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Hass in der Selbstisolation


Nach einer einjährigen Unterbrechung ist der Präsidialrat für zwischennationale Beziehungen zu seiner 10. Sitzung zusammengekommen. Zum ersten Mal tagte er im Online-Format. Erörtert wurden Fragen hinsichtlich der Stärkung der gesamtrussischen staatsbürgerlichen Identität, der Entwicklung und Umsetzung von Projekten auf dem Gebiet des ethnokulturellen Tourismus sowie die Rolle des Bildungswesens bei der Harmonisierung der zwischennationalen Beziehungen.

Es macht Sinn zu betonen, dass ungeachtet der Strapazen des Coronavirus-Jahres, der Depression und des Rückgangs der Einkommen kein ernsthaftes Aufflammen von Zwischenfällen auf dem Boden von Intoleranz beobachtet wurde. Dies bestätigen die Angaben des Monitorings und soziologischer Umfragen. Die Erscheinungen von Radikalismus im Ausland haben auf dem russischen Boden kein Echo ausgelöst. Der Konflikt zwischen Baku und Jerewan, aber auch die folgenden Kampfhandlungen haben zwar gewisse Spannungen zwischen den in Russland lebenden Aserbaidschanern und Armeniern ausgelöst, doch es gelang, die Situation schnell zu entspannen.

Glücklicherweise hat es auch in der Migrationsrichtung nicht geknallt, obgleich man im Großen und Ganzen im vergangenen Jahr die Migranten vergessen hatte. Sie, die in der Zeit der Pandemie ohne Arbeit und Existenzmittel sowie ohne eine sanitär-hygienische Kontrolle geblieben waren, erwiesen sich als im Land eingesperrte und sich selbst überlassene. Dennoch ist in ihrem Umfeld keine Zunahme der Kriminalität beobachtet worden. Der Hass befand sich gleichfalls in einer Selbstisolation, wobei er sich im Internet und in den Tiefen des Bewusstseins aufstaute und akkumulierte.

Der Präsidialrat hat seine Arbeit unter Bedingungen wiederaufgenommen, die durch die aktualisierte Fassung der Strategie für die staatliche nationale bzw. Nationalitätenpolitik vorgegeben wurden. Während sie in der bisherigen Version als ein „System aktueller Prioritäten, Ziele, Prinzipien, Hauptrichtungen, Aufgaben und Mechanismen“ begriffen wurde, geht es in der aktualisierten Variante bereits um ein Dokument zur strategischen Planung im Bereich der nationalen Sicherheit des Landes. Daher ist es heute wichtig, den Sinn der aktualisierten Strategie durch praktische Taten auszufüllen. In diesem Kontext ist auch die März-Tagung des Rates zu sehen.

Es ist angebracht, eine Reihe wichtiger Vorabbemerkungen von allgemein-theoretischer Art zu machen, die dabei auch eine praktische Bedeutsamkeit besitzen. Vor allem muss auf die alte Dissonanz und Widersprüchlichkeit bei den Termini hingewiesen werden. Nach wie vor wird in einigen Dokumenten die Nation einerseits als eine Gemeinschaft von Bürgern definiert, andererseits aber als ein Synonym für Ethnie angewandt. Es muss klarer bestimmt werden, dass der Begriff „nationales“ die generelle staatspolitische Identität (die Bürger Russlands) betrifft. Die Realitäten des heutigen Russlands sind solche, dass in ihm eine russische bzw. russländische Nation existiert, es aber in ihm eine Vielzahl ethnischer Gemeinschaften gibt.

Die Stärkung der staatsbürgerlichen Einheit des Landes wird zu einer erreichbareren Aufgabe, wenn wir sowohl das Gleichsetzen als auch das Gegenüberstellen der Begriffe „Nation“ und „Ethnie“ beseitigen. Als äußerst wichtige erscheinen die Einschätzungen des bekannten russischen Ethnologen und Akademiemitgliedes Valerij Tischkow: „Es ist nützlich, die Debatten über das Verhältnis von Russischem und Russländischem zu bilanzieren und klar zu sagen, dass das Russische zum Russländischen gehört, dessen Grundlage bildet. Jedoch sind gerade die russländische Identität und die russische Nationalität eine grundlegende Kategorie unserer Staatlichkeit. Ohne dem Russischen gibt es kein Russländisches. Und ohne das Russländische gibt es kein Russland“. Die Konzeption der russländischen Nation, ihre Formel – dies ist die Gewährleistung der Einheit und die Unterstützung der Mannigfaltigkeit.

