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Gazprom-Chef Alexej Miller glaubt an „Energie-Selbstmord“ Europas


In dieser Woche fand zum 10. Mal das Internationale Petersburger Gas-Forum statt. Es wurde zu einer Bestandsaufnahme des Zustands nicht nur des russischen, sondern auch des internationalen Gasmarktes. Das Programm umfasste Diskussionen sowohl zu technischen Fragen als auch zu Problemen der Cyber-Sicherheit des Sektors, zu dessen Entwicklungsperspektiven sowie zu den Konturen der neuen Weltordnung in diesem Bereich. Interessant war gleichfalls der russisch-lateinamerikanische Dialog zur Förderung von Lithium, dessen Rolle derzeit sowie in der längerfristigen Perspektive deutlich zunimmt. Russland will sich dabei zum Beispiel den Zugang zu Lithium-Lagerstätten in anderen Regionen des Erdballs sichern, wo offensichtlich die Förderung dieses Metalls kostengünstiger ist. Höhepunkt wurde die Plenartagung des Forums am Donnerstag, an der Gazprom-Chef Alexej Miller, Ungarns Außen- und Handelsminister Peter Szijjártó und andere Vertreter aus Mittelasien, China und Weißrussland teilnahmen. Nicht zu vergessen sind auch Russlands neuer Energieminister Sergej Ziwiljow und Alparslan Bayraktar, der türkische Minister für Energie und natürliche Ressourcen. Beobachter konstatierten jedoch, dass gerade die Auftritte von Miller, Szijjártó und Bayraktar zu den Highlights der Gesprächsrunde wurden. Obgleich ebenfalls angemerkt wurde, dass die Wortmeldungen des 62jährigen Gazprom-Chefs stellenweise diffus und wenig überzeugend wirkten (offensichtlich hatte man den schlüssigeren Auftritt von Alexej Miller im vergangenen Jahr beim Gas-Forum noch in Erinnerung). Die Redaktion „NG Deutschland“ wohnte der Veranstaltung bei und hat folgende bemerkenswerte Gedanken notiert:
Schnippisch, beinahe arrogant begann Miller sein erstes der drei Statements, nachdem die Moderatorin nach dem heutigen Zustand des europäischen Marktes nach der drastischen Verringerung der Gaslieferungen aus Russland fragte. Offensichtlich verleitete dazu der etwas unpassende Sessel, in dem der Topmanager breitbeinig saß. „Schlecht“, erklärte Miller und erntete damit ersten Beifall aus dem Saal (in dem Übrigen nicht nur ein Teil der Gazprom-Spitze, sondern auch Österreichs einstige Außenministerin und die nunmehr als in Russland tätige Politologin und Expertin Karin Kneissl saßen). Nachdem er diesen Beifall genossen hatte, fuhr er fort: „Das, was sich auf dem europäischen Gasmarkt abspielt, hat bereits eine permanente Definition erhalten: Dies ist eine künstliche Zerstörung der Nachfrage nach Gas. Es gibt aber auch härtere Bewertungen und Meinungen von Experten. Einige sagen, dass man dies als „Energie-Selbstmord“ Europas bezeichnen könne. Andere Experte sprechen davon, dass sich vor unseren Augen die „Wirtschaftslokomotive“ in einen „kranken Menschen Europas“ verwandelt habe.
Und wissen Sie, man kann diesen Worten beipflichten. Da in der Tat eine zielgerichtete Zerstörung der Nachfrage nach Gas erfolgt. Es ergibt sich aber die Frage: Wozu wird dies getan? Zu was kann dies führen? Und was für Konsequenzen wird dies haben?
Die Dynamik des Rückgangs des Gasverbrauchs in der EU und in Großbritannien hält an. Beispielsweise sind es in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum analogen Zeitraum des Jahres 2023 weitere elf Milliarden Kubikmeter weniger geworden. Zusammen damit hat die Europäische Union (für den Import fossiler Brennstoffe) im Jahr 2023 im Vergleich zum Jahr 2019 wertmäßig 2,7 Prozent des BIP mehr bezahlt. Vergangen sind nur ganze vier Jahre! Selbst solch eine geringe nachlassende Nachfrage nach Gas verlangt letztlich, wie wir sehen, kolossale, gewaltige finanzielle Aufwendungen“.
Im Weiteren wiederholte er bekannte russische Narrative, denen zufolge vor allem die europäische Industrie das Nachsehen aufgrund der EU-Energiepolitik habe. Insbesondere die gasintensiven Branchen — die Stahlgießereien, die Zement- und Chemieindustrie, und es sind mehr als ein Dutzend solcher Branchen … Dies sind Branchen, die wirklich die Grundlage, die Basis der Wirtschaft Europas sind.
