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Gastarbeiter-Kinder bilden ethnische Enklaven


Die russischen Offiziellen haben erneut begonnen, von einer Adaptierung der Arbeitsmigranten im Land zu sprechen, wobei sie wieder die Kinder der Gastarbeiter vergessen haben. Zugang zum Bildungssystem haben weniger als 25 Prozent der minderjährigen Ausländer und frischgebackenen Bürger Russlands. Die einen lehnt man aufgrund der sogenannten Politik gerechtfertigter Quoten in den Schulklassen ab. Andere schicken die Eltern gleich in Einrichtungen, die die Diasporen halblegal einrichten, was die Gefahr einer Bildung von ethnischen Enklaven verursacht. Diejenigen, die doch in eine Mittelschule gelangten erwarten Probleme mit der russischen Sprache und Konflikte mit Altersgefährten von den Einheimischen. Und in den für die Gastarbeiter attraktivsten Regionen verlieren die Vertreter der einheimischen Bevölkerung immer mehr Zusammenstöße/Schlägereien, was nur die zwischennationalen Beziehungen verschlechtert. Von der „NG“ befragte Experten waren sich in der Meinung einig, dass Adaptierungsmaßnahmen für die Kinder nötig seien, stimmten aber auch dem zu, dass es keine konsequenten Handlungen des Staates auf dem Gebiet der Einwanderung gebe.

Bei seinem Auftritt im Rahmen der Regierungsfragestunde in der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) hörte der russische Außenminister Sergej Lawrow erneut von der traditionellen Sorge der Abgeordneten aufgrund der schwachen staatlichen Regulierung der Migrantenströme ins Land. Jeder neue Konflikt von Einheimischen mit Zugereisten holt das Thema gewisser Barrieren oder zumindest von harten Anforderungen an den Grad des Adaptierens der Gastarbeiter an das Leben in Russland auf die Agenda zurück. Auf die gestellte Frage antwortete Lawrow am vergangenen Mittwoch genauso traditionell: „Mit den Ländern, die die Hauptmasse der Arbeitsmigranten stellen, dies sind sowohl Kirgisien als auch Tadschikistan und Usbekistan, vereinbaren wir, dass in diesen Ländern Zentren zur Vorbereitung der Arbeitsmigranten organisiert werden“.

Nach Aussagen des Ministers sei klar, wenn Zwischenfälle unter Beteiligung von Zugereisten passieren, „dass diese Prozesse in der Gesellschaft eine widersprüchliche Reaktion auslösen“. Er stimmte zu, dass dies „emotional“ wahrgenommen werde. Dabei erinnerte Lawrow daran, dass die Situation in der Russischen Föderation anderen Regionen der Welt nicht ähnlich sei. Und natürlich erinnerte er an die UdSSR und deren Zerfall. „In unserem Fall ist dies doch ein ganz frisches historisches Ereignis, das man unterschiedlich beurteilen kann, das sich aber natürlich negativ auf das Leben der gewöhnlichen Menschen ausgewirkt hat, unter anderem auf jene, die sich daran gewöhnt hatten, sich durch ihre große gemeinsame Heimat auf der Suche nach Arbeit zu bewegen“. Gerade diese These ist auch die gefährlichste Falle bei der Realisierung der Migrationspolitik des russischen Staates. Schließlich kommen in ihn zum größten Teil bereits keine früheren sowjetischen Menschen, sondern neue Generationen von Einwohnern der postsowjetischen Republiken. Die Vertreter der jüngsten von ihnen beherrschen fast nicht die russische Sprache, sie interessieren wenig die russischen Traditionen und die russische Kultur, allein schon, weil sie ihre Probleme hauptsächlich innerhalb der eigenen Diasporen lösen. Und die anschaulichste in dieser Hinsicht ist die Frage nach der Adaptierung der Gastarbeiterkinder. Und dies unabhängig davon, ob ihre Eltern zeitweilig in der Russischen Föderation verweilende Ausländer bleiben oder es bereits geschafft haben, sich die vorteilhafte (russische) Staatsbürgerschaft zu beschaffen.

Gerade hier offenbart sich eine ungeheuerliche Inkonsequenz der Staatspolitik auf dem Migrationsgebiet, die durch die widersprüchlichen Signale nur verschlimmert wird, die unter anderem auch von ganz oben erfolgen.

Offizielle statistische Angaben hinsichtlich der minderjährigen Ankömmlinge sind spärliche. Es gibt da aber zum Beispiel solch eine: Laut Angaben des Bildungsministeriums erhalten in den russischen Schulen rund 140.000 Kinder von Migranten eine Ausbildung, obgleich sich insgesamt mindestens 800.000 minderjährige Ausländer im Land befinden. Nach Aussagen von Experten sei dies damit zu erklären, dass solche Kinder oft unter verschiedenen Vorwänden entweder nicht in die Schulen aufgenommen werden, wobei Bestätigungen für den legalen Status und eine lokale Anmeldung gefordert werden, oder aus den Bildungseinrichtungen ausgeschlossen werden, wenn bei ihren Eltern Probleme mit solchen Dokumenten auftreten. Dabei weisen die Verfassung der Russischen Föderation und die föderale Gesetzgebung kein Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Bescheide als eine Grundlage dafür aus, einen Zugang zu einer Ausbildung zu verwehren. Mehr noch, der Artikel 43 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf Bildung für alle.

