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Extremismus-Vorwürfe werden zur Antwort für alle Kritiker der russischen Herrschenden


Wie sich am 10. Juni herausstellte, hatten die Formationen von Alexej Nawalny, die bereits als extremistische anerkannt und auf dem Territorium der Russischen Föderation verboten wurden, diesen Tag nicht einfach erwartet. Sie hatten sich auf ihn vorbereitet. Zum Beispiel wurde eine neue Untersuchung zur angenommenen Vergiftung des Oppositionspolitikers veröffentlicht – mit Vorlage von Originaldokumenten aus dem Omsker Krankenhaus, die diese Tatsache angeblich bestätigen würden. Die Nawalny-Vertreter rufen nunmehr die Wähler zum „Smart Voting“ („Klugen Abstimmen“) auf, um sich am Kreml für die Zerschlagung der Opposition zu rächen. Ihrerseits haben die Herrschenden im Ergebnis des „Politextremismus-Falls“ einen universellen Vorwurf erhalten, den man gegen die Nichteinverstanden, Unzufriedenen oder nur einfach der Kritiker vorbringen kann. Experten hielten die Formulierung „Schaffung von Bedingungen für eine Veränderung der Grundlagen der Verfassungsordnung“ für eine Quasi-Wahrheit, erwarten aber deren umfassende Anwendung im Verlauf der Wahlkampagne.

In der neuen Untersuchung hinsichtlich der Vergiftung Nawalnys wird erklärt, dass sich die mit Hilfe einer Reihe von Tricks aus dem Archiv des Omsker Krankenhauses erhaltene Krankenkarte Nawalnys fast gar nicht von der offiziell den Anwälten des Oppositionspolitikers zur Verfügung gestellten Kopie unterscheide. Mit Ausnahme eines Bescheids über die Analyse hinsichtlich des Vorhandenseins möglicher Giftstoffe im Organismus. Die Nawalny-Vertreter beharren darauf, dass sie über ein Originalgutachten einer geachteten Moskauer Klinik verfügen, die nach Omsk gemeldet hatte, dass Nawalny durch ein gewisses fluorhaltiges Mittel geschädigt worden sei.

Weiter wird in dem einstündigen Video zu diesem Dokument die ganze bisherige Geschichte mit den Beanstandungen Russlands gegenüber Deutschland und der Organisation für das C-Waffenverbot aufs Neue aufgerollt, die sich laut Erklärungen der Offiziellen der Russischen Föderation geweigert hätten, Angaben für eine Untersuchung und Einleitung eines Strafverfahrens zur Verfügung zu stellen. Übrigens, die Nawalny-Vertreter erklären, dass sie auch eine Ablehnung des Innenministeriums hinsichtlich dieses Prozederes hätten, und dies mit Verweis darauf, dass Nawalny selbst, seine Ehefrau und die Mitstreiter die Absicht gehabt hätten, eine politische Provokation zu organisieren. Die Veröffentlichung solch einer Nachforschung am Tag nach der Entscheidung des Moskauer Stadtgerichts über das unverzügliche Verbot aller Nawalny-Strukturen scheint wohl kaum eine Zufälligkeit zu sein. Genauso wie auch das nächtliche Auftauchen eines Nawalny-Posts in den sozialen Netzwerken mit dem Aufruf, den Kampf fortzusetzen und gegen den Kreml mit Hilfe des „Smart Votings“ Schläge zu führen. Zu den nichtzufälligen Kongruenzen sind offensichtlich auch die Veröffentlichungen eines Berichts über die Tätigkeit der nunmehr verbotenen Stäbe im Verlauf des vergangenen Jahres im Internet zu rechnen.

