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Ganz und gar kein Ende der Geschichte


Die Welt befindet sich auf der Kippe. Überschwemmungen, Dürren, Hunger, Kriege, Krisen, Mangelerscheinungen und die Inflation werden überall zu einer aktuellen Realität. Der Nahe Osten, Europa, Afrika und die USA werden mit überaus ernsten Herausforderungen konfrontiert, wobei sie keine klare Strategie für eine zufriedenstellende Antwort auf sie sehen. Irgendetwas ist nicht so gelaufen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte der Westen entschieden, dass die bisherige Herangehensweise an die internationalen Beziehungen durch das Prisma geopolitischer Interessen veraltet sei. Die Welt müsse durch eine Durchsetzung universeller Werte, die für alle wichtig sind, errichtet werden: die Menschenrechte, der Kampf gegen die Klimaveränderungen, ein freier Handel und eine generelle Verbreitung ähnlicher Institute.

Gebraucht wurden etwa 30 Jahre, um die grundlegenden Flops in den Berechnungen der Architekten der neuen Weltordnung zu erkennen.

Die Basisfehler beruhten auf der Vorstellung, dass der Westen als Sieger im Kalten Krieg nicht nur die Regeln für das Spiel, sondern auch den Gewinner in eben diesem Spiel bestimmen wird. Wenn dies aus irgendeinem Grunde nicht gelingt, gemäß den Regeln zu gewinnen.

Als ein sinnfälliger Beweis für das Gesagte dient das, wie der Westen begonnen hat, mit der Anwendung der grundlegenden und scheinbar unveränderlichen Werte der Marktwirtschaft in seinem Interesse zu manipulieren.

Der Katechismus unter dem Namen „Washingtoner Konsens“, der Ende der 80er Jahre für die Länder mit einer Nichtmarktwirtschaft angenommen worden war, sah die unablässige Verfolgung der Politik einer Privatisierung, Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen und einer Stabilisierung der Etats mit einer drastischen Reduzierung der Staatsausgaben und Defizite vor. Die internationalen Institute in Gestalt des IWF und der Weltbank verfolgten – buchstäblich wie ein Zerberus – die Unnachgiebigkeit bzw. Unbeugsamkeit bei den Entscheidungen zur Schließung aller Unternehmen in den Schlüsselbranchen der russischen Wirtschaft, die sich nicht in die harten marktwirtschaftlichen Bedingungen einfügten. Verzögerungen bei der Auszahlung von Löhnen und Gehältern wurden als eine gerechte Vergeltung für die Jahre der ineffizienten Arbeit ausgelegt. Umfangreich wurde eine Konversion mit einer Neuausrichtung der Produktion zwecks Herstellung von Konsumgütern – Kochtöpfen, Bratpfannen, Milchkannen usw. — anstelle von hochtechnologischen Erzeugnissen propagiert.

Russland durchlief die „wilden 90er“ unter der Pfeife von Michel Camdessus, des damaligen Direktors des Internationalen Währungsfonds, wobei es sich für immer diese Melodie im Kontext der Beerdigung der Sowjetunion einprägte. Eben jenes Ressentiment, über das heute Experten und Politologen gern sprechen, stammt von dort her, aus den 90ern.

Und alles wäre gut gewesen. Und alles wäre so gelaufen, wie man damals gedacht hatte. Aber da ereignete sich die Krise von 2007-2008, die durch die Verantwortungslosigkeit der US-amerikanischen Hypothekenpolitik ausgelöst wurde. Die Welt war darüber entsetzt, dass alle Gurus der Kreditvergabe und des Risiko-Managements von der Wall Street tatsächlich die dümmste und geldgierigste Politik eines Offerierens von durch nichts gedeckter Schuldeninstrumente verfolgt hatten. Noch größeres Erstaunen lösten die Dimensionen der Rettungsoperationen für die nationale Wirtschaft durch die Finanzbehörden der USA aus. 750 Milliarden Dollar waren für die Rettung der Schlüsselbanken und die die Autoindustrie des Landes bereitgestellt worden. Wozu sie retten, wenn in der Welt genug Autos hergestellt werden und es genug Geld gibt? Schließlich hatte man uns doch beigebracht: Wenn du im Konkurrenzkampf verloren hast, mach‘ Platz für den Fähigeren!

Es stellte sich heraus, dass diese Vorgehensweise nur für jene richtig ist, die nicht der Westen sind. Im Westen aber verhielt man sich sehr aufmerksam gegenüber den nationalen Champions, gegenüber ihrer Rettung, der Bewahrung der Belegschaften sowie gegenüber den strategisch bedeutsamen Branchen und Unternehmen. Dabei wurden den Entscheidungen keine rein wirtschaftlichen und Wettbewerbserwägungen zugrunde gelegt, sondern geopolitische Interessen und Prioritäten. Nun, Amerika kann nicht ohne seine Pleite gegangene Autoindustrie bleiben, selbst wenn sie dreimal ineffizienter im Vergleich zu den japanischen und südkoreanischen Herstellern ist.

Dies war das erste laute Signal, eine Warnung für alle. „Der auf Regeln beruhende Frieden“ ist ein Euphemismus, der bedeutet: Den Sieger bestimmen wir. Und nur wird.

Und bald waren in den USA auf der 2-Parteien-Grundlage deutlich besorgte Aufrufe zu vernehmen: Es dürfe keine Verwandlung Chinas in die Wirtschaft Nummer 1 in der Welt zugelassen werden. Es stellte sich heraus, dass die „Nummer 1“ in der Welt für immer den USA überlassen worden war. Gemäß den internationalen „Modalitäten, die auf Regeln beruhen“. In eben diesen Jahren fingen auch unzufriedene Noten hinsichtlich Russlands zu erklingen an. Es sei beispielsweise nicht Sache Russlands zu entscheiden, was für das Land strategisch wichtig sei und was nicht. Diese Fragen würden angeblich in den Kompetenzbereich des Westens fallen. Solcher Art sind die „Regeln“.

Die liberale Ordnung verwandelte sich vor unseren Augen in immer größeren internationalen Räumen zu einem autoritär-bürokratisch-dschihadistisch-terroristischen Chaos: Afghanistan, der Irak, Syrien, der Libanon, Libyen, Jemen, Sri Lanka, Myanmar. Ja, und in den USA an sich haben die Jahre der Präsidentschaft von (Donald) Trump eine grundlegende Absage an solche Werte wie Redefreiheit, Informationsfreiheit, die Unschuldsvermutung und ein ehrliches politisches Ringen offenbart.

Es stellt sich heraus, dass es unmöglich ist, sich den institutionellen Aufbau der Vereinigten Staaten als ein Vorbild zu nehmen. Und mit dem Ausstieg von Großbritannien aus der EU („Brexit“) wurde offensichtlich, dass die Werte der „Liberalisierung“ auf den harten wirtschaftlichen Nationalismus von London geprallt waren.

Es wurde offenkundig, dass der Westen nicht imstande ist, einen Frieden zu gewährleisten, die „auf Regeln basiert“, weder in der Welt noch in den eigenen Grenzen.

Die zusammen mit (Joseph) Biden zur Gestaltung der Außenpolitik der USA gekommenen Vertreter dessen, was die Bezeichnung „deep state“ erhielt, hatten mit dem Enthusiasmus der frühchristlichen Kreuzritter beschlossen, die Linie hinsichtlich einer endgültigen Loslösung der Ukraine von Russland mit Garantien für erstere für einen NATO-Beitritt abzuschließen.

Da hörte auch der Frieden auf, „der auf Regeln beruht“. Und es kehrte ein Frieden zurück, der auf geopolitischen Interessen basiert.

Ob dies einem gefällt oder nicht, doch alle haben dies ins Kalkül zu ziehen. Diejenigen, die letztlich einen Großteil ihrer Zeit für die Lösung der globalen Probleme der Menschheit – das Gesundheitswesen, die Ökologie, die Verpflegung, die Menschenrechte, die Energiewirtschaft … — aufwenden möchten.

Anders – in keiner Weise.

Das Ende der Geschichte wird nach (Francis) Fukuyama auf unbestimmte Zeit vertagt. Im Zusammenhang mit der Unfähigkeit der USA, die Wettbewerbsfähigkeit und Führungsrolle auf den Prinzipien einer liberalen Wirtschaft und der Nichteinmischung des Staates in die Ermittlung des Gewinners aufrechtzuerhalten. Und es wird nicht mehr möglich sein, die Idee zu verbreiten, die der eigenen Praxis widerspricht. Folglich steht uns bevor, Beteiligte eines unerbittlichen Kampfes um eine neue internationale Ordnung anstelle der „Ordnung, die auf Regeln beruht“, zu sein.