Solch eine Politik hat im Grunde genommen dazu geführt, dass hinsichtlich dieses Dutzends in mehreren Branchen in den letzten anderthalb Jahren die Produktion um beinahe zehn Prozent gesunken ist. Diese Branchen haben ein Minimum der Produktion hinsichtlich des letzten Jahrzehnts erreicht. In einigen Branchen haben die Selbstkosten für die Herstellung von Erzeugnissen in gerade einmal anderthalb Jahren um 25 Prozent zugenommen!
Natürlich trifft dies alles letztlich stark die europäische Industrie. Und es ist durch alle eingestanden worden, dass der Prozess einer Deindustrialisierung der Europäischen Union sozusagen im vollen Gange ist“.
Viele Argumente bot Alexej Miller bei der Beantwortung der Frage nach hauptsächlichen Preis-Trends auf den internationalen Gasmärkten. Er sprach von einer stark zugenommenen Volatilität der Gaspreise. Und dies führe dazu, dass es unmöglich sei, eine Kontrolle der Kosten für die nahe, die mittelfristige und umso mehr für die langfristige Perspektive vorzunehmen.
„Da ergibt sich die Frage: Wie soll man da die Produktion für die nächsten Jahre planen?“, fragte rhetorisch der Gazprom-Chef. „Es stellt sich heraus, dass die Industrieunternehmen der Europäischen Union in eine Situation geraten sind, in der einige bereits einfach dichtmachten. Und beispielsweise die Hälfte der Unternehmen Deutschlands – stellen Sie sich dies nur einmal vor – erwägt die Möglichkeit einer Verlegung ihrer Produktion in Drittländer oder einer Drosselung der Fertigung. Und 20 Prozent der Unternehmen haben überhaupt vollkommen die Finanzierung für R & D (Arbeiten für Forschung, Entwicklung, Erprobung und Konstruktion – Anmerkung) eingestellt. Aber ohne eine Finanzierung von R & D gibt es keine neuen Technologien. Ohne eine Finanzierung für R & D gibt es keine technologische Entwicklung“.
Die Frage, die da absolut eindeutig steht, ist: Kann denn in diesem Fall die europäische Industrie wettbewerbsfähig sein? Die Antwort ist: nein. Sie kann es nicht“.
Um dem russischen Top-Manager eine Atempause zu verschaffen, ließ die Moderatorin den ungarischen Außen- und Handelsminister Peters Szijjártó zu Wort kommen. Gerade westliche Journalisten erwarteten mit großer Spannung den Auftritt des Vertreters aus der Viktor-Orbán-Regierung. Schließlich bedeutet das Ende des Jahres auslaufende Transitabkommen zwischen Moskau und Kiew eine große Herausforderung für Ungarn. Budapest habe keine Infrastruktur, um aus anderen Regionen Gas zu bekommen, so dass der 45jährige Politiker die russischen Gaslieferungen auf der Basis langfristiger Verträge und zu wettbewerbsfähigen Preisen besonders würdigte. Auf eine Nachfrage zum möglichen Ende des russischen Gastransits über ukrainisches Territorium meinte er dann: „Für uns ist dies kein Problem, denn wir haben eine Alternative geschaffen. Wir haben die Pipeline „Turk Stream“. … Und diese alternative Route können auch andere zentraleuropäische Länder nutzen“. Logisch erschien auch die Begründung, warum Ungarn seine Gas-Importe aus Russland nach wie vor fortsetze. „Wir haben Verpflichtungen gegenüber den Bürgern und der Industrie“.
Der türkische Minister für Energie und natürliche Ressourcen, Alparslan Bayraktar, war gleichfalls aufschlussreich in seinen Statements. Zuerst betonte er die Anstrengungen der Regierung der Türkei zur Diversifizierung der Energiebilanz des Landes. Ungeachtet der Zunahme der Bedeutung des Gases setze Ankara auf weniger Kohlestrom, dafür aber auf die Kernenergie. Wichtig sei dabei, welche Signale generell für die Industrie gesandt werden, wobei er eingestand, dass die Politisierung der Gasfrage derzeit einen Höhepunkt erreicht habe.