Der ehemalige Chefkoordinator des Netzes der Nawalny-Stäbe Leonid Wolkow kommentierte diesen Report und erklärte direkt, dass das „Smart Voting“ jetzt zu einer Vergeltung gegenüber dem Kreml werde. Und dies bedeute, dass alle Unzufriedenen sich noch aktiver als Teilnehmer dieses Handels, um die Kremlpartei „Einiges Russland“ bei den bevorstehenden Wahlen zu Fall zu bringen, engagieren sollten. Und dabei werden keinerlei Warnungen dahingehend geäußert, dass, da das „Smart Voting“ ein Projekt der Nawalny-Vertreter und somit von Extremisten ist, die Rechtsschützer durch anfangen können, dessen Figuranten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Allerdings wurde dieses Video augenscheinlich vor langem aufgezeichnet, da Wolkow gegenwärtig – den im Internet auftauchenden Fotos nach zu urteilen – Treffen mit ausländischen Beamten, scheinbar wie mit amerikanischen durchführt. Es besteht der Verdacht, dass die durch in versprochene Überraschung eine internationale Ausrichtung haben kann, in der Art einer Politik, in deren Rahmen ein Schatten Nawalnys auf die Tagesordnung des Präsidenten-Gipfels am 16. Juni in Genf geworfen wird.

Kurzum: Das Team Nawalnys hat scheinbar beschlossen, einer Auseinandersetzung mit dem Kreml nicht auszuweichen, obgleich dies für letzteren möglicherweise schon keine große Bedeutung hat. Die Offiziellen der Russischen Föderation haben im Ergebnis des Prozesses gegen die Nawalny-Vertreter endlich eine universelle Anschuldigung gegen jeglichen Typ von Opposition entwickelt. Es sei daran erinnert, dass das Moskauer Stadtgericht durch sein Urteil die Formulierungen der Staatsanwaltschaft solchen Typs wie „befasst sich unter dem Deckmantel liberaler Losungen mit der Schaffung von Bedingungen für eine Destabilisierung der sozialen und gesellschaftspolitischen Situation“ oder aber „die faktischen Ziele ihrer Tätigkeit sind die Schaffung von Bedingungen für eine Veränderung der Grundlagen der Verfassungsordnung, unter anderem unter Verwendung des Szenariums einer „bunten Revolution““ bestätigte. Solche Sätze verbreitete das Anwaltsteam „Team 29“, das die Nawalny-Vertreter verteidigte. Der Prozess an sich aber, es sei daran erinnert, war zu einem geschlossenen erklärt worden. Aber selbst wenn diese Zitate auch hinsichtlich der Worte nicht ganz exakt sein sollten, so sind sie hinsichtlich des Grundgedanken aber – wie es scheint – durchaus den Handlungen adäquate, die gegenwärtig durch die Offiziellen unternommen werden.

Ilja Schablinskij, Co-Vorsitzender der Moskauer Helsinki-Gruppe und Doktor der Rechtswissenschaften, sagte der „NG“, dass die durch das Gericht bestätigten Formulierungen „nichts mit den Merkmalen von Extremismus, die durch das Gesetz „Über die Bekämpfung extremistischer Tätigkeit“ aus dem Jahre 2002 gemein haben“. Im Gesetz gibt es beispielsweise den Verweis auf „eine gewaltsame Veränderung der Grundlagen der Verfassungsordnung und eine Verletzung der territorialen Integrität der Russischen Föderation“. Den Nawalny-Vertretern ist aber dieses Verbrechen nicht angelastet worden, da sie „stets für legitime Methoden der politischen Arbeit eintraten und versucht hatten, politische Parteien und Bewegungen zu schaffen, die das Justizministerium zu registrieren ablehnte“. Einer öffentlichen Rechtfertigung von Terrorismus hat man sie ebenfalls nicht bezichtigt, genauso wie auch einer Auslösung von sozialem und sozial-religiösem Zwist sowie im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu jeglichen Rassen. Und obgleich ein Vertreter der Staatsanwaltschaft scheinbar sagte, dass es ein Schüren von Hass und Feindseligkeit in Bezug auf konkrete Machtvertreter gegeben habe, werden jedoch, wie Schablinskij anmerkte, „die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und die Bekämpfung von Korruption gemäß dem Gesetz über politische Parteien nicht als Schüren sozialen Zwists angesehen“. Und die Interpretation der Staatsanwaltschaft gibt es in den Gesetzen überhaupt nicht, unterstrich der Experte.

