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„Gazprom“ könnte ohne Exportpipelines mehr verdienen


Das Außenministerium der USA hat sich hinsichtlich einer Erweiterung der Sanktionen gegen die russischen Export-Gaspipelines festgelegt. Neben der fast vollkommen fertigen Pipeline „Nord Stream 2“ (NS-2) wird „Turk Stream“ dazukommen. Die französische Presse lenkte die Aufmerksamkeit auf einen paradoxen Umstand, der mit NS-2 zusammenhängt, deren Betrieb aufgrund des amerikanischen Drucks überhaupt nicht beginnen kann. Dem Widerstand gegen diesen Druck mangelt es Europa an Einheit. Russische Experten wiesen auf einen anderen, nicht weniger traurigen paradoxen Umstand hin: Je mehr „Gazprom“ Pipelines baut, umso geringer sind dessen Einnahmen aus dem Gasexport. 

Das US State Department hat beschlossen, „Nord Stream 2“ und den zweiten Strang von „Turk Stream“ in die Projekte einzubeziehen, die unter die Sanktionen des Gesetzes „Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act“ (CAATSA – „Über die Bestrafung von Gegnern Amerikas durch Sanktionen“) fallen. Dies erklärte am Mittwoch US-Außenminister Michael Pompeo gegenüber Journalisten im Außenministerium der Vereinigten Staaten. Solch eine Entscheidung „stellt für die Investitionen oder anderen Tätigkeitsarten, die mit diesen russischen Exportpipelines für Energieträger in Verbindung stehen, ein Risiko hinsichtlich der Anwendung von Sanktionen dar“, erläuterte Pompeo.

Das französische Blatt „Le Monde“ schrieb, dass der Betrieb von NS-2 aufgrund des amerikanischen Drucks überhaupt nicht beginnen könne, da eine Verstärkung der Sanktionen erwartet werde, an denen Präsident Donald Trump festhalte, der von „Nord Stream“ besessen sei, wie sein ehemaliger Berater für nationale Sicherheit, John Bolton, in seinem Buch schrieb.

Die Zeitung schreibt, dass, wenn man von NS-2 spreche, so 120 europäische (in erster Linie deutsche und französische) Unternehmen von den Sanktionen getroffen werden könnten. Diese Zahlen hatte zuvor die Betreibergesellschaft Nord Stream 2 AG genannt. Die Nachrichtenagentur Bloomberg ermittelte, dass rund 670 Unternehmen aus 25 Ländern an der Gaspipeline gearbeitet hätten. 

„Le Monde“ betont, dass in Europa hinsichtlich des Projekts keine Einigkeit bestehe. Während Deutschland eindeutig dafür sei, seien Polen und die baltischen Länder aus der einstigen UdSSR eindeutig dagegen. In der Bundesrepublik Deutschland demonstriert man eine harte Position hinsichtlich des neuen Gesetzentwurfs über eine Ausdehnung der Sanktionen gegen NS-2, den die Republikaner Anfang Juni zur Behandlung im Senat des US-Kongresses eingebracht hatten. Klaus Ernst, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie, schlug der EU als Antwortmaßnahme sogar vor, Steuern für verflüssigtes Erdgas (LNG) aus den USA einzuführen und Sanktionen gegen die Senatoren, die den erwähnten Gesetzentwurf initiierten, zu verhängen.  

Doch ungeachtet dessen, so die französische Zeitung, dass erstmals europäische Unternehmen betroffen werden könnten, die auf dem europäischen Territorium tätig seien, bleibe die Reaktion der Europäischen Kommission auf solch offenkundige Angriffe auf die Souveränität Europas immer noch unentschlossen. Und obwohl der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die amerikanischen Sanktionen als „inakzeptable“ und „dem Völkerrecht widersprechende“ bezeichnete, seien bisher keinerlei Antwortmaßnahmen formuliert worden, darunter in Frankreich, das „sich hinter dem Rücken Berlins in dieser Frage versteckt“, wie die Zeitung schreibt. 

„Früher oder später muss reagiert werden“, sagte der Leiter des Zentrums für Energie und Klima des Französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri), Marc-Antoine Eyl-Mazzega. „Schließlich kann man Sanktionen selbst gegen jene verhängen, die Butterbrote den auf der Baustelle arbeitenden russischen Seeleuten bringen.“

Die „Süddeutsche Zeitung“ führt Auszüge aus einem Schreiben von Klaus Ernst an die US-amerikanischen Behörden an, in dem er die Hoffnung bekundet, dass sie die Entscheidungen achten werden, die auf demokratische Weise in der Europäischen Union gefällt wurden. Er erinnert daran, dass die deutsche Regierung für eine Diversifizierung der Lieferungen von Energieträgern die Errichtung von LNG-Terminals förderte, aber auch die Idee des Abschlusses eines neuen 5-Jahres-Vertrags für Transitlieferungen durch die Ukraine unterstützte.