Eine der grundlegenden Fragen bei der Festigung der staatsbürgerlichen Einheit ist – ohne jeglichen Zweifel – die nach dem Bildungswesen bzw. der Ausbildung. Die Fehlschläge in diesem Bereich können, wie keine anderen, Feindschaft und Abneigung provozieren. In seiner Wortmeldung tangierte Bildungsminister Sergej Krawzow solch einen wichtigen Bereich wie die Sprachadaptierung der Migranten, darunter aus den Ländern des postsowjetischen Raums.

Erwartungsgemäß geriet die durch den Minister angerissene Frage in den Fokus der Aufmerksamkeit des Präsidenten. Seinen Worten zufolge „nehmen in einigen europäischen Ländern, ja und auch in den (Vereinigten) Staaten, die einheimischen Einwohner, wenn der Anteil der Migranten-Kinder einen bestimmten prozentualen Anteil in der Schule erreicht, ihre Kinder aus diesen Schulen… Dort kommt es zu Schulen, die faktisch zu 100 Prozent von Migranten-Kindern besucht werden. In Russland darf man auf keinen Fall eine derartige Entwicklung der Ereignisse zulassen“. Es ist schwer, die These anzufechten, dass die Bildung gewisser ethnischer Ghettos, die Konservierung des einen oder anderen Milieus ohne ein bestimmtes Niveau der Involvierung der Eingewanderten in die für das Land gemeinsamen sozialen, Wirtschafts- und Kulturprojekte gefährlich sind. Hier gibt es aber Nuancen. Nicht umsonst erklärte der Präsident, dass er keine „fertigen Rezepte“ habe.

In dem Versuch, die Realisierung der Aufgabe zur Optimierung der Präsenz von Migranten-Kindern in der Schule in Angriff zu nehmen, muss man mehrere Momente von prinzipieller Wichtigkeit im Hinterkopf haben. Wer und wie sowie entsprechend welchen Kriterien wird die optimale Zahl von Migranten in einer Klasse messen? In den Verwaltungsgebieten Rostow, Belgorod und Brjansk beispielsweise (besonders in den grenznahen Regionen zur Ukraine) gibt es Klassen, in denen es nicht wenige Migranten aus dem Nachbarland gibt. Sie haben in der Regel keine Probleme mit der sprachlichen Adaptierung. Arithmetisch sind sie aber Migranten, die noch keinen russischen Pass erhalten haben. Es ist offensichtlich, dass an und für sich ein Migrant kein Synonym für ein schlechtes Beherrschen der russischen Sprache ist. Probleme gibt es damit auch innerhalb des Landes, in einer Reihe von Regionen des Nordkaukasus. Bedeutet dies aber eine Notwendigkeit eines künstlichen Durchmischens der Schüler zwecks Verbesserung ihres Bildungsgrades? Sicherlich macht es Sinn, nicht den Pass in den Vordergrund zu stellen, nicht die ethnische Herkunft, sondern den Grad der Beherrschung der Sprache, den Grad der Integrierung der Eltern in das russländische Sozium. Schließlich gibt es unter den Migranten auch russischsprachige Menschen, die aus den ehemaligen Unionsrepubliken stammen, und andererseits auch Bürger Russlands anderer ethnischer Herkunft (Kasachen im Verwaltungsgebiet Astrachan, Aserbaidschaner in Dagestan), die aber keine andere Staatsbürgerschaft und keine andere Heimat außer Russland gekannt haben. Ein nicht weniger wichtiger Faktor ist die Qualifikation der Pädagogen. Gut ausgebildete Lehrkräfte (möglicherweise speziell für eine Tätigkeit im Migranten-Milieu ausgebildete) können auch in Klassen mit einem hohen prozentualen Anteil von Kindern, die aus anderen Ländern stammen, deren erfolgreiche Integration fördern. Betont werden muss gleichfalls das Niveau des Schulmanagements. Das Problem, von dem der Präsident sprach, ergibt sich in den westlichen Ländern aufgrund der falsch verstandenen politischen Korrektheit sowie des Unvermögens und des Unwillens, harte Maßnahmen gegenüber denjenigen, die die Ordnung verletzen, anzuwenden, wobei dies mit der berüchtigten Toleranz motiviert wird. In Russland ist eine derartige Ideologie nicht üblich. Eine Konservierung von Klassen und Schulen kann man vermeiden, indem man einfach strikt die angenommene Ordnung einhält.

