Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Heuchelei als wichtiges Element im Wahlkampf Weißrusslands


Die Offiziellen Weißrusslands erlauben den Wahlbeobachtern nicht, den Verlauf der Abstimmung vom 4. bis 9. August zu verfolgen. Die Zentrale Wahlkommission (ZWK) hat bekanntgegeben, dass die Anzahl der Beobachter in den Abstimmungslokalen bis auf ein Minimum reduziert wird. Menschenrechtler konstatieren daher ein endgültiges Ignorieren der Wahlprozeduren. Unter den Opponenten des gegenwärtigen Präsidenten Alexander Lukaschenko verstärkt sich die Diskussion über einen Boykott solcher Wahlen. 

„Ich verstehe, dass dies eine unpopuläre Entscheidung sein wird, doch ich schlage vor, für den Zeitraum dieser elektoralen Kampagne die Anzahl der Beobachter zu verringern – bis auf fünf Personen am Haupttag der Abstimmung, und an den Tagen der vorgezogenen Abstimmung – bis auf drei“, erklärte am Mittwoch bei einer Sitzung der ZWK deren Chefin Lidia Jermoschina. Ihren Vorschlag begründete sie mit der schwierigen epidemischen Situation, die „weiter Wachsamkeit erfordern“ würde. Sie führten darüber Daten an, dass rund 41.000 Bürger Kontaktpersonen der ersten Stufe oder mit Covid-19 infiziert seien und sich in Quarantäne finden würden. Und dies ohne eine Berücksichtigung der sich in den Krankenhäusern befindlichen Menschen. 

Die ZWK-Chefin schlug vor, die Beobachter entsprechend der Reihenfolge der Registrierung auszuwählen. „Zu dem Zeitpunkt, an dem das Abstimmungslokal geöffnet wird, wird zwecks Organisierung der Abstimmung der (Wahl-) Kommissionsvorsitzende eine Auswahl entsprechend dem Datum des Einreichens der Dokumente zur Akkreditierung vornehmen und die zahlenmäßige Zusammensetzung der Beobachter bestimmen. Wenn irgendwer von den Beobachtern ausfällt, muss der Kommissionsvorsitzenden den Beobachter anrufen, der entsprechend der Liste folgt, und ihn einladen, um ins Wahllokal zu kommen“, erzählte sie. Lidia Jermoschina erinnerte daran, dass man sich in den Abstimmungslokalen von den Empfehlungen des Gesundheitsministeriums leiten und eine Distanz von mindestens einem Meter (darunter zwischen den Mitgliedern der Kommissionen und den Beobachtern) einhalten müsse. Außerdem seien die Beobachter nach Meinung der Vorsitzenden der ZWK Weißrusslands in der Lage, die Arbeit der Mitglieder der Kommissionen zu stören. 

„Diese Beobachter zwingen oft ihren Stil für das Verhalten und die Handlungen den Mitgliedern der Wahlkommissionen der Abstimmungslokale auf. Ich rede schon gar nicht davon, dass sie auch eine Bedrohung hinsichtlich einer physischen Gefahr sein können“, sagte sie. Lidia Jermoschina beklagte sich gleichfalls über jenen Druck, der gegenwärtig auf die Mitglieder der Wahlkommissionen ausgeübt werde, und empfahl ihnen, „jegliche Kommunikation und Zugänge zu den sozialen Netzwerken abzubrechen, solang sie Sie nicht endgültig, zumindest Ihre Selbstbeurteilung, vernichtet haben“. 

Es sei daran erinnert, dass der vereinigte Stab der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja die Weißrussen aufruft, sich massenhaft als Beobachter registrieren zu lassen, um den Versuch zu unternehmen, keine Fälschungen zuzulassen. Diese Initiative, die den Namen „Ehrliche Leute“ erhielt, ist zu einer sehr populären geworden. Über 40.000 nationale Beobachter sind in den 5767 Abstimmungslokalen bereits registriert worden. 