Nach Aussagen Schablinskijs ergebe sich, dass jegliche mehr oder weniger harte Kritik an Machtvertretern als Extremismus eingestuft werden könne. Aber es sei nicht gelungen, nichts von dem in den Handlungen der Anhänger Nawalnys auszumachen, was es in dem eigentlichen Gesetz von 2002 gibt. „Und da hat man diese Merkmale, die es in dem Gesetz gibt, simpel durch andere ersetzt – in der Art von „Schaffung von Bedingungen für eine Destabilisierung der gesellschaftspolitischen Situation zwecks Veränderung der Grundlagen der Verfassungsordnung“ oder „Nutzung im Interesse einer bunten Revolution“. Nichts davon gibt es im Gesetz. Von nun aber ergibt sich, dass jegliche Kritik eine Schaffung von Bedingungen sei. Und Vorwürfe gegen konkrete Beamte – dies sei eine Destabilisierung. Schablinksij erklärt, dass „die Anklage eine vollkommen widerrechtliche ist und sie überhaupt nicht auf dem Gesetz beruht“, da dessen Formulierungen „durch eigene Formulierungen“ ersetzt worden seien, die durch die Staatsanwaltschaft entwickelt wurden. Nach seiner Meinung bestehe die Gefahr darin, dass man nun das Wirken gesellschaftlicher Strukturen und nichtstaatlicher Medien als eben diese Destabilisierung und eine Bewegung zu einer bunten Revolution, über dies es ebenfalls nicht eine einzige Erwähnung in irgendeinem Gesetz der Russischen Föderation gebe, einstufen könne.

Das Mitglied des Büros der Partei „Jabloko“ Alexander Kobrinskij meint, dass „derartige Formulierung in keiner Weise etwas mit der Jurisprudenz zu tun haben. Dies sind wertende politische Formulierungen“. Es ist natürlich, dass im Ergebnis dessen jegliche Tätigkeit von den Offiziellen unliebsamen Bürgern und sogar einzelner ihrer Vertreter unter diese Formulierungen gebracht werden kann. „Wie kann man beweisen, dass es keine Absicht zum Sturz der (Verfassungs-) Ordnung gibt? Soll man dem Richter seine Gedanken vorlegen? Die Logik ist hier solch eine: Du kritisierst die Herrschenden – also schaffst du Instabilität im Staat und ergo wünschst du Veränderungen auf revolutionärem Wege. Entsprechend solch einem Szenario kann man jede beliebige Organisation als eine extremistische anerkennen“, unterstrich der Experte.

Dabei betonte er, dass man jetzt nicht nur die Anhänger Nawalnys zu Extremisten rechnen könne, sondern auch jeglichen Kritiker des Regimes. Und für einen Ausschluss von den Wahlen sei es ausreichend zu erklären, dass die Partei oder irgendein Kandidat mit unerwünschten oder extremistischen Organisationen affiliiert seien, obgleich es auch hier keine klaren Definitionen gebe. Jedoch dürfte das Gesetz dennoch nicht die Wähler des „Smart Votings“ tangieren, ist sich Kobrinskij sicher. „Es kann ja jedem etwas zugesandt werden!“.

Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Vereinigung politischer Konsultanten, erläuterte der „NG“: „Leider kann ich auch als ein politischer Konsultant keine Definition für eine bunte Revolution liefern. Es gibt nirgends eine klare Beschreibung und Formulierung. Daher ergeben sich gesetzmäßige Fragen an die Gesetzgeber: Warum sind die Gesetze auf solch eine Art und Weise verfasst worden? Was ist eine Absicht? Dies ist schließlich keine Handlung, sondern nur Gedanken“. Was sich die zu den Wahlen ergebende Situation angeht, so unterstrich Kurtow: „Wahrscheinlich gibt man den Kandidaten von den außerparlamentarischen Kräften speziell zu verstehen: Sie müssen selbst begreifen, dass es keinen Sinn macht, zu den Wahlen anzutreten, damit das Regime der Selbstbeschränkung zu funktionieren beginnt. Wenn aber solch ein Ziel nicht erreicht wird, ist die weitere Entwicklung der Ereignisse nicht voraussagbar“. So beantwortete er die Frage der „NG“, ob die Herrschenden eine Liste derjenigen Oppositionellen, die kein Recht zu kandidieren haben, vorab oder im Verlauf der Kampagne erstellen werden-