Daher überrascht es auch nicht, dass einige Ausländer versuchen, eigene Schulen in gemieteten Wohnungen oder in Kellerräumen zu schaffen, in denen sie ihren Kindern auch das beibringen, was sie selbst für nötig erachten. Nach Meinung von Experten gebe es im Land keine klaren Adaptierungsmechanismen, die durch das Gesetz festgelegt worden sind. Beispielsweise sei unklar, was es für eine Alternative für ein Ausländerkind geben könne, dass nicht in einer Klasse mit Bürgern Russlands unterrichtet werden könne. Dabei ist offensichtlich, dass ohne eine Ausbildung, das heißt ohne ein Adaptieren an die Gesellschaft, die groß gewordenen Kinder der Gastarbeiter den Bereich der Schattenwirtschaft auffüllen werden. Und einige realisieren einen Minderwertigkeitskomplex in unterschiedlichen extremistischen Strukturen. Andererseits aber beginnen sich die russischen Schulen dagegen in den für die Migranten attraktivsten Regionen in ausländische zu verwandeln. Einzelne Klassen bestehen bereits fast vollkommen aus Zugereisten. Ein Teil von ihnen spricht schlecht Russisch, selbst wenn ihre Eltern einen Pass der Russischen Föderation besitzen. Die Lehrer wenden die ganze Zeit für sie auf. Für die anderen Schüler reicht sie nicht mehr aus. Die einheimischen Bewohner empören sich und melden ihre Kinder aus solchen Schulen ab. Immer häufiger werden Klagen und Beschwerden laut, dass die Kinder der Migranten ihre Ausbildungsregeln verlangen und aggressiv gegenüber Klassenkameraden auftreten. Konkrete Zwischenfälle der jüngsten Vergangenheit sind natürlich in aller Munde: sowohl das Zusammenschlagen einer neunjährigen Schülerin in Samara als auch der Skandal aus Obninsk im Zusammenhang mit einer richtigen Bande von Migranten-Sprösslingen.

Nachdem aber im März vergangenen Jahres Präsident Wladimir Putin vorgeschlagen hatte, sich über berechtigte und vernünftige Quoten in den Schulklassen für die Kinder von Migranten Gedanken zu machen, damit es leichter wird, sie zu adaptieren, hat man dies vor Ort als ein Signal für das Errichten von Barrieren aufgefasst. Leider hätten einige übereifrige Beamte in den Regionen diese Worte auf ihre Art und Weise aufgefasst, sagte der „NG“ das Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen Alexander Brod. Und sie hätten angefangen, für eine Verringerung des prozentualen Anteils von Migranten in den Schulen zu kämpfen. „Ungeachtet der recht ernsthaften Zeitspanne von 30 Jahren ist im Land immer noch kein systematisches Vorgehen für ein Adaptieren der Migranten, darunter für deren Kinder, entwickelt worden“, erklärte Brod. So hat sich beispielsweise die Anzahl der Schulen mit einer ethnokulturellen Komponente in diesen Jahren verringert. Und in den allgemeinbildenden Schulen aber, auch wenn sie auswärtige Kinder aufnehmen, geraten diese dort oft in ein feindseliges Umfeld, was sie nötigt, sich zusammenzuschließen und eine Antwortaggression zu praktizieren. Folglich nötigt gerade „solch eine unfreundliche Vorgehensweise“ die Familien der Migranten, die Kinder zu Hause zu unterrichten, private Schulen zu bilden, wo es weit bis zu den allgemeinüblichen Bildungsstandards ist“. Wie Brod unterstrich, beginne man scheinbar, Lehrgänge zur Ausbildung von Pädagogen für die Arbeit mit ausländischen Kindern zu organisieren, es mangele aber an Unterrichtshilfen. Und es gebe auch an sich wenig Methodik-Spezialisten. Er selbst ist sich gewiss, dass man Adaptierungsklassen für die Migrantenkinder schaffen, eine individuelle Herangehensweise sowie Psychologen und Konflikt-Experten hinzuziehen müsse. Denn „bisher sind alle diese Prozesse dem Selbstlauf überlassen worden. Es wachsen Generationen heran, die sich dann das ganze Leben für die Kränkungen im Kindesalter und die unfreundliche Aufnahme, für die Antipathie und Schikanen rächen werden“.

