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Für Moskau macht es keinen Sinn, mit einem „zweiten Jalta“ zu rechnen


In der letzten Zeit haben russische Politologen begonnen, das Projekt eines „neuen Jaltas“ zu diskutieren. Es geht um die Möglichkeit der Unterzeichnung eines gewissen Abkommens zwischen den führenden Großmächten der heutigen Welt (USA, Russland und Volksrepublik China) über eine Aufteilung von Interessenssphären und die Ausarbeitung neuer Regeln für das Zusammenwirken. Die Metapher vom „neuen Jalta“ (oder wie man auch noch sagt: von einem „zweiten Jalta“) verweist auf die Jalta-Konferenz vom Februar 1945, wo die drei Siegermächte – die UdSSR, Großbritannien und die USA – Trennungslinien in Europa und teilweise in Asien ausgearbeitet hatten. Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben alle Administrationen der USA ein „neues Jalta“ verworfen, wobei behauptet wurde, dass die amerikanische Politik keine Einflusssphären akzeptiere. Die Idee von einem „neuen Jalta“ besteht darin, dass Moskau und Peking Washington zu solch einem Abkommen nötigen können, um die internationale Ordnung zu stabilisieren.

Solch eine Hypothese sieht auf dem ersten Blick logisch aus. „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, hatte zu Recht der deutsche Militärtheoretiker Carl von Clausewitz erklärt. Möglicherweise werden die russische Operation in der Ukraine und (wer weiß?) eine künftige hypothetische Operation Chinas auf Taiwan die USA tatsächlich zwingen, sich auf Zugeständnisse einzulassen und eine globale Expansion aufzugeben. Vielleicht wird zu einem Finale der gegenwärtigen Abfolge begrenzter Kriege, die nach dem Zerfall des sozialistischen Lagers und der UdSSR begonnen hatten, die Ausarbeitung eines gewissen Abkommens zwischen den Großmächten. Jedoch wird solch ein Abkommen wohl kaum an die Jalta-Konferenz von 1945 erinnern.

Die heutige Situation unterscheidet sich auf grundlegende Art und Weise von der finalen Etappe des Zweiten Weltkriegs – zumindest aufgrund von vier Ursachen. Damals waren die UdSSR, Großbritannien und die USA formelle Verbündete, während heutzutage die USA und Russland die Anführer miteinander verfeindeter militärpolitischer Blöcke sind. Die drei führenden Großmächte der heutigen Welt haben auch keinen gemeinsamen Gegner, den die Staaten der Achse (Berlin-Rom-Tokio) im Zweiten Weltkrieg dargestellt hatten. Die Länder der Antihitler-Koalition hatten gemeinsam am Entwurf für eine neue Weltordnung beginnend ab 1941 gearbeitet, während heute alle Großmächte eine unterschiedliche und miteinander wenig kompatible Sicht auf die Zukunft haben. Die Staaten der Antihitler-Koalition gestalteten eine prinzipiell neue Weltordnung, wobei sie die Überreste der Wiener Ordnung des 19. Jahrhunderts liquidierten. Gegenwärtig leben wir noch weiterhin in der Jalta-Ordnung – auf der Grundlage ihrer politischen, wirtschaftlichen und Rechtsinstitute.

Der Zweite Weltkrieg, der ein totaler gewesen war, hatte alle Punkte auf die „i“ gesetzt. Er endete mit einer Kapitulation der Verliererstatten der Achse, mit einer Liquidierung ihrer Militär-Industrie-Komplexe und einer vollkommenen Umformatierung ihrer politischen Systeme. (Ob diese Ergebnisse für Deutschland und Japan in der historischen Perspektive umkehrbare sind, ist eine andere Frage). Fragen darüber, wer gesiegt hatte und wer verloren hatte, waren auf der Jalta-Konferenz nicht aufgekommen. Der gegenwärtige Zyklus begrenzter Kriege, der ab 1990 einsetzte und an Stärke gewinnt, vermittelt keine solche Lösung für das Problem. Selbst bei großen militärischen Erfolgen Russlands und (hypothetisch) Chinas bleiben die USA dennoch eine militärische Supermacht, und die NATO – der größte militärpolitische Block. Das Abkommen wird eher der Ausgangspunkt für eine neue Etappe des Kampfes zwischen den Großmächten und kein Übergang der Weltordnung zu einer prinzipiell neuen Qualität.

In solch einer Situation wird das mögliche Abkommen zwischen den Großmächten nicht an die Jalta-Konferenz von 1945, sondern an den Berliner Kongress von 1878 erinnern. Formal hatte er den Russisch-Türkischen Krieg (bekannt auch als Russisch-Osmanischer Krieg – Anmerkung der Redaktion) von 1877 beendet, faktisch die Periode der begrenzten Kriege von 1853 bis 1878 – vom Krim- bis zum Russisch-Türkischen-Krieg. Der Berliner Kongress teilte den Balkan in Einflusssphären auf und brachte Europa für die folgenden 35 Jahre Frieden – bis zum Beginn der Balkan-Kriege von 1912, die in den Ersten Weltkrieg ausuferten. Die Wiener Ordnung war um 35 Jahre verlängert worden. Dies war aber bereits eine andere Variante von ihm.