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow merkte an, dass „in der Tat vage Charakteristika für Extremismus gewählt wurden. Man kann sie buchstäblich für alles anwenden.“ Und er vermutete, dass diese Entscheidungen in erster Linie Probleme für jenen Teil der außerparlamentarischen Opposition schaffen würden, die der Auffassung sei, dass der Mechanismus der Wahlen nicht funktioniere und man zu Straßenprotesten kommen müsse. „Sicherlich wird jetzt ein Präzedenzfall für die Anwendung des neuen Gesetzes geschaffen, um die übrigen einzuschüchtern. Denn hier gibt es in Vielem einen prophylaktischen Aspekt. Es geht nicht nur darum, die Nawalny-Vertreter von den Wahlen zu suspendieren. Dies ist eine Absicherung für die Zukunft. Wenn wir aber diesen Weg beschreiten werden, wird es bald gefährlich werden, selbst in legalen Formen zu protestieren, da man dies als Vorbereitung einer bunten Revolution auslegen kann. Und jegliche Politiker, die für einen Machtwechsel plädieren, wird man als Extremisten einstufen können“, erklärte Kalatschjow der „NG“. Was die anstehenden Wahlen angeht, so wird es jegliche Behinderungen für eine Veröffentlichung von Listen für das „Smart Voting“ geben. Und jegliches kollektive Agieren für eine Agitation wird zu einem Problem. Dabei werden die Kandidaten wohl kaum ausgeschlossen werden. Sie haben schließlich nicht darum gebeten, sie auf die Listen für das „Smart Voting“ zu setzen. Die Wähler aber, die eine entsprechende Benachrichtigung erhalten, die kann es treffen. Übrigens, der Experte ist sich sicher, dass das Gesetz über Extremismus für einen präventiven Ausschluss von Kandidaten ausgenutzt wird. „Für die Herrschenden ist es derzeit einfacher, die Nominierung der bekanntesten und aktivsten Kandidaten zu blockieren, die sie für toxische halten, als sie im Verlauf der Wahlkampagne auszuschließen. Dies verursacht einen negativen informationsseitigen Hintergrund. Und die Wahlen sollen doch nach wie vor wie transparente, legitime und letzten Endes feierliche aussehen“, erläuterte Kalatschjow.

Boris Wischnewskij, Abgeordneter der Petersburger Stadtparlaments und Mitglied des Büros der Partei „Jabloko“, sagte der „NG“: „Es gibt (nun) die Gerichtsentscheidung über die Bekämpfung von Extremismus, die alle in den Wahlrechten einschränkt, die nicht nur zur Organisation gehörten, sondern ihr auch half. Dies ist eine außerordentlich gefährliche Einschränkung, die eine große Anzahl von Menschen betrifft, zu denen selbst jene gehören, die mit einer Bezahlung von Strafen für Festgenommene halfen. Solch eine Einschränkung der Rechte gab es bereits mit den „Zeugen Jehovas“. Und nun gibt es sie für die Kandidaten von der Opposition, von denen viele sich anschickten, im Namen von „Jabloko“ zu kandidieren. Und wie man sie suspendieren wird, dies ist eine gesonderte Frage. Die einigen möglicherweise gemäß Gerichtsbeschluss, für andere wird eine zusätzliche Barriere geschaffen. Es ist aber keiner sicher“. Zur gleichen Zeit ist sich Wischnewskij gewiss, dass die durch das „Smart Voting“ unterstützten Kandidaten wohl kaum einer Verfolgung entsprechend dem neuen Gesetz ausgesetzt werden. Ja, aber ein präventives Ausbooten starker Akteure sei möglich.

