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Für Russlands Oppositionelle hat man ein wirksames Gegenmittel gefunden


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtsfragen (EGMR) hat in der Entscheidung zu einer erneuten Klage gegen die Russische Föderation die Hausarreste einer Inhaftierung gleichgestellt. In beiden Fällen gehe es, erinnerten die Straßburger Richter, um eine ernsthafte Einschränkung der Rechte und Freiheiten. Und bei den russischen Rechtsschützern erlangt die scheinbar mildere Sicherungsmaßnahme – das Verbot bestimmter Handlungen – an Popularität. Die Statistik belegt, dass die Häufigkeit ihrer Anwendung innerhalb eines Jahres um das 1,5- bis 2fache zunimmt. Die Gerichtsentscheidungen, einem Menschen das Internet sowie die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit zu nehmen, hat man gerade in Bezug auf politische Fälle zu treffen begonnen, wenn man irgendeinen Oppositionspolitiker zeitweilig „aus dem Verkehr ziehen“ muss.

Der EGMR war wieder einmal gezwungen gewesen, die russischen Offiziellen daran zu erinnern (nicht etwa, weil sie ein Kurzzeitgedächtnis haben – Anmerkung der Redaktion), dass der Hausarrest gleichfalls eine Einschränkung der Freiheiten und Rechte ist und folglich einer Begründetheit für seine Anwendung braucht. Die Ursachen und Gründe, auf die die Gerichte bei der Wahl oder Verlängerung des Hausarrests verweisen, sind „stereotype“ und „abstrakte“. Straßburg erinnerte daran, dass es „keine Unterschiede zwischen dieser Sicherungsmaßnahme und einer Inhaftierung vor einem Gerichtsprozess macht“.

Daraufhin merkten die Experten der „NG“ an, dass die am meisten verbreitete Sicherungsmaßnahme in Russland nach wie vor die U-Haft bleibe. Ungeachtet dessen, dass die Zahl der Hausarreste allmählich zunimmt, beeinflusst dies fast gar nicht das Gesamtbild. Seit Mitte des Jahres 2018 sei jedoch in der Strafprozessordnung eine neue Maßnahme aufgetaucht, erinnerten einige Experten, die „Verbot von bestimmten Handlungen“ heißt. Und heute ist bereits klar, dass man sie dann anwendet, wenn es ganz und gar keine gewichtigen Gründe gibt, einen Menschen in eine U-Haftanstalt zu stecken oder zumindest selbst in die eigenen vier Wände zu verbannen. Freilich sind viele Juristen der Auffassung, wie die „NG“ herausgefunden hat, dass es zu verfrüht sei, diese Maßnahme zu kritisieren, da es bisher weder ein klares Verständnis für die Besonderheiten ihrer Anwendung noch irgendeine bestimmte Haltung seitens des EGMR gebe.

Dennoch ist offensichtlich, dass das Verbot bestimmter Handlungen nur leichter aussieht. Tatsächlich aber ist die Wirksamkeit dieser Sicherungsmaßnahmen bei berüchtigten politischen Fällen in keiner Weise geringer als ein Haus- oder ein richtiger Arrest. Ein anschauliches Beispiel ist der Fall des KPRF-Abgeordneten Valerij Raschkin aus der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), der der widerrechtlichen Jagd bezichtigt wird. Am 13. Dezember ist er durch das zuständige Gericht für drei Monate unter solche Verbote gestellt worden: Versenden und Erhalt von Korrespondenz, Nutzung jeglicher Fernmeldemittel und des Internets, Kontakte mit Zeugen und anderen Beteiligten des Verfahrens, Verlassen des Wohnorts ohne eine schriftliche Genehmigung des zuständigen Untersuchungsrichters von 23.00 bis 07.00 Uhr. Und natürlich ist dem kommunistischen Spitzenfunktionär Raschkin noch verboten worden, jegliche Jagdreviere zu besuchen. Wie der erste verstrichene Monat zeigte, ist das durchaus offensichtliche Strafverfahren in keiner Weise vorangekommen. Dafür ist der Kommunist aber vollkommen aus dem Medien- und gesellschaftspolitischen Raum ausgeschlossen worden. Was allem nach zu urteilen ursprünglich auch gefordert wurde.

Der geschäftsführende Partner der Anwaltsfirma AVG Legal Alexej Gawrischew bestätigte der „NG“, dass solch eine relativ neue Sicherungsmaßnahme wie das Verbot bestimmter Handlungen allmählich an Popularität gewinne. Sie sei in Vielem einen Hausarrest ähnlich, doch hätte sich bei den Anwälten noch keine eindeutige Meinung zu ihr herausgebildet. Obgleich, wie Gawrischew anmerkte, diese Maßnahme immer häufiger „dank des Aufkommens einer Gerichtspraxis zu politischen und spektakulären Fällen“ angewandt werde. „Ich vermute, dass solch eine Anwendung dieser Maßnahme mit dem Fehlen von Grundlagen für die Anwendung eines Hausarrests oder einer Festnahme, das heißt von strengeren Maßnahmen, zusammenhängt“, meint er. Dennoch seien jegliche Einschränkungen, die für einen Menschen festgelegt werden, eine Methode zur Ausübung von Druck auf ihn. Und man müsse unbedingt die Entscheidungen der Gerichte aus der Sicht ihrer Begründetheit betrachten. Die hauptsächlichen Unterschiede der beiden Maßnahmen bestehe aber darin, dass bei einem Hausarrest die Isolierung der Person obligatorisch ist. Im Falle eines Verbots (bestimmter Handlungen) sei dies aber nur eine von möglichen Restriktionen.

Wie der „NG“ der Anwalt Timur Hardi aus dem Moskauer Anwaltsbüro „Lebendjewa-Romanowa & Partner“ erläuterte, sei das Verbot bestimmter Handlungen im Vergleich zum Hausarrest eine mildere Sicherungsmaßnahme, in deren Rahmen der Angeklagte oder Verdächtige rechtzeitig entsprechend den Aufforderungen des Untersuchungsrichters oder Gerichts erscheinen muss. Er erinnerte daran, dass „man einem Menschen verbieten kann, sagen wir einmal: zu bestimmten Zeiten das Haus zu verlassen oder mit bestimmten Personen zu kommunizieren, Fernmeldemittel und das Internet zu nutzen sowie bestimmte Orte oder Veranstaltungen zu besuchen“. Dabei wies er die „NG“ auf solch einen wichtigen Unterschied der beiden Maßnahmen hin: Ein Hausarrest werde entsprechend der generellen Regel für eine Dauer von bis zu zwei Monaten gewählt und könne dann in Ausnahmefällen bis zu maximal 18 Monaten verlängert werden. Die Zeitdauer der Verbote für Handlungen sei aber ein längerer, zwölf bis 36 Monate und ohne jegliche Hinweise auf irgendeinen ausschließlichen Charakter.

Wladimir Kusnezow, Vizepräsident der Vereinigung von Juristen für die Registrierung, Liquidierung, Insolvenz und Gerichtsvertretung, präzisierte, dass, während ein Hausarrest als eine eigenständige Sicherungsmaßnahme, die mit einer Isolierung nur im Wohnraum verbunden ist, angewandt werde, das Verbot man sowohl als eine eigenständige Maßnahme als auch als einen Zusatz zu einer Kaution und einem Hausarrest ansehen könne. Er teilte mit, dass die Statistik zur Anwendung des Verbots bestimmter Handlungen „zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht so repräsentativ ist“ wie im Falle hinsichtlich der unterschiedlichen Typen von Inhaftierungen. So wurde laut Angaben des Gerichtsdepartments beim Obersten Gericht im Jahr 2018 301 von 347 Anträgen auf Festlegung eines Verbots bestimmter Handlungen stattgegeben. Im Jahr darauf ist deren Anzahl bis auf 1400 angestiegen, wobei 1200 Anträgen stattgegeben wurde. Im Jahr 2020 wurden bereits 2100 derartige Anträge gestellt, von denen 1800 durchgekommen sind. Eine Verlängerung früher festgelegter Zeiträume für das Verbot bestimmter Handlungen beantragten im vergangenen Jahr die Untersuchungsrichter in 3800 Fällen. „Es ist offensichtlich, dass die Anwendung dieser Sicherungsmaßnahmen von Jahr zu Jahr zunimmt“, sagte Kusnezow der „NG“. Dennoch aber sei ihr Anteil bisher nicht mit der Anzahl der Inhaftierungen als Sicherungsmaßnahmen vergleichbar, wobei er im Jahr 2019 lediglich 0,4 Prozent ausmachte.

Nach Aussagen der Dozentin Jekaterina Arestowa vom Lehrstuhl für Staatsrechts- und Strafrechtsdisziplinen an der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität gebe es dafür, dass ein Hausarrest und ein Verbot für bestimmte Handlungen durch die Gerichte weitaus weniger als Inhaftierungen angewandt werden, auch objektive Gründe. „Die Maßnahmen zur Kontrolle der verhängten Restriktionen, und zwar der Einsatz technischer Mittel und die Durchführung von Überprüfungen einmal, zwei Mal in der Woche können nicht in vollem Maße ein ordnungsgemäßes Verhalten der Personen, gegen die Untersuchungen laufen, garantieren, beispielsweise sie daran zu hindern, zu entkommen und unterzutauchen“. Besonders problematisch sei es, diese Verbote gegenüber Bürgern aus anderen Städten oder denjenigen, die keinen eigenen Wohnraum haben, anzuwenden.

Der Leiter des Anwaltskollegiums „Weiße Eule“ Denis Chusiachmetow merkte an, dass die Sicherungsmaßnahmen schon längst zu einer Form der Einschüchterung der Angeklagten geworden seien, zu einem Instrument auf dem Wege zur Anerkennung deren Schuld. „Denn oft wird durch die Verteidigung jegliche Entscheidung, die eine mildere als die Einlieferung in eine U-Haftanstalt ist, auch als ein Sieg wahrgenommen.“ Nach seinen Worten werde die Einleitung von Strafverfahren in der letzten Zeit von der Anwendung des gesamten Spektrums der vom Gesetz gebotenen Sicherungsmaßnahmen – von der Unterzeichnung eines Dokuments über das Nichtverlassen des konkreten Wohnortes bis zu einem Arrest – begleitet. Alles in allem: „Ist eine Person wichtig, ist die Frage darüber, wie man sie einschränkt, sekundär. Sie wird durch die Gerichte ohne ein Verschleppen geklärt“.

Die Anwältin Jekaterina Tjutjunnikowa vom Moskauer Anwaltskollegium „Zentrjurservice“ erklärte gegenüber der „NG“, dass die Anträge auf die Auswahl einer Sicherungsmaßnahme und über eine Verlängerung der Inhaftierungsdauer „in den meisten Fällen formal behandelt werden“. Einerseits sei das Gericht verpflichtet, die Begründetheit der Verdachtsmomente gegenüber der jeweiligen Person zu prüfen, andererseits sei aber dem Gericht nicht erlaubt, die tatsächliche Seite des Falls, das heißt die Frage darüber, hat der Verdächtige eine Straftat begangen oder nicht, zu behandeln. „Der ausgewiesene Widerspruch führt auch dazu, dass die Gerichte im Beschluss formell den Satz ausweisen, dass der Verdacht begründet sei und durch die Materialien bestätigt werde“, meint Tjutjunnikowa. Folglich werde de facto „die Wahl der Sicherungsmaßnahme in Form eines Hausarrests anstelle einer Inhaftierung als ein großer Erfolg angesehen“. Es ist verständlich, dass das Verbot bestimmter Handlungen in dieser Logik wirklich wie ein gewisser Sieg aussieht.