Nachgefragt zu einem möglichen türkischen Gas-Hub für russische Erdgaslieferungen nach Europa, wich er konkreten Antworten aus. Weit ausholend erinnerte er an die gefundenen Gas-Felder im Schwarzen Meer, die von der Türkei ausgebeutet werden sollen, so dass der Bedarf an russischem Gas mit Sicherheit zurückgehen werde. Außerdem unterstrich er, dass dieses russische Gas über die Pipelines „Turk Stream“ und „Blue Stream“ in die Türkei gelange, wobei es parallel dazu noch Pipelines aus Aserbaidschan und die TANAP gebe. Ganz zu schweigen von den Regasifizierungsterminals mit einer Jahresleistung von etwa 25 Milliarden Kubikmeter, über die Ankara LNG bezieht. Es entstand daher der Eindruck, dass der türkische Gas-Hub vorerst Zukunftsmusik bleibt.Erst zum Ende der knapp anderthalbstündigen Plenartagung des Petersburger Gas-Forums gab es Aussagen zur neuen Energie-Weltordnung. Wie werde sie sich gestalten, fragte die Moderatorin. Und was für Möglichkeiten eröffne dies für Russland? Alexej Miller wusste so auf diese Fragen zu antworten:
„Zweifellos wird die Gestaltung einer neuen Energie- (Welt-) Ordnung in erster Linie durch das weitere weltweite Bevölkerungswachstum bestimmt werden. Und dies bedeutet das Auftauchen neuer Verbraucher. Das Auftauchen neuer Verbraucher bedeutet ein Wirtschaftswachstum. Dies ist eine Zunahme des Stromverbrauchs. Und in erster Linie ist dies eine Zunahme nicht bloß des Stromverbrauchs, sondern eine Zunahme des Verbrauchs von Gas, der zuverlässigsten, der ökologisch saubersten und wirtschaftlich effektivsten primären Ressource. …
Dabei prognostizieren wir eine globale Gas-Nachfrage im Jahr 2050 auf einem Niveau von 5,7 Billionen Kubikmeter Gas. Und das Gas wird der Spitzenreiter dieser Bilanz mit 26 Prozent sein. Dies zum einen.
Zur Bestätigung kann ich eine Zahl dieses Jahres anführen. Innerhalb der ersten neun Monate des Jahres 2024 hat im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres die weltweite Nachfrage nach Gas um 60 Milliarden Kubikmeter zugenommen. Zu 80 Prozent wurden diese 60 Milliarden Kubikmeter Zunahme durch drei Länder ausgelöst. Dies sind China, Indien und Russland.
Und ich würde hier noch gern natürlich auch die Rolle der Länder des Globalen Südens betonen. Vor 25 Jahren verbrauchten die Länder des Globalen Südens 45 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Gas. Gegenwärtig verbrauchen sie 55 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Gas. Entsprechend unserer Schätzungen wird bis zum Jahr 2050 der Umfang des Gasverbrauchs durch diese Länder in der globalen Energiebilanz 70 Prozent ausmachen.
Und hier muss hervorgehoben werden, dass wir Augenzeugen und Teilnehmer einer völlig einmaligen Erscheinung sind, der Gestaltung einer neuen stabilen Gas-Region, die – ich würde es so bestimmen – durch Zentral- und Südasien, den Kaukasus, den Fernen Osten, aber auch mit einer weiteren Schaffung neuer großer exportorientierter Korridore in der Richtung Nord-Ost-Asiens – gebildet wird“.
Der Gazprom-Chef versäumte es natürlich nicht, gewisse Erfolge des Konzerns auch in diesem Jahr hervorzuheben. Zum Bespiel habe Gazprom in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres den Umfang der Gaslieferungen in die Länder Zentralasiens um das 2fache erhöht. So etwas hatte es nie gegeben.
„Wenn man über die Möglichkeiten für Russland spricht, so bestehen in Fortsetzung all jener Thesen, die heute im Rahmen unserer Plenartagung zu vernehmen waren, die neuen Möglichkeiten zweifellos in gerechten Prinzipien für die globale Zusammenarbeit auf dem Gasmarkt im Rahmen solcher Wirtschaftsvereinigungen wie BRICS. Dies zum einen.
Zweitens, all jene globalen Veränderungen auf dem Gasmarkt, die wir heute gemeinsam erörtert, die wir hervorgehoben haben… Sie schaffen die Möglichkeit, den russischen Gassektor zu einem noch stabileren zu machen. … Und womit ich abschließen möchte: Natürlich, aus der Sicht der Möglichkeiten ist dies eine Verstärkung der eigenen Führungspositionen auf dem weltweiten Energiemarkt durch Russland“.
Nach dem Abschlussbeifall blieben Fragen offen, vor allem hinsichtlich des eingebrochenen Gazprom-Exports nach Europa, in Bezug auf das Engagement des Konzerns auf neuen Märkten und hinsichtlich dessen, wie der russische Staat mit den ausgefallenen Exporteinnahmen aus dem Gasexport in den nächsten Jahren über die Runden kommen will.