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Hat man nach dem 24. Februar begonnen, Russland mehr ins Kalkül zu ziehen?


Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedjew, hat in seinem Telegram-Kanal geschrieben, dass eine der Aufgaben der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine bereits erfüllt worden sei. Es gehe vorerst nicht um eine „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ und auch nicht einmal um den Schutz der Einwohner des Donbass. Der 56jährige Medwedjew meint, dass man im Ergebnis der bereits den 139. Tag andauernden Sonderoperation begonnen habe, „richtig Russland ins Kalkül zu ziehen und zu akzeptieren und in der einen oder anderen Sache der Zusammensetzung der Sanktionen nach zu urteilen auch ernsthafter“.

Wie sich der Ex-Präsident der Russischen Föderation erinnert, hätte man früher bei Treffen der G-8 Russland einfach nicht zu den Begegnungen eingeladen, bei denen man „Wirtschafts- und mitunter Verteidigungsfragen der westlichen Länder“ erörtert hätte. „Wie in der Kindheit“, schreibt Medwedjew, „als man in deinen Hof aus dem benachbarten kam, um sich zu prügeln. Wenn du Angst bekommen und dich nach Hause verkniffen hast, wird dich keiner und nirgendwohin mehr rufen. Wenn du aber als erster zugeschlagen hast, werden die Chancen, das Eigene zu verteidigen, wesentlich größer werden… Gerade daher ist es so wichtig, dass man das Land achtet und es in Rechnung zieht. Gerade solch eines muss auch das Große Russland sein“.

Wenn alles so ist, wie Dmitrij Medwedjew schreibt, so kann man sicherlich unschwer jene für Russland wesentlichen Fragen und Bereiche nennen, in deren Hinsicht man begonnen hat, es und dessen Meinung nach dem 24. Februar stärker zu berücksichtigen. Beispielsweise hatte Moskau lange Zeit erklärt, dass seine Position und die Vereinbarungen mit ihm in den Fragen im Zusammenhang mit der Erweiterung der NATO ständig ignoriert werden würden. Selbst Kiew wurde im Frühjahr, als noch Verhandlungen erfolgten, die Bedingung gestellt, keinerlei Blöcken beizutreten. Jetzt können wir beobachten, wie man Finnland und Schweden in die NATO aufnimmt. Eines dieser Länder grenzt an Russland. Und ihren Wunsch, der Allianz beizutreten, bringen beide Staaten gerade mit der russischen Sonderoperation in der Ukraine in einen Zusammenhang.

Ja, das kollektive Europa hat sich nicht für radikalste Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation, die den Energiesektor betreffen, entschieden. Aber es hat sich auf diesen Schritt nicht eingelassen, weil es seine eigenen Interessen im Blick hat, aber nicht die Bedürfnisse Russlands. Andere Sanktionen werden nicht aufgehoben. Das entstandene Problem im Zusammenhang mit dem Kaliningrad-Transit ist bisher nicht gelöst worden. In anderen Bereichen gelten gleichfalls weiterhin Restriktionen. Russland hatte lange Zeit behauptet, dass man es im Sportbereich marginalisiere. Nach dem 24. Februar ist diese Marginalisierung noch offensichtlicher geworden. Die Dauer der Suspendierungen für russische Sportler und Mannschaften von internationalen Wettkämpfen wird verlängert, angestrengte Gerichtsverhandlungen helfen nicht.

Es ist scheinbar sogar schwieriger geworden, einige formulierte Aufgaben der militärischen Sonderoperation zu erfüllen. Die Ukraine war zum Beispiel noch nie solch eine militarisierte wie heutzutage gewesen. Man gewährt ihr militärische Hilfe, und Präsident Wladimir Selenskij erhält von der Gesellschaft ein Mandat für die Fortsetzung der Kampfhandlungen und führt keinerlei Verhandlungen (mit der russischen Seite – Anmerkung der Redaktion).

Die Krux liegt – wie es so oft der Fall ist – in den Formulierungen. Das Beispiel von Medwedjew mit der G-8 ist wohl kaum darüber, dass man mit Russland „nicht gerechnet hat“. Es ist darüber, dass man Russland nicht vertraute. In einigen Republiken der einstigen UdSSR und Ländern Osteuropas hatte man etwas befürchtet, das der gegenwärtigen Sonderoperation ähnelt. Und das Misstrauen gegenüber der herrschenden Elite der Russischen Föderation ist gerade dadurch ausgelöst worden. Da ergibt sich, dass gegenwärtig sowohl diese Länder als auch der Westen in ihren Befürchtungen bestätigt wurden. Sie haben zusätzliche Argumente zugunsten ihres früheren Standpunkts erhalten und ihn in keiner Weise geändert.

Wenn „Russland beachten“ bedeutet, „dessen Meinung beim Treffen seiner Entscheidungen zu berücksichtigen“, so hat sich hier wohl etwas verändert. Der Westen hat Russlands Meinung präzisiert. Er hat gesehen, wie es sich verhalten kann. Natürlich wird er dies alles ins Kalkül ziehen, doch werden seine Entscheidungen dabei wohl kaum im Interesse der Russischen Föderation sein.

Wenn aber unter „Russland beachten“ „mehr fürchten“ zu verstehen ist, so ist es hier schwierig, dies zu bestreiten. Diese Aufgabe wird bisher wirklich erfüllt. Das Misstrauen hat zugenommen. Allerdings ist dies ein beiderseitiges Gefühl. Und jetzt versucht man, dies einfach gar nicht zu verheimlichen. Das von Dmitrij Medwedjew angeführte Beispiel von einer Schlägerei im Hof erlaubt, sich des Prinzips zu erinnern – „man fürchtet sich, also achtet man“. Solch eine Achtung hatte jedoch Russland auch früher genossen. Und da hatte es auch den Anschein, dass den russischen Offiziellen gerade solch ein Image ebenfalls nicht recht ist.