Mit der Zunahme der Zahl von Freisprüchen durch russische Geschworenengerichte steigt die Zahl ihrer Annullierungen durch die Berufungsinstanzen. Laut den Ergebnissen für das Jahr 2021 sind dies 71 Prozent. Experten der „NG“ sprechen von Doppelstandards, wobei gleichartige Verstöße in solchen Fällen als Grundlage für eine Revision des Verdikts des Kollegiums anerkannt, bei einem Schuldspruch aber ignoriert werden. Es besteht die Auffassung, dass man so vorsätzlich die Geschworenengerichte diskreditiert, damit sich die Bürger fürchten, sich an diese zu wenden.
Zur Schlussfolgerung über eine zunehmende Entfremdung bzw. Entfernung der Geschworenen vom Gerichtssystem des Landes, dessen untrennbarer Bestandteil sie scheinbar sind, gelangte man im Institut für Probleme der Rechtsanwendung bei der Europäischen Universität von Sankt Petersburg auf der Grundlage einer Analyse der Statistik des Gerichtsdepartments beim Obersten Gericht der Russischen Föderation.
Wie Jekaterina Chodschajewa, die Autorin der Untersuchung und wissenschaftliche Mitarbeiterin des erwähnten Instituts, betonte, hätten die letzten Jahre, die nach der neuen Reform der Geschworenengerichte ins Land gegangen sind, einerseits einen großen Bedarf an diesem Institut auf Kreis- bzw. Stadtbezirksebene, andererseits einen gewissen Widerstand der Richter-Community gegen die Erhöhung der Rolle der aus Volksvertretern gebildeten Kollegien gezeigt. Gerade auf der Ebene der Kreis- bzw. Stadtbezirksgerichte sei eine alljährliche Zunahme der Prozesse unter Beteiligung von Geschworenen bemerkbar. Im Jahr 2019 gelangten 463 Fälle gegen 625 Personen an die Kreis- bzw. Stadtbezirksgerichte, im Jahr 2021 – bereits 562 Fälle gegen beinahe 800 Personen.
Nach Aussagen von Chodschajewa werde jedoch „bei einem hohen Anteil von Freisprüchen, die in den Gerichten der Kreisebene erfolgen, der Großteil von ihnen aufgehoben“. Die Statistik ist eine trostlose. Während im Jahr 2019 54 Prozent derartiger Verdikte durch die Berufungsinstanzen aufgehoben wurden, erreichte im Jahr 2021 die Zahl der Annullierungen 71 Prozent. Wobei dieser Parameter in Bezug auf Schuldsprüche auf dem früheren Niveau von 15 Prozent geblieben ist. Nach Meinung von Experten der „NG“ zeige dies das Interesse des Systems an einer Revision gerade von Freisprüchen, die durch Geschworene beschlossen wurden.
Es sei daran erinnert, dass seit dem Juni des Jahres 2018 die Angeklagten das Recht erhalten haben, hinsichtlich einer Reihe von Fällen, die in erster Instanz auf der Ebene von Kreis- bzw. Stadtbezirksgerichten verhandelt werden, um eine Behandlung in einem Volksgericht (Geschworenengericht) zu ersuchen. Bis dahin handelten Geschworenen-Kollegien nur in Regional- und ihnen gleichgestellten Gerichten. Mehr noch, im Verlauf der 2010er Jahre ist die Jurisdiktion der Geschworenen beschnitten worden. Die letzte Reform führte zu einer Wiedergeburt dieser Art von Rechtsprechung. Und sofort nahm auch die Zahl der Fälle mit einer Beteiligung von Bürgern als (ehrenamtliche) Richter zu. Und dies entsprach dem erklärten Ziel solch einer Reform, das in einem Erklärungsschreiben zu seiner Gesetzesvorlage der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, ausgewiesen hatte.
