eine Erfindung der katholischen Kirche, die für eine Verfolgung realer oder erfundener „Teufelsverehrer“ notwendig sei. In seinem Hauptwerk gibt es „Neun satanische Grundsätze“, eine Quintessenz des Satanismus. Vom Wesen her sind dies lediglich ein fast bis zu einer Karikaturhaftigkeit getriebener Individualismus, Egozentrismus und soziokultureller Zynismus. Beispielsweise stimuliert der erste Grundsatz Sinnesfreude anstatt Abstinenz. Der vierte und der fünfte erinnern an das alttestamentliche Prinzip „Auge um Auge“ anstelle des evangelischen „halte auch die andere Wange hin“. Der siebte Grundsatz verweist auf den wahren Platz des Menschen in der Evolutionsentwicklung, der achte stimuliert „alle sogenannten Sünden“, da sie zu den unterschiedlichsten Vergnügungen (Erfüllungen) führen würden. Schließlich teilt der neunte Grundsatz mit, dass gerade Satan all die Jahre das Business der Kirche unterstützt hätte.

Die „Bibel“ von Anton Szandor LaVey ist ein organisches Produkt der westlichen, vor allem der US-amerikanischen protestantischen Kultur, eine rebellierende Reaktion auf sie. Sowohl das altmodische amerikanische Ideal des weißen Protestanten als auch sein Alter Ego, der karikaturhafte Satanist, sind dem System der Lebensvorstellungen und dem kulturellen Umfeld des statistischen Durchschnittsbürgers Russlands gleichermaßen fremd. Und wenn auch die russischen Übersetzungen der fragwürdigen Schrift von LaVey ein destruktives Potenzial besitzen, so wird es durch eine schmale soziale Basis äußerst eingegrenzt.