Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Gastarbeiter – eine Gefahr oder Ressource für Russland?


Die russischen Offiziellen treten mit widersprüchlichen und sogar gegenseitig ausschließenden Auslegungen der im Land verfolgten Einwanderungspolitik auf. Die technokratische utilitäre Vorgehensweise der Regierungsbeamten, die den Wirtschaftsblock repräsentieren und sich auf die Unterstützung des Business stützen, löst Einwände eines Teils des Blocks der Vertreter der Sicherheits- und Rechtsschutzorgane in Bezug auf Sicherheitsfragen aus, was durch die Befürchtungen der Gesellschaft hinsichtlich einer Migranten-Bedrohung angeheizt wird.

Auf die ausländischen Arbeitskräfte wird langfristig bei der Realisierung von Bau-, Infrastruktur-, Landwirtschafts- und anderen Projekten gesetzt, was eine wesentliche Zunahme der Anzahl an Migranten und dementsprechend eine Lockerung des Regimes für ihre Einreise und ihren Aufenthalt bedeutet. Grob gesagt: Laut dieser Vorstellung gebe es niemanden, der im Land arbeite. Die Anzahl der Migranten wurde vor einem Monat durch das Innenministerium mit sieben Millionen Menschen beziffert. Im Verlauf der Pandemie hat sich deren Anzahl um etwa ein Viertel verringert. Und die Wirtschaft leidet in dieser Interpretation objektiv unter einem akuten Mangel an Gastarbeitern für die Entwicklung von Projekten. Im Sommer erklärte der russische Vizepremier Marat Chusnullin, dass der Mangel an Arbeitskräften auf Russlands Baustellen in der Zeit bis zum Jahr 2024 fünf Millionen Menschen ausmachen werde. Und Migranten seien nach seiner Meinung die Hauptquelle für eine Kompensierung des Mangels an Arbeitsressourcen aufgrund der hohen Arbeitsproduktivität und Verringerung der Selbstkosten der Arbeiten. „Ein Migrant arbeitet zwölf Stunden für 30.000 bis 40.000 Rubel (umgerechnet etwa 360 bis 480 Euro), maximal 50.000 Rubel (umgerechnet etwa 600 Euro). Unsere Leute sind nicht bereit, zwölf Stunden für 50.000 Rubel zu arbeiten“, erläuterte Chusnullin.

Die Regierung unternimmt bereits konkrete Schritte in dieser Richtung. Vor kurzem ist ein Regierungspilotprojekt zwecks zentralisierter Gewinnung von 10.000 Bürgern Usbekistans für eine zeitweilige Arbeitstätigkeit in Russland gestartet worden. Gemäß einer gemeinsamen Vereinbarung sind 300.000 aus der Russischen Föderation ausgewiesene Bürger Usbekistans und Tadschikistans, die die Aufenthaltsdauer in Russland verletzten sowie keine Straftaten und Rechtsverletzungen auf russischem Territorium begingen, „amnestiert“ worden. Durch das Innenministerium sind Gesetzesänderungen bezüglich des Arbeitsregimes der Arbeitsmigranten, die die Anforderungen bezüglich der Beherrschung der russischen Sprache durch sie, den Mechanismus für die Nichtgenehmigung einer Einreise verändern, und eine Reihe anderer einschränkender Bestimmungen vorbereitet worden, worauf der Präsidialrat für Menschenrechtsfragen die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Und an Beispielen gibt es noch viele.

Umso interessanter ist es zu erfahren, dass der Zustrom von Gastarbeitern auch größere Befürchtungen in den oberen Machtetagen auslöst. „Der große Zustrom von Arbeitsmigranten aus anderen Staaten birgt ernsthafte Risiken einer Zunahme der Kriminalität, des Entstehens von Konflikten auf ethnischer und religiöser Grundlage und von Massenunruhen in sich und fördert eine Zunahme der Spannungen unter der alteingesessenen Bevölkerung“, unterstrich nicht irgendwer, sondern der Sekretär von Russlands Sicherheitsrat Nikolaj Patruschew. Er verknüpfte unter anderem mit den Zugereisten die Gefahren eines „Transports und der Verbreitung von Drogen“ und des „Eindringens von Anhängern radikaler religiöser Strömungen“.

Sicherlich werden solch harte Einschätzungen ein Echo bei den neben den Migranten-Ghettos lebenden Bürgern Russlands finden, die regelmäßig Gastarbeiter-Wohnheime belagern und spontane Selbstverteidigungsformationen bilden. Die Erklärungen Patruschews sehen vor dem Hintergrund der oben dargelegten zielgerichteten Politik der Regierung für ein Ins-Land-holen von Migranten schockierend aus. Ergibt es sich da, dass die Beamten eingestehen, dass unter Gefährdung der Sicherheit der Einwohner das Wirtschaftsleben aktiviert und wichtige Projekte entwickelt werden müssen, wobei begriffen wird, dass sich eine Verschlechterung der Kriminalitätssituation und eine Zuspitzung der zwischennationalen Beziehungen ergeben?

Es gibt keine einheitliche Meinung darüber, wie die Einwanderungspolitik in Russland aussehen soll. Dies ist eine Tatsache. Bei der Ausarbeitung der damit verbundenen Entscheidungen wird keine sorgfältige Verknüpfung ihrer Ziele vorgenommen. Von daher auch solch ein „institutioneller Egoismus“. Es muss – solange es nicht zu spät ist – eine umfassende Abstimmungsprozedur vorgenommen oder auf eine so massierte Gewinnung von Migranten verzichtet werden, wobei zumindest teilweise eine Alternative zu ihnen gefunden wird. Oder sie müssen zu Bedingungen gewonnen werden, die den Bürgern Russlands die Sicherheit garantieren.