Nach Aussagen des Anwalts Alexej Gawrischew bleibe das Institut der Geschworenen „das effektivste Instrument im Gerichtssystem, wie es auch gewesen war“. Dies belegt auch die Statistik der Freisprüche, deren Anzahl um das zigfache höher als in gewöhnlichen Gerichten liegt. Und obgleich in Russland die Geschworenengerichte bisher schwach entwickelt sind und selten zum Einsatz kommen, bleiben aber gerade sie praktisch die einzige Chance für die Angeklagten auf einen Freispruch. Wladimir Kusnezow, Vizepräsident der Vereinigung der Juristen für Registrierung, Liquidierung, Insolvenz und Gerichtsvertretung, merkte aus diesem Anlass an: Einige Juristen würden annehmen, dass der Grad der Annullierung von Freisprüchen „eher das Bestehen wesentlicher prozessualer Verstöße bei der Behandlung von Fällen als eine Voreingenommenheit der Richter-Community“ belege. Er selbst aber lastet dies der Neigung zu Schuldsprüchen an, die dem gesamten Strafrechtsprozess eigen sei. Und der Experte verwies auf offenkundige doppelte Standards hin, wobei eine gleichartige Rechtsverletzung als Grundlage für die Annullierung gerade eines Freispruchs diene, aber keine Dementierung bzw. Aufhebung eines Schuldspruchs nach sich ziehe. Noch eine Ursache für solch ein statistisches Bild sei neben der verständlichen Vorsicht der Richter-Community die unvollkommene gesetzgeberische Regelung. „Insgesamt scheint es, dass die Tendenz zur Zunahme der Anzahl der Fälle, die unter Beteiligung von Geschworenen behandelt werden, auch weiterhin anhalten wird. Für ein Ausgleichen der Statistik der Verdikte ist aber eine ernsthafte Überarbeitung der gesetzgeberischen Grundlage erforderlich, aber auch anleitende Erklärungen der höchsten Gerichtsinstanzen, die erfassbare Kriterien für die Gerichte vermitteln könnten“, unterstrich Kusnezow.
Wie der Anwalt Wjatscheslaw Golenjew der „NG“ sagte, „arbeitet die Volksjustiz“, (ganz) bestimmt, aber das System für eine Überprüfung ihrer Verdikte sei wirklich uneindeutig. „Die Statistik belegt eine objektivere Situation bei der Behandlung von Strafverfahren durch Geschworene, um die 16 bis 18 Prozent sind Freisprüche. Dies ist eine adäquate Zahl für ein gesundes Gerichtssystem“, merkte er an, wobei er unterstrich, dass die Anzahl der Fälle, die durch solche Gerichte behandelt werden, immer noch sehr gering sei. Und die Tatsache, dass die Berufung, die Freisprüche in mehr als 70 Prozent aller Fälle aufhebt, zeuge vom hohen Grad des Vertrauens in die Argumente der Anklage – das nicht selten seitens eben jener Berufungsgerichte ein übertriebenes sei. Und dies belege auch eine übermäßig akribische Untersuchung von prozessualen Verstößen, was überhaupt „nicht einem ruhigeren Vorgehen der gleichen Berufungsinstanzen bei der Überprüfung von Urteilen von Berufsrichtern in Bezug auf Strafverfahren, die in der gewöhnlichen Art und Weise behandelt wurden, entspricht“. Außerdem hätten es die Gerichte in vielen Fällen noch nicht gelernt, erläuterte Golenjew, entsprechend den Prozeduren eines Geschworenengerichts zu arbeiten, weshalb sich auch die meisten jener Fehler ergeben, die eine Aufhebung von Freisprüchen nach sich ziehen.
