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Gespräche über Wichtiges für weißrussische Studenten


In Weißrussland hat das Projekt „Testatsgespräch“ begonnen. Im Rahmen dieses Programms werden sich in den nächsten drei Monaten Abgeordnete, Experten und TV-Moderatoren mit Studenten und College-Schülern treffen. Ihre Aufgabe ist es, eine aufklärerische Arbeit hinsichtlich der „militärpolitischen Situation rund um Belarus und in den angrenzenden Ländern“ zu führen. Und berichtet wird gleichfalls über die Errungenschaften der sozial-ökonomischen Entwicklung des Landes unter den Bedingungen des Sanktionsdrucks. Derweil polemisieren oppositionelle Experten: Kann man das in Weißrussland existierende System als ein autoritäres ansehen oder kann man schon von Totalitarismus sprechen?

Der 1. Sekretär des Zentralkomitees des Weißrussischen Republiksjugendverbands, Alexander Lukjanow, hat den Start des Projekts „Testatsgespräch“ bekanntgegeben, dass auf das jugendliche Publikum ausgerichtet ist. „Dieses Projekt ist eine gesellschaftliche Initiative. Es besteht aus einem ganzen Zyklus von Begegnungen von führenden Meinungsbildnern mit dem Zielpublikum – Studenten von Hochschulen und Auszubildenden in Colleges“, berichtete der Jugendfunktionär.

Und er erläuterte: „Auf der Basis der Einrichtungen für Hoch- und Fachschulausbildung werden im Format eines offenen Dialogs bekannte Menschen – Politologen, Spitzenvertreter und politische Kommentatoren führender Massenmedien des Landes, Vertreter des Abgeordnetenkorps und gesellschaftlicher Organisationen, unter ihnen Alexej Awdonin, Wadim Gigin, Iwan Eismont, Marat Markow, Andrej Kriwoschejew, Alexander Schpakowskij, Alexej Dsermant, Andrej Lasutkin, Wadim Borowik, Andrej Mukowostschik, Oleg Romanow und viele andere – Treffen mit jungen Menschen durchführen, mit Vertretern aller Studiengänge und Fakultäten, gesellschaftlicher Organisationen und des Jugendaktivs“.

Alle aufgezählten Figuren sind wahre Stars des Agitations- und Ideologie-Bereichs. Und diese Auswahl zeugt von jener Relevanz, die dem Projekt beigemessen wird. Am Mittwoch beispielsweise traf sich mit Auszubildenden des Minsker staatlichen Colleges für Montagetechnologien und Transportlogistik der politische Kommentator des Fernsehkanals ONT, Igor Tur, einer der wichtigsten und selbstlosesten Ankläger der Opposition. Hinsichtlich der Thematik der Treffen teilte Lukjanow mit, dass die Unterhaltung „unter anderem die militärpolitische Lage um Belarus und in den angrenzenden Ländern sowie die sozial-ökonomische Entwicklung unseres Landes unter den Bedingungen des Sanktionsdrucks“ betreffen werde. Der 33jährige Jugendfunktionär und Ex-Offizier betonte: „Experten werden den jungen Menschen über die entscheidenden Leistungen von Belarus in verschiedenen Bereichen berichten, über die Bedingungen, die der weißrussische Staat und persönlich der Präsident für die Entwicklung des Potenzials der weißrussischen Jugend schaffen. Zweifellos wird solch ein wichtiger Aspekt wie die juristische Bekämpfung destruktiver Ideologien und die zu ihrer Absicherung zu ergreifenden Maßnahmen nicht unbeachtet bleiben“.

Prinzipiell wichtig ist, dass das „Testatsgespräch“ in den nächsten drei Monaten in absolut allen Hochschulen und Fach- sowie Berufsschulen des Landes erfolgen wird. Solch eine totale Herangehensweise an ein „richtiges“ Informieren der Jugend löst bei Politologen unweigerlich Überlegungen über eine schrittweise Degeneration der weißrussischen Offiziellen aus.

Vor kurzem hatte bereits der Analytiker Artjom Schraibman die Befürchtungen geäußert, dass der „sowjetische Background“ von Alexander Lukaschenko ihn zu totalitären Methoden führen werde. Ihm pflichteten seine Kollegen von der Internet-Seite „Politonelogia“ nicht bei. Die Autoren eines polemischen Textes analysierten das sowjetische und andere Beispiele und weisen darauf hin: „Das Paradoxe steckt doch in einer sehr interessanten Kehrtwende: Das Autoritäre kann nicht sehr zu Totalitärem werden, indem es eine reale neue Qualität erlangt. Der Totalitarismus dagegen ist durchaus in der Lage, zu weniger harten, autoritären Praktiken abzugleiten. Ja, und zur Demokratie ist es von dort ganz und gar nicht nahe“. Unter Verweis darauf, dass eine mobilisierende Ideologie ein notwendiges Element des totalitären Systems sei, betonen die Autoren: „Ideologie ist kein Schwanz, ohne den eine Katze überlebt. Aber der Kopf ist das, ohne den eine Katze leicht tot ist“.

Schraibman erwiderte den Kritikern auf dem Internetportal „Salidarnasz“ (deutsch: „Solidarität“): „ich würde gern daran glauben, aber ich kann auch ein totalitäres Szenario in Belarus nicht ausschließen. Obgleich ich eingestehen muss, dass es sehr schwierig ist, sich eine Ideologie vorzustellen, die solch ein Regime für sich erfinden kann – wie die Chuch’e-Ideologie in Nordkorea“.

Der Experte betont: „Viele totalitäre Praktiken, in erster Linie sowjetische, inkorporieren die gegenwärtigen Herrschenden in ihren Alltag. Und da jegliche Evolution vom Autoritarismus in einen Totalitarismus ein Spektrum ist, kann man sich in ihm bewegen, man kann innehalten, man kann sich rückwärts bewegen. Derzeit schreiten wir in Richtung Totalitarismus. Wir werden ihn aber wohl kaum erreichen. Dies hebt aber nicht dies auf, dass der Weg begonnen hat“. Er ist der Annahme, dass es wohl kaum gelingen werde, angesichts des Fehlens einer konsolidierenden Idee der herrschenden Schicht an sich einen vollwertigen Totalitarismus zu errichten.

„Das ideologische Vakuum in diesem System führt dazu, dass man es ertastend errichtet, als eine Reaktion auf die vorübergehenden bzw. zeitweiligen Herausforderungen, und wobei man sich keine Gedanken darüber macht, was für eines das Land in fünf Jahren sein soll. Die Menschen, die die Entscheidungen treffen, haben keine Vision von der Zukunft. Da gibt es keinerlei korporatives Interesse. Jeder von ihnen möchte seinen Job einfach nicht verlieren, sich als ein zuverlässiger und loyaler zeigen und irgendwelche bürokratische Pluspunkte verdienen“, betont vage der Politologe.

Diese Erwägungen sehen durchaus logisch aus. Offensichtlich ist jedoch auch dies, dass eine aktive und systematische Arbeit zur Ausprägung einer gewissen neosowjetischen Identität erfolgt. Und es ist da schon nicht so wichtig, durch was ihre Organisatoren motiviert worden sind, wenn diese Identität total ausgeprägt wird, beginnend ab der Schul- und Studentenbank.