Am Tag nach der Tagung des Präsidialrates hatte ich ein Gespräch mit dem Staatsanwalt einer der südlichen Regionen, der buchstäblich Folgendes sagte: „Ja, jetzt sitze ich da, zerbreche mir nach eurer Ratstagung den Kopf. Was tun? Überprüfungen der Schulen und eine Aussonderung von Migrantenkindern beginnen? Man kann sie doch aber nicht auf Straße jagen!“. Ich fürchte, dass derartige Gedanken bei Vertretern der Rechtsschutzorgane auch in anderen Regionen aufgekommen sind. Munter geworden sind auch die Nationalisten, wobei sie ein weiteres Mal die Offiziellen zur Ausweisung der Migranten aufriefen. Dabei ignorieren sie den Umstand, dass ein Mangel an Arbeitskräften im vergangenen Winter bereits akut zu spüren war, als es keinen gab, der in den Höfen den reichlich gefallenen Schnee entfernt. Und die südlichen Regionen jammern schon jetzt, dass es keinen gebe, der die Aussaat vornimmt.

Die Fragen der Ausbildung der Migranten-Kinder erfordert eine qualitätsgerechte Arbeit unter Hinzuziehung sowohl von Praktikern aus dem Kreis der Pädagogen als auch von Experten für Fragen der Migration und zwischenethnischen Beziehungen sowie von Psychologen. Eine äußerst wichtige war die Anmerkung von Professor Wladimir Woloch über die Vorbereitung eines „Vorschlags zur Schaffung von Bedingungen, die eine Sozialisierung der minderjährigen ausländischen Bürger im russischen Bildungsmilieu und deren Integrierung in die russische Gesellschaft fördern, und über notwendige Maßnahmen zu deren Umsetzung.

In diesem Zusammenhang lohnt es, die Wortmeldung des Leiters der Föderalen Agentur für Nationalitätenfragen, Igor Barinow, hervorzuheben. Seinen Worten zufolge „ist die Notwendigkeit einer bestimmten Unifizierung der Machtorgane herangereift, die für die staatliche Nationalitätenpolitik zuständig sind“. Bei der Kommentierung des Themas der Ausbildung von Migranten-Kindern konstatierte er zu Recht, dass „leider ein erheblicher Teil dieser Kategorie von Menschen nicht in die Bildungseinrichtungen gelangt und ein ein erheblicher Teil dieser Kinder einfach nicht zur Schule geht“.

Es wäre angebracht, viele Aspekte unserer Migrationspolitik zu überprüfen und zu revidieren. Die Migration muss eine konkret gebundene sein, entsprechend „der Bestellung“ konkreter Branchen und bestimmter Regionen. Die Vorbereitung bzw. Ausbildung der Migranten muss man an der „Startlinie“ beginnen, in den Ländern, von woher sie kommen, auf der Basis der russischen konsularischen Einrichtungen und Kulturzentren. Bisher aber verstaubt der Gesetzentwurf über eine soziale und kulturelle Adaptierung von Migranten das vierte Jahr in der Staatsduma. Und die Empfehlungen der Föderalen Agentur für Nationalitätenfragen zu diesem Thema werden in den Regionen zur Kenntnis genommen und sofort wieder vergessen. Dabei nimmt die Migranten-Phobie zu, wie dieser Tage der stellvertretende Leiter der Administration des russischen Präsidenten Magomedsalam Magomedow erklärte.

Die Zeit, als die Nationalitätenpolitik ausschließlich als Lieder, Tänze, Reigen und kulinarische Leistungen verstanden wurde, ist vorbei. Es muss ein gut koordinierter Kurs eingeschlagen werden, der auf eine Festigung der russländischen staatsbürgerlichen Identität, eine Prävention von Konflikten und eine Integration jener, die ihre Zukunft mit unserem Staat verknüpft haben, abzielt.