Dagegen erklärte der Vorsitzende der Bewegung „Bürgersolidarität“ Georgij Fjodorow gegenüber der „NG“, dass er insgesamt gegen die Idee der Schaffung separater Schulen oder Klassen für Migrantenkinder sei, da dies nur die Situation verschlimmern werde. „Wenn man diesen Weg verfolgt und nicht mehr unternimmt, so riskieren wir, in den Großstädten nationale Enklaven von Menschen aus Mittelasien mit ihren Traditionen, Bräuchen und Verhaltensregeln, die unter anderem der russischen Gesetzgebung widersprechen, zu erhalten. Ganz zu schweigen von den Alltagskonflikten auf nationaler Ebene“, warnte er. Allerdings hält Fjodorow auch die derzeitige Politik in Bezug auf die Migranten inkl. der rechtlichen Regulierung und der Fragen einer kulturellen Adaptierung und Sozialisierung der Migranten für eine inkonsequente und fragmentarische. Die Kontrolle der Migrationsströme müsse in erster Linie auf den realen Bedürfnissen der Wirtschaft basieren. Migranten würden lediglich in den Bereichen gebraucht, wo sich objektive Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Personal/Arbeitnehmern innerhalb des Landes ergeben würden. Was aber jene angehe, die schon lange im Land arbeiten, so „müssen sie unbedingt durch den Staat in unterschiedliche Programme zur Adaptierung und Sozialisierung einbezogen werden“. „Und die Schule muss in diesem Fall als eine Basis dieses Prozesses agieren, Achtung gegenüber dem Land, in dem du lebst, gegenüber dessen Geschichte und Kultur sowie gegenüber den Werten der russischen Gesellschaft vermitteln. Dies ist eine der Aufgaben der Schulausbildung“, unterstrich Fjodorow.

Wie der Experte des Zentrums für den Schutz der Arbeitsrechte „Arbeiterkompass“ Alexander Simbowskij gegenüber der „NG“ erklärte, würde der heutige Staat jedoch nur die Interessen der herrschenden Klasse verteidigen, wobei gerade jener großen und gewissenlosen Arbeitgeber, für die „es von Vorteil ist, dass sich die Beschäftigten verschiedener Nationalitäten schlecht einander verstehen und sich mit einer maximalen Antipathie zueinander verhalten“, denn so sei es leichter, sie zu lenken. Im Großen und Ganzen würde sich in der Praxis wohl kaum irgendetwas ändern, meint er. Man würde weiterhin Arbeitsmigranten ins Land holen und eine Feindseligkeit ihnen gegenüber schüren sowie deren vollwertige soziale Adaptierung in der Gesellschaft verhindern. Dies betreffe auch deren Kinder, eine heranwachsende Generation billiger Arbeitskräfte. „In der ursprünglichen Form ist solch eine Politik als Apartheid bezeichnet worden. Heutzutage wird derartiges weitaus akkurater getan. Der Sinn bleibt aber der gleiche“, unterstrich Simbowskij.

Wie der Bürgeraktivist Alexej Jegorkin der „NG“ erklärte, wurden in der UdSSR Separatismus und Nationalismus bereits von Grund auf unterbunden. Das einheitliche Erziehungssystem sah im ganzen Land die Formierung eines weltlichen Menschen und Staatsbürgers vor. Nach dem Zusammenbruch begannen die Republiken, „ihre lokal begrenzen Normen durchzusetzen“, was als Wiedergeburt des nationalen Selbstbewusstseins dargestellt wird. Und es sei offensichtlich, dass in den letzten 30 Jahren bereits nicht eine Generation herangewachsen ist, die sich aus mentaler und kultureller Sicht unwiderruflich von den im heutigen Russland angenommenen sozialen, kulturellen und Verhaltensregeln entfernt hat. Dabei sei auch der Großteil der Migranten nicht bestrebt, sich in das lokale Umfeld zu integrieren, wobei sie weiter entsprechend Traditionen leben würden, die Russland fremd seien. „Indem sie alle Verwandten hierherholen und hier Kinder zur Welt bringen, leben sie doch weiterhin als Enklaven, vorerst noch nicht nach dem geografischen, sondern entsprechend sozialen Merkmalen. Obgleich sich auch bereits administrative „Grenzen“ abzeichnen“, unterstrich Jegorkin. Wenn aber die Migranten wirklich so nötig sind, so müsse man sich lange vor dem Ankommen mit ihrer Vorbereitung befassen. Es müsse ein staatliches Programm zur komplexen Adaptierung der Migranten geben. Und vor allem seien russische Schulen in jenen Ländern notwendig, von woher die Gastarbeiter kommen. Auch müsse es eine Attestierung für die Anwärter auf Arbeitsplätze mit einer strengen und transparenten Kontrolle zwecks Verhinderung von Korruption geben. Und „für die Kinder der Migranten muss ein Programm für eine Vorschulbildung und Sozialisierung entwickelt werden“.