Die Entscheidungen des Berliner Kongresses hatte nicht eine einzige der Seiten befriedigt. Russland war der Auffassung gewesen, dass man ihm den Sieg genommen hätte (obgleich Bismarck erklärte, dass Russland nie zuvor solche Erfolge gekannt hätte, die der Berliner Kongress für das Land verankert hätte). Österreich-Ungarn war der Meinung, dass Russland die Vorkriegsabkommen gebrochen und es vom Balkan verdrängt hätte. Deutschland, das mit der österreich-russischen Feindschaft konfrontiert wurde, entschied sich zugunsten von Wien und nicht von Petersburg, was zum Prolog der Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts wurde. Großbritannien verspürte erstmals, dass das österreichisch-deutsche Tandem es vom Wesen her vom kontinentalen Europa loslöse. Eindeutige Sieger und Verlierer hatte es nicht gegeben. Jeder fühlte sich benachteiligt und bereitete sich auf eine Revanche vor. Daher wurden die internationalen Beziehungen nach dem Berliner Kongress zu einer Zeit der Bildung militär-politischer Allianzen sowie der schnellen Entwicklung von Militärkonzeptionen und Waffen.

Der Berliner Kongress wurde zu einem Ausgangspunkt für die späteren Weltkriege, wobei er sie um 35 Jahre aufgeschoben hatte. Russland distanzierte sich von Deutschland und geriet in einen Konflikt mit Österreich-Ungarn. Zu einem Ergebnis des historischen russisch-deutschen Streits wurde die Aufteilung Europas in zwei Blöcke, in den österreich-deutschen und den französisch-russischen, der später zur Triple Entente durch die Beteiligung von Großbritannien umgestaltet wurde. Der durch den Berliner Kongress verlängerte Frieden war noch ein Wiener. In Ihm dominierten fast die gleichen Siegermächte aus den Napoleonischen Kriegen. Doch diese verlängerte Wiener Ordnung hatte bereits keinem mehr gepasst. Die Staaten bereiteten sich auf eine neue, eine ernsthaftere Auseinandersetzung vor.

Verändert hatte sich auch das psychologische Klima. Das ausgehende 19. Jahrhundert war zu einer Zeit einer allmählichen Durchsetzung der Idee von der Unvermeidlichkeit eines globalen Krieges geworden. „Die Menschen meiner wahnsinnigen Epoche waren nicht darüber erstaunt, warum der Krieg nicht heute begonnen hatte. Sie waren darüber erstaunt, warum er nicht gestern begonnen hatte“, sagte einer der Helden von Valentin Pikul (russisch-sowjetischer Schriftsteller vieler historischer Romane, der von 1928 bis 1990 lebte – Anmerkung der Redaktion), wobei er den französischen Schriftsteller Marcel Proust wiederholte. Diese Tendenz beförderte ein gesamteuropäischer Aufschwung von Chauvinismus – einer Ideologie, die einen obligatorischen Hass nicht einfach gegenüber der Regierung, sondern gegenüber dem gesamten Volk des jeweiligen feindlichen Landes postuliert. Zu einem normalen Vergnügen der europäischen Hauptstädte und Provinzstädte wurden öffentliche Verbrennungen von Symbolen des feindlichen Landes – zum Beispiel von Modellen des Eifelturms oder des Brandenburger Tors. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es, dass diese Welt der Geschichte anheimgefallen war. Doch den letzten Ereignissen nach zu urteilen, beginnt sie, aktiv zurückzukehren.

In unserer Zeit ein „neues Jalta“ zu erwarten, ist wohl kaum realistisch. Für ein Jalta sind totale Kriege nötig, die die Welt der Vergangenheit zum Einsturz bringen und eine Welt der Zukunft schaffen. Begrenzte Kriege werden früher oder später mit einem „neuen Berlin“ enden, das den Anschein eines langen Friedens mit einer gleichzeitigen Vorbereitung eines neuen Krieges vermitteln wird. Ein künftiges Abkommen der Großmächte wird wahrscheinlich unserer Jalta-Ordnung das Leben verlängern, wie dies der Berliner Kongress in Bezug auf die Wiener Ordnung getan hatte. Dies wird aber zu einer Verwandlung in die finale Etappe ihrer Entwicklung. Schließlich ist es durchaus möglich, dass unsere Jalta-Ordnung den Weg der ihr vorausgegangenen Wiener Ordnung – „von Napoleon bis nach Sarajevo“ – auf einer neuen Entwicklungsebene wiederholt.