Der Leiter des Zentrums für Deutschland-Forschungen des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Wladislaw Below, erklärte jedoch in einer Sendung von Radio Sputnik, dass die Amerikaner diesen Aufrufen kein Gehör schenken werden. „Die USA haben ihre harte Haltung, die die Meinung der europäischen Partner nicht berücksichtigt. Sie berücksichtigen weder die Meinung Deutschlands, noch die Meinung von Brüssel, zumal Brüssel an sich keine einheitliche Meinung hat. Wir werden wohl kaum etwas außer Appelle Berlins zu hören bekommen, das im EU-Rat den Vorsitz innehat. Bisher können die Europäische Union und die einzelnen Länder leider nichts unternehmen“, meint Below.

„Die Europäische Kommission war nie ein Anhänger des Baus von Nord Stream 2 gewesen. Ihre jetzige Chefin Ursula von der Leyen trat stets dafür ein, dass Nord Stream 2 der europäischen Gesetzgebung entspricht, was objektiv den Interessen von Gazprom widerspricht, da es die Möglichkeit einer Auslastung mit dessen Brennstoff nur zur Hälfte der Kapazität der Leitung bedeutet“, sagte Wladimir Blinkow, Experte für den Öl- und Gasmarkt, gegenüber der „NG“. Seiner Meinung nach würden mehr Chancen dafür bestehen, dass die Gaspipeline doch fertiggebaut werde.

„Donald Trump wird wohl kaum den Erlass über neue Sanktionen unterschreiben, schließlich wäre dies bereits nicht bloß ein Schlag gegen die Interessen des „sich schuldig gemachten“ Russlands, sondern würde auch zum Beginn eines Wirtschaftskrieges mit Europa werden, worauf sich der US-amerikanische Präsident im Vorfeld der Novemberwahlen meines Erachtens nicht einlassen wird“, vermutet Blinkow. 

Nach Aussagen des Experten war das preiswerte russische Gas stets ein Wettbewerbsvorteil der europäischen Hersteller, die sich dadurch geringe Selbstkosten für ihre Exporterzeugnisse, unter anderem für den Markt der USA, sichern konnten. „Praktisch die ganze Industrie Europas arbeitet auf der Grundlage von Gas. Gegenwärtig sind die Preise in der Welt gefallen, und der Anteil von „Gazprom“ in Europa hat sich verringert. Gas aus Algerien und Qatar sind dorthin geflossen. Doch meiner Ansicht nach wird sich die Situation erholen. Sobald die Kälte einsetzt, wird der Verbrauch ansteigen, und die wegen des vergangenen warmen Winters ungenutzten Vorräte werden sich verringern“, meint Blinkow. 

Der Experte betont dennoch, dass „Gazprom“ heute weniger Illusionen hinsichtlich des Einflusses der Sanktionen habe. Seinen Worten zufolge hatte „Gazprom“ nicht geglaubt, dass „Allseas“ die Baustelle verlassen wird. Aber dies ist geschehen. „Jetzt beeilt sich der Konzern, soviel wie möglich zu schaffen, denn die Sanktionen, wenn sie doch angenommen werden, werden nicht rückwirkend sein. Dänemark hat eine Genehmigung für die Arbeit der russischen Rohrverleger erteilt. Ab August können sie die Arbeiten aufnehmen und Anfang kommenden Jahres das Verlegen beenden“, präzisierte Blinkow. Er unterstreicht, dass der Betrieb des errichteten Projekts nicht unter das angekündigte Projekt zur Erweiterung der Sanktionen nicht fallen werde. 

Am 7. Juli erteilte Dänemark der Nord Stream 2 AG eine aktualisierte Genehmigung für den Bau von NS-2. Jetzt können an den Bauarbeiten nicht nur Schiffe mit einer dynamischen Positionierung teilnehmen (wobei es in erster Linie um das Rohrverlegungsschiff „Akademiemitglied Tscherskij“ geht, siehe „NG vom 17.06.2020 – https://www.ng.ru/economics/2020-06-17/1_7887:gazprom.html), sondern auch mit einer ankergestützten, denn die Route für die abschließenden Bauarbeiten an der Gaspipeline verläuft außerhalb der Risikozone für einen Kontakt mit den auf dem Meeresgrund der Ostsee lagernden chemischen Waffen. Das heißt, es wurde die Genehmigung erhalten, das Schiff „Fortuna“ einzusetzen, das bereits laut Angaben von Internetseiten für die Beobachtung von Schiffsbewegungen in dänische Gewässer eingelaufen ist, Experten nehmen gleichfalls an, dass es in deutschen Häfen eingelaufen war, um Ausrüstungen und Rohre an Bord zu nehmen. 