Wenn man jedoch darüber spricht, wie der föderale Richter im Ruhestand, Sergej Paschin, meint, dass die Gerichte „nicht arbeiten mit den Geschworenen können, so wahrscheinlich in der Gestalt, die ihnen das Oberste Gericht diktiert. Nach seiner Meinung sehe ein gehöriger Anteil der geltenden Erläuterungen hinsichtlich der Geschworenen widerrechtlich aus. Dies sei beispielsweise das Verbot für die Anwälte, gegenüber dem (Geschworenen-) Kollegium über die Foltern des Angeklagten zu sprechen, darauf zu bestehen, dass die Straftat tatsächlich ein anderer verübt habe, oder gar die Untersuchungsorgane aufgrund der Unvollständigkeit und Fehler (in den Anklageschriften) zu kritisieren. Folglich würden auch jene Richter, „die noch nicht diesen Komplex widerrechtlicher Entscheidungen der höherstehenden Instanzen erschlossen haben“, sogenannte Fehler begehen, indem „sie sich dem gesunden Menschenverstand und der eigenen Vorstellung vom Recht unterordnen“. Dafür bestraft man sie dann durch eine Aufhebung von Urteilen der Geschworenen. Schließlich sei klar, dass dies das Rating eines Richters drückt, sich auf seine Charakterisierung auswirkt.
Paschin bestätigte, dass solch eine Methode die Aktualität wahre, bei der die Staatsanwaltschaft beispielsweise gewisse Angaben über Geschworene herausfindet – zum Beispiel, dass irgendwer einen vorbestraften Verwandten hat -, diese Informationen aber als einen Trumpf „für den Fall eines Freispruchs“ in der Hinterhand zu haben, damit man sagen kann, dass die Zusammensetzung der Geschworenen nicht legitim sei“. Mehr noch, man kann die Auswahl der Geschworenen schwerlich als eine ehrliche und transparente bezeichnen, allein schon, weil die Verteidigung nicht an diesem Prozedere teilnimmt, welches scheinbar auf dem Prinzip einer zufälligen Auswahl beruht, aber ganz und gar nicht „das Einschleusen von für die Anklage nötigen Menschen oder überhaupt von Agenten“ ausschließt. Und der Experte erinnerte daran, dass im Westen, wenn Geschworene eine Person für unschuldig anerkannten, der Staatsanwalt dies nicht anfechten könne. Die Logik sei da solch eine, dass man keinem wiederholt einen Prozess machen könne. In Russland aber sei die Logik eine andere. Obgleich ein analoges Postulat in der Verfassung verankert worden sei. Es werde aber „in dem Sinne verstanden, dass man nicht zweimal für ein und dieselbe Sache bestrafen, dabei aber so viel wie möglich an Prozessen veranstalten kann“. „Daher werden auch Freisprüche mehrmals in Folge aufgehoben, solang man nicht das gewünschte Ergebnis erreicht“, merkte Paschin an.
Auf der Grundlage des Dargelegten gelangte er auch zu solch einem Resümee: Es würden eine bewusste Diskreditierung und Lähmung der Geschworenengerichte erfolgen. Zuerst führte man dieses demokratische Rechtsinstitut ein, aber später hat man begonnen, ihren Wirkungsgrad null und nichtig zu machen. „Das Institut der Geschworenen hat man mit Kontrollen überfrachtet, mit widerrechtlichen Verboten umgeben und es bereits beinahe zunichte gemacht, damit die Menschen sich nicht an ein Geschworenengericht wenden und nicht auf dieses setzen, sondern es eher fürchten und nicht lieben“. Schließlich ist es schon bei weitem kein Geheimnis, dass die Richter in der Regel eine strengere Strafe aufgrund der Ablehnung eines Deals mit den Untersuchungsbehörden verhängen, und besonders aufgrund der Auswahl des Prozesses im Format einer Anhörung durch Geschworene. Im Ergebnis dessen entwickelt sich das Institut nicht. „Die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane treiben es mit Duldung der Richter zu einer faktischen Ausrottung“. Obgleich alles im Gesetz demokratisch bleibt, wird in der Praxis alles umgekehrt ausfallen. Dabei erinnerte Paschin daran, das der bereits erwähnte Putin seit dem Jahr 2019 eine Erweiterung der Kompetenz der Geschworenengerichte fordere, darunter für Fälle gegen Unternehmer. Aber das System ignoriere de facto seine Worte.