Die Entscheidung der ZWK macht die Realisierung dieser Initiative unmöglich, betonen Menschenrechtler. „Die heutige Entscheidung der ZWK, dies ist faktisch eine völliges Über-den-Haufen-werfen der bereits letzten Wahlprozeduren im Land. Dies widerspricht dem Glasnost-Prinzip (Prinzip der Transparenz – Anmerkung der Redaktion), das durch Artikel 13 des Wahlkodexes vorgesehen ist“, meint der Menschenrechtler Wladimir Labkowitsch. „Die Herrschenden veranstalten die Wahlen mit ihren Wahlkommissionen und ihren Beobachtern. Bei solch einer Struktur ist es unmöglich, überhaupt von irgendwelchen Standards für freie, gerechte und demokratische Wahlen zu sprechen“, konstatiert er. Nach Meinung des Menschenrechtlers werde es in Weißrussland schon keine Wahlen geben, sondern eine „Sonderoperation zur Bewahrung des Status quo im Land“. Übrigens, einheimischen Beobachtern ist die Ungereimtheit in der Rhetorik der Chefin der ZWK und des Gesundheitsministers aufgefallen. „In allen Regionen sehen wir nicht nur eine stabile Situation, sondern auch einen stabilen Rückgang der Zahl der Kranken“, erklärte Wladimir Karanik fast zur selben Zeit, als Lidia Jermoschina von einer Verschlimmerung der epidemischen Situation erzählte.

Als erster von den Präsidentschaftskandidaten hat Andrej Dmitrijew, Vorsitzender der Bewegung „Sag die Wahrheit“, auf diese Entscheidung reagiert. Auf seiner Seite in einem der sozialen Netzwerke gab er bekannt, dass er beabsichtige, gegen die Entscheidung der ZWK bei einem Gericht Beschwerde einzulegen, und rief dazu die anderen Kandidaten auf. Außerdem wandte er sich mit dem Vorschlag an die ZWK, jeweils einen Beobachter von jedem der insgesamt fünf Kandidaten zuzulassen, wenn schon die ZWK deren Anzahl eingeschränkt hat. Die Teilnehmer der Initiative „Ehrliche Leute“ beabsichtigen ebenfalls, gegen die Entscheidung der ZWK Beschwerde einzulegen, und prüfen andere Formate für eine Wahlbeobachtung. 

Die Entscheidung der ZWK hat die Diskussion unter den Opponenten Lukaschenkos darüber aktiviert, ob man abstimmen gehen sollte oder ob es richtiger sei, einen Boykott zu verkünden. Es sei daran erinnert, dass die Boykott-Idee nicht wenige der Vertreter der sogenannten bzw. erlaubten Opposition unterstützen. „Das heutige System der „Wahlen“ erlaubt nicht, einen Schutzschirm vor Fälschungen mit irgendwelchen Mitteln zu errichten. Diktatoren-Regimes sind nirgends und nie durch eine Abstimmung besiegt worden, nur durch einen Kampf“, schreibt der Lyriker Wladimir Neklajew, der selbst 2010 Präsidentschaftskandidat war, und ruft alle Kandidaten auf, ihre Kandidaturen zurückzuziehen und damit Alexander Lukaschenko allein zu lassen. Nachdem sich der Vertreter der weißrussischen radikalen Opposition Zenon Poznyak, der sich in der Emigration befindet, zu Wort gemeldet hat, wird auch die schlimmste Verschwörungstheorie in Bezug auf das Kräfteverhältnis im laufenden Wahlkampf diskutiert. Der zufolge sei nicht nur der Ex-Chef der Belgazprombank Viktor Babariko eine Marionette des russischen „Gazprom“-Konzern, sondern auch der Blogger Sergej Tichanowskij, der sich derzeit in Haft befindet, und der Ex-Chef des Parks für Hochtechnologien, Valerij Zepkalo. Was den gegenwärtig wichtigsten Konkurrenten von Alexander Lukaschenko, Swetlana Tichanowskaja, angehe, so werde sie einfach ausgenutzt, ohne dies selbst zu ahnen, meint der Politiker. „Ich bin mir nicht sicher, dass Tichanowskaja versteht, was sie in ihrem Auftritt verkündete. Doch dies ist ein mit weißen Fäden zusammengeschusterter neuer Moskauer Plan für eine legale Machtergreifung in Weißrussland auf einem angeblich demokratischen Weg (mit Möglichkeiten für den Bankier Babariko, den Geheimdienstmann Zepkalo und die anderen, die auftauchen werden)“, schreibt Poznyak.

Die losgetretenen Diskussionen beeinflussen allerdings in keiner Weise die Aktionen des Stabs von Swetlana Tichanowskaja, der durch die Teams von Viktor Babariko und Valerij Zepkalo verstärkt wurde. Dort erklärt man, dass sie noch viele Pläne und Antworten auf die möglichen Schritte der Herrschenden hätten.