Die Leidenschaften und Gemüter hinsichtlich „Nord Stream 2“ können jedoch nicht noch einen paradoxen Umstand in den Schatten stellen. Wie der analytische Informationskanal Macro Markets Inside (MMI) schreibt, scheint es, dass, je mehr „Gazprom“ Pipelines baut, umso geringer sind dessen Einnahmen aus dem Gasexport. „Im zweiten Quartal beliefen sie sich auf lediglich 3,5 Milliarden US-Dollar, und hinsichtlich der Ergebnisse des Halbjahres – auf 10,5 Milliarden US-Dollar. Augenscheinlich werden in diesem Jahr die Exporterlöse aus dem Gasverkauf die geringsten seit der Zeit der Jahre 2003 und 2004, als sie sich auf einem Stand von 20 bis 22 Milliarden US-Dollar befunden hatten“, erwartet MMI. 

Den durch das Unternehmen am Dienstag veröffentlichten Angaben nach zu urteilen, hat „Gazprom“ im ersten Quartal des Jahres 2020 erstmals einen Verlust entsprechend den internationalen Rechnungslegungsstandards seit 2015 zu verbuchen. Er machte 116,2 Milliarden Rubel gegenüber einem Gewinn von 535,9 Milliarden Rubel im Jahr zuvor aus. Das letzte Mal hatte der Konzern einen Quartalsverlust entsprechend den Ergebnissen des dritten Quartals von 2015 einstecken müssen. Er belief sich damals auf zwei Milliarden Rubel, erinnern die Nachrichtenagenturen. „An dem Projekt Nord Stream 2 sind auf der einen oder anderen Weise sehr viele Unternehmen beteiligt, angefangenen bei fünf großen als Gläubiger auftretenden Unternehmen bis hin zu den Lieferanten von Rohren aus Deutschland und den Organisatoren logistischer Dienstleistungen aus Finnland. Für Deutschland und Tschechien ist die Situation von Vorteil, bei der sie Geld für den Transit erhalten werden. Die Bundesrepublik erhält zusätzliche Instrumente, um die südliche Peripherie der EU zu beeinflussen, indem sie den Transit europäischen Gases dorthin kontrolliert“, sagte gegenüber der „NG“ Stanislaw Mitrachowitsch, leitender Experte der Finanzuniversität in Moskau und der Stiftung für nationale Energiesicherheit. Seiner Meinung nach sei also der Kern der Verfechter und Interessenten des Vorhabens in Europa nach wie vor stark. Und dies gebe Grund zur Annahme, dass das Projekt letztlich doch fertiggestellt werde und Gaslieferungen über dieses erfolgen würden.

Gleichzeitig könnten sich nach Aussagen des Experten die politischen und Rechtsstreitigkeiten in der EU über das Format für das Betreiben von „Nord Stream 2“ gemäß den Erfahrungen der ersten Nord-Stream-Gaspipeline über mehrere Jahre hinziehen. „Nord Stream 1 arbeitet jetzt allerdings, was an und für sich bezeichnend ist, obwohl es vor zehn Jahren eine Vielzahl von Überlegungen gab, wonach das Projekt sterben wird“, fährt der Experte fort. „Jetzt wird Vieles von der Härte der neuen amerikanischen Sanktionen und der Bereitschaft der Länder Europas, sich ihnen zu widersetzen, abhängen. Denn, wenn die Interessenten an Nord Stream 2 erlauben, gegen sich sehr harte Maßnahmen seitens der USA zu verhängen, so muss man sich mit der Praxis abfinden, bei der die USA ihnen einfach direkt anweisen, mit wem gehandelt werden kann und mit wem nicht. Europa wird dann keinerlei Handlungsfreiheit in den Beziehungen mit China haben, was in den nächsten Jahrzehnten strategisch wichtig ist. In den USA wird man nicht ignorieren können, dass für sie an sich in dieser Situation das Risiko besteht, den Bogen zu überspannen und der transatlantischen Solidarität einen spürbaren Schaden zuzufügen“.