Der Leiter des analytischen Zentrums der KPRF Sergej Obuchow merkte gegenüber der „NG“ an: „Für die Anwendung des Gesetzes hat man eine offenkundig gummiartige Formulierung ausgewählt. Vom Prinzip her ist dies eine langjährige Tendenz, bei der die Gesetze und das Recht konkreten situativen Aufgaben der Herrschenden angepasst werden. So war es anfangs mit dem Gesetz über die Wahlen, als die Parameter jeden Zyklus geändert wurden, aber so, dass sie (der Kremlpartei) „Einiges Russland“ halfen, auf die Verfassungsmehrheit zu kommen. Zuerst hat man die Parteilisten abgeschafft, dann wieder zurückgeholt. Dann führte man das sogenannte Abstimmen auf Baumstämmen ein (gemeint ist die Organisierung von Wahlmöglichkeiten buchstäblich an jedem beliebigen Ort, nur um möglichst viele Wähler an die Wahlurnen zu bringen – Anmerkung der Redaktion). Jetzt will man die Kandidaten einschränken, die einer Wahl von Vertretern der Partei „Einiges Russland“ in den Wahlbezirken in die Quere kommen können. Und dafür hat man sich die extremistischen Organisationen ausgedacht. All dies zeugt davon, dass für die Vertreter der Rechtsschutzorgane unbegrenzt weite Vollmachten aufgetaucht sind, die jetzt bereits den politischen Prozess regulieren, wobei die Administratoren ersetzt und die Bedingungen für die Wahlkampagne bestimmt werden. Und folglich nimmt im Land die Reaktion zu, wie auch die Propaganda von einer belagerten Festung“. Nach Meinung des Kommunisten könne das Gesetz im Weiteren aufgrund des vagen Charakters sehr viele unterschiedliche Kräfte tangieren. Dies sei ein weites Betätigungsfeld für die Strukturen der Rechtsschützer. Er erinnerte daran, dass zuerst nur die Vertreter der außerparlamentarischen Opposition Verfolgungen ausgesetzt wurden. Aber bei den Frühjahrsprotestaktionen wurden 21 Abgeordnete der KPRF aus Regionalparlamenten verhaftet, was es früher nicht gegeben hatte. Derweil ist sich Obuchow sicher, dass man bei Bestehen des Wunsches jeglichen Kandidaten von den Wahlen ausschließen könne. „Zum Beispiel, wie kann ich beweisen, dass man mir kein Geld aus dem Ausland überwiesen hat? Nur wenn ich mein Konto für Spenden blockiere. Und was kann ein Vorkommen in der Liste für das „Smart Voting“ verursachen? Dies ist ebenfalls nicht voraussagbar. Schließlich wird der Kandidat, der auf die Listen geraten ist, nicht herumposaunen: „Unterstützen Sie mich nicht, stimmen Sie nicht für mich!“. Dies ist absurd“. Nach seinen Worten habe man nunmehr nicht einmal den Gerichten, sondern der Zentralen Wahlkommission die Rechtsanwendung bezüglich der Kandidaten überlassen. Beispielsweise werde man dort bestimmen, wer mit einer ausländischen Organisation affiliiert ist und wer nicht affiliiert ist. „Alles wird letztlich vom Rating von „Einiges Russland“ abhängen. Aber die Säuberungen des politischen Feldes unter unterschiedlichen Vorwänden werden aufgrund dessen sicher sein, dass „Einiges Russland“ um die Mehrheit der Sitze im Parlament kämpfen wird. Daher wird man die Kandidaten sowohl vorab als auch im Zuge des Prozesses ausschließen“, betonte er.

Der KPRF-Staatsduma-Abgeordnete Valerij Raschkin erklärte der „NG“: „Die Herrschenden verlieren immer mehr an Ansehen bei den Bürgern Russlands und wissen nicht, was tun, um an der Macht zu bleiben. Anstatt die Ursachen für die Unzufriedenheit zu klären und beispielsweise die Milliardäre aus der „Forbes“-Liste in die Schranken zu weisen, unterdrückt man den Unmut. Das Rating des Präsidenten und von „Einiges Russland“ fällt, doch die Mehrheit in der Staatsduma möchte man gern behalten. Daher erfolgen auch die Änderungen der Gesetzgebung. Alles wird so umgekrempelt, um der Partei der Herrschenden wenn nicht die Verfassungs-, so doch eine einfache Mehrheit zu sichern. Deshalb wurde eine Methode gefunden, den unzufriedenen Wählern das Stimmrecht zu nehmen. Dies wird nach meinen Berechnungen rund zwei Millionen Menschen betreffen, vielleicht auch mehr. Schließlich wird ganzen Gruppen von Bürgern das Wahlrecht – sowohl das passive als auch das aktive – genommen. So etwas hat es nur unter dem Zaren gegeben, als es bei den Wahlen den sogenannten Eigentumszensus gab. Faktisch führen die Herrschenden das Land in die vorrevolutionären Zeiten zurück“. Der Kommunist unterstrich, dass er das Gesetz für ein verfassungswidriges halte. Und wenn die Anzahl der Abgeordneten der KPRF es erlauben würde, so hätte die Fraktion beim Verfassungsgericht eine Bewertung dieses Gesetzes beantragt. „Früher hatte das Gericht einen für ein Verbrechen für schuldig befunden. Hier aber wird eine Gerichtsentscheidung nicht gebraucht. Daher kann der Mensch nicht beweisen, dass er ein Verbrechen nicht begangen hat“, betonte Raschkin. Er ist sich sicher, dass die Offiziellen sich mit den Nawalny-Stäben nicht zufriedengeben werden. „Alle, die von einer Ablösbarkeit der Herrschenden sprechen und deren Entscheidungen kritisieren werden, kann es treffen, und sie können zu jedem beliebigen Zeitpunkt das Stimmrecht verlieren. Dies kann Bürger, Parteien, Bewegungen und Massenmedien tangieren. Die Praxis wird sicherlich ausgedehnt werden. Während kluge Herrschende die Ursachen von Unzufriedenheit bekämpfen, so bekämpfen autoritäre die Unzufriedenen an sich. Wir beschreiten ganz genau diesen Weg. Die Herrschenden werden Druck ausüben, einschüchtern, verbieten und die Unzufrieden nicht zulassen. Und der Marasmus und die Kasuistik der Gesetze werden dabei nur helfen. Dabei, während man uns vor drei bis fünf Jahren noch sagte, dass das Gesetz keine rückwirkende Geltung besitzt, verkündet man heute rückwirkend, dass es diese habe. Dies ist aber juristischer Nonsens“. Der Kommunist betonte, dass unter die Säuberungen durchaus die Kandidaten geraten könnten, die in den Listen für das „Smart Voting“ auftauchten, wie auch die Wähler, die entsprechende Benachrichtigungen erhalten haben. „Niemand weiß, wie man dieses Gesetz anwenden wird. Daher sind alle in der Risikogruppe. Augenscheinlich wird es zu Prozessen zwecks Anfechtung der Entscheidungen und zu einer Vielzahl von Anrufungen Strasbourgs kommen“, betonte er.

Das Geschehen verfolgten auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle. „Gedanken laut geäußert“ (https://t.me/mysly) betont, dass sich die Strukturen Nawalnys vom Wesen her vor Annahme der Entscheidung in Moskau selbst aufgelöst hätten: „Praktisch wurde begonnen, die Gerichtsentscheidung in diesem Teil umzusetzen, bevor sie gefällt worden ist“. „Die Entscheidung ist sowohl eine zu erwartende als auch gesetzmäßige“, pflichtet lapidar „Meister“ hinzu (https://t.me/maester). „In der Gerichtsentscheidung … ist das interessant, dass die Juristen (und wir reden über ein sehr großes Heer von Juristen) einfach den Aufbau der Verteidigung ignorierten und alles auf eine Hysterie reduzierten. So war es auch im Fall hinsichtlich der Beleidigung des (Kriegs-) Veteranen. Diejenigen, die sich nicht selbst verteidigen können und möchten, hatten auch nichts hinsichtlich einer rechtlichen Unterstützung der Bürger zu erklären“, meint „Boilernaja“-„Kesselhaus“ (https://t.me